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Pearls of Bulgarian Folklore
Im Herbst 1942 soll die düstere Ahnung aus dem Sommer durch ein weiteres Vorkommnis indirekt bestätigt werden. Diesmal kann Kull durchs Fernrohr beobachten, wie SS-Angehörige 30 bis 40 kniende Männer durch Genickschuss liquidieren. Als der Frankfurter seinem Hauptmann Reichert gutgläubig Meldung über die Exekution macht, antwortet dieser schroff:
„Kull, vergessen Sie, was Sie gesehen haben!“
Aber der 20-jährige mit dem Bubi-Gesicht kann das Verbrechen nicht so einfach verdrängen, leidet seither unter Albträumen.
Derweil zermürbt das tagelange Trommelfeuer die Verteidiger Sewastopols. Allein die 8,8-Batterien des Flakregiments 18 verschießen im Laufe der 27-tägigen Schlacht 181.787 Granaten. Und das Artillerieregiment 22 der 22. Infanteriedivision verfeuert über 100.000 Granaten. Kann sich da überhaupt noch wer zur Gegenwehr erheben, wenn die deutsche Infanterie zum Sturm antritt?
*
Am 7. Juni beginnt der Vorstoß der 11. Armee auf Sewastopol. Den Hauptschlag führt das LIV. Armeekorps unter General der Artillerie Hansen mit der 22., 24., 50. und 132. Infanteriedivision von Nordosten her. Aber trotz des tagelangen Vernichtungsfeuers gibt es erbitterte Gegenwehr – erst im waldigen Berggelände, dann in den Festungswerken. Mörderischer Hitze liegt über dem rauchgeschwängerten Schlachtfeld. Am 13. Juni zeigt das Thermometer 38 Grad Celsius. In den Sturmgeschützen, die den vorgehenden Stoßtrupps zugeteilt sind, herrschen über 50 Grad. Schweiß fließt in Strömen, und bald auch Blut. Ein Mitkämpfer der Infanterie beschreibt seine Eindrücke der Schlacht:
„In einer kleinen Senke plötzlich ein feindliches MG-Nest. Auf unser Feuer hin stehen drei Mann auf und heben die Hände. Als wir langsam näher gehen, schießen zwei andere, die noch in Deckung liegen, mit dem MG auf uns. Ein weiterer stellt sich tot. Als wir vorbei sind, flitzt er hoch und will uns in den Rücken fallen. Das ist die bolschewistische Kampfmethode. Sie alle sprechen sich ihr Urteil selbst. Auf dem Boden Minen über Minen. Neben mir fliegt ein Kompanieführer in die Luft, fällt zurück und – steht, beinahe unverletzt wieder auf den Füßen. Aber nicht alle haben solches Glück.“10
Und wer meint, dass rumänische Offiziere nur Sonderrechte gegenüber der ihnen anvertrauten Truppe besitzen, Untergebene schlagen, sich gar feige vor dem Feinde zeigen, erlebt bei Sewastopol auch die andere Seite der Verbündeten. Die Männer der Sturmgeschützabteilung 197 bezeugen, wie todesmutige Führer aufrecht gegen die russischen Bunker vorgehen und ihre Soldaten durch das persönliche Beispiel mitreißen. Tapfere Offiziere und Männer braucht es unter diesen heiklen Kampfbedingungen ganz gewiss. Da sind zum Beispiel diese bis zu drei Meter tiefen russischen Laufgräben, die gegen Beschuss ziemlich unempfindlich und nur schwer aufzurollen sind. Zumal sie von entschlossenen, fanatisch kämpfenden Gegnern geschickt verteidigt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die sowjetischen Batterien an den Schwerpunkten der deutschen Stoßgruppierungen auf den Meter genau eingeschossen sind. Ihr Sperrfeuer kostet Blut und Zeit. Beides ist knapp auf deutscher Seite.
Der von seinem Oberarm-Durchschuss schnell wiedergenesene Pionier-Unteroffizier Josef Wimmer von der 50. Infanteriedivision erzählt von erbitterten Nahkämpfen gegen einen „sich zäh verteidigenden Iwan“ und erwähnt angesichts der eigenen blutige Verluste „unsere aufwallende Wut“ sowie die anschließende „brutale Reaktion. Wir machten sechs Gefangene, und fünf andere Russen wurden erschossen.“11
Im Vorfeld des Alten Forts sieht Wimmer plötzlich einen russischen Stahlhelm blitzen – „in etwa einhundertfünzig Meter Entfernung. Ich ließ mir rasch einen Karabiner reichen, entsicherte, zielte und schoss. Der Helm flog durch die Luft; man konnte es gut sehen.“ Der Unteroffizier vermutet, einen Späher getroffen zu haben. Kurz darauf wird Josef Wimmer durch 33 Granatsplitter schwer verwundet.
Bis zum 17. Juni toben die schweren, verlustreichen Kämpfe. Dann endlich gelingt die Wegnahme von sechs Festungswerken. Im Gefechtsbericht der 22. Division heißt es über die Kämpfe des Infanterieregiments 16 um das Fort Stalin: „Der »Andrejew-Hügel« war nur besetzt von Mitgliedern der kommunistischen Partei, dem wohl zähesten Feind, den wir je erlebt haben. Ein Bunker wurde von der Pak beschossen, ein Treffer in die Scharte verursachte 30 Tote, aber die überlebenden Russen wehrten sich weiter! Endlich, um 15 Uhr, kam der Gegner aus den Trümmern heraus. Die eigenen Offiziere waren sämtlich ausgefallen. Leutnant Zwiebler aus der Führerreserve erhielt die gesamten Teile des I. und III. Bataillons zur Führung. Ein Schwerverwundeter sagte, auf seinen zersplitterten Arm und verbundenen Kopf deutend: »Das ist nicht so schlimm – wir haben den Stalin!« Das war der Geist der Besessenheit, ein Ziel erreichen zu wollen. Erbarmungslos brannte die Sonne auf die Stahlhelme. Leichengestank lag über dem wüsten Schlachtfeld. Eine unbeschreibliche Menge Fliegen verekelte die reichliche Verpflegung.“
Beim Schwesterregiment 47 sind am 18. Juni noch 17 Offiziere, 50 Unteroffiziere und 372 Mann einsatzfähig. Damit hat nur jeder sechste Angreifer dieses im Schwerpunkt eingesetzten Verbands die ersten 12 Tage der Großoffensive auf Sewastopol unversehrt überstanden. Für Manstein „scheint das Schicksal des Angriffs in diesen Tagen auf des Messers Schneide zu stehen“.12 Neben den hohen Verlusten ist es vor allem der Zeitdruck, der dem Oberbefehlshaber der 11. Armee Kopfzerbrechen bereitet. Das OKH drängt bereits auf den Abzug des VIII. Fliegerkorps vom Nebenkriegsschauplatz Sewastopol an den Nordflügel der Heeresgruppe Süd ...
Viele Opfer fordert auch das Ringen der 132. Infanteriedivision um das mit überschweren Geschützen vom Kaliber 30,5 Zentimeter bestückte Fort „Maxim Gorki“. Immer wieder müssen Artillerie und Bomber der festliegenden Infanterie den Weg frei schlagen. Ein Mitkämpfer berichtet:
„Wiederum bot sich das ungeheuerliche Schauspiel eines fast dreiviertelstündigen Stuka-Angriffs auf den felsigen Berg. Turmhoch standen die Rauch- und Staubsäulen über dem Werk und verdichteten sich allmählich zu einer gewaltigen Wolke, deren langsamer Abzug für das gesamte Schlachtfeld das hervorstechendste Merkmal war.“13
Von den 1.000 Mann Besatzung des „Maxim Gorki“ ergeben sich schließlich noch ganze 40 Rotarmisten, allesamt verwundet – der Rest ist gefallen.
Am 21. Juni nimmt der Infanterist Walter Winkler14 an der Erstürmung der Bunker des Nordforts teil. Der Angehörige der 11. Armee berichtet:
„Die Zugänge zu den Stollen und Berghallen waren durch Panzertore gesichert […] Der wohlgemeinte Versuch, mit Hilfe von Gefangenen die Besatzungen zur Aufgabe zu bewegen – schon wegen der vielen Zivilisten in den Stollen – schlug fehl […] Ein junger Freiwilliger eines Pionierbataillons ließ sich schließlich vom Felsrand abseilen, um mit einer geballten Ladung einen der Eingänge aufzusprengen. Doch noch während er am Seil hing, ereignete sich eine gewaltige Explosion: Die Besatzung dieses Stollens hatte sich mit, wie sich später herausstellte, 1.400 Zivilpersonen in die Luft gesprengt.“
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Der tiefe deutsche Einbruch an der Nordfront wird schließlich sechs Tage später zum Durchbruch auf die Sewernaja-Bucht erweitert. Pulverdampf und Staub, Hitze und Verwesungsgestank liegen über dem infernalischen Schlachtfeld. Der Kampf um die Seefestung auf der Krim geht in die letzte Runde.
Inzwischen ist auch Bewegung in die Südostfront von Sewastopol gekommen. Bis zum 25. Juni rückt das XXX. Armeekorps unter General der Artillerie Fretter-Pico mit der 72. und 170. Infanterie- sowie der 28. Jägerdivision auf die beherrschenden Sapun-Höhen vor. Die Hirschberger Jäger erzwingen den entscheidenden Durchbruch. In der Chronik der 28. Jägerdivision heißt es:
„Die Härte des Kampfes zeigen die vielen Verwundeten, die durch Bajonettstiche und Handgranatensplitter verletzt sind. Ein Gegenangriff auf die Höhe bricht bereits im Sperrfeuer der Artillerie zusammen.“
In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni herrscht reger Betrieb am Nordufer der Sewernaja-Bucht. 100 prall gefüllte Sturmboote setzen auf die andere Seite über. Die angelandeten Stoßtrupps nehmen das befestigte Steilufer. Damit ist die Schlacht entschieden, wenngleich bis zur endgültigen Einnahme der Stadt am 5. Juli noch fast eine Woche vergehen soll.
Hauptmann der Luftwaffe Werner Pabst15 beschreibt den apokalyptischen Endkampf um die Festung: „Das ganze Land mußte mit Bomben und Granaten buchstäblich erst umgepflügt werden, ehe sie ein Stück zurückwichen.“
Die schier unglaubliche Opferbereitschaft vieler Rotarmisten nötigt nicht wenigen Landsern höchsten Respekt ab. Der Vertreter des Auswärtigen Amts beim Armeeoberkommando (AOK) 11, Hentig, berichtet am 6. Juli 1942 über Iwans Tapferkeit:
„Daß die Leistungen ungeheuerlich waren, wird gerade von Frontsoldaten anerkannt. Wie oft habe ich nicht voll Staunen gehört: ,Das hätte kein Franzose und kein Engländer, das hätten wir nicht einmal ausgehalten.‘ [...] Nur von der äußersten Front, kaum je von der deutschen Presse, ist das Draufgängertum und der in vielen Fällen unerhörte Mut nicht nur des Soldaten, sondern auch des Kommissars und Politruks anerkannt worden.“
Am Ende taumeln 95.000 zu Tode erschöpfter Rotarmisten in Gefangenschaft. Eine erstaunlich hohe Anzahl Überlebender angesichts des massiven deutschen Beschusses und Bombardements. Und ein Indiz für die enorme Stärke der sowjetischen Befestigungen. Beleg auch dafür, wie begrenzt die tatsächliche Wirkung von Trommelfeuer vielfach ist. Iwan versteht es eben vortrefflich, sich tief in die schützende Erde einzugraben. Nichtsdestotrotz bedecken Zehntausende Leichen das „umgepflügte“ Schlachtfeld. Davon sollen sich bis zu 5.000 der Gefangennahme durch Suizid entzogen haben. Von ehemals 200.000 Einwohnern hausen noch gut 30.000 in den Ruinen der leidgeprüften Stadt.
Neuneinhalb Monate ist die 11. Armee auf der Krim gebunden gewesen. Während dieser Zeit sind schwere Blutopfer erbracht worden. Seit Beginn des Ostfeldzuges hat der Großverband 70.000 Mann verloren, im Schnitt 10.000 pro Division! Überproportional hohe Verluste. Bis zu 25.000 deutsche Soldaten sollen im Kampf um die Krim gefallen sein.16 Auf Seiten der Roten Armee ist von annähernd 160.000 Toten in dem quälend langen Ringen auszugehen. Laut Feldmarschall Bock trägt nichtsdestotrotz Mansteins Feldherrnkunst wesentlich zur Bereinigung der Lage bei.
Verbrechen hinter der Front
Zahllose Opfer sind auch abseits des Kampfgeschehens zu beklagen. Im Jahr 1942 gilt unter anderem die Nordukraine als Partisanengebiet. Überfälle der Freischärler häufen sich. Die deutschen Einsatzgruppen der SS, unterstützt von einheimischer Miliz und ungarischer Infanterie, unternehmen brutale Razzien als Vergeltungsmaßnahme. Der später populäre Journalist Peter von Zahn17 erlebt als Kriegsberichterstatter eine dieser Aktionen. Überfallartig durchkämmen die Partisanenjäger einen Ort. Während die ukrainische Miliz nach Gutdünken Verdächtige aussondert, übernimmt die SS das Erschießen. Anschließend werden die Häuser der Opfer niedergebrannt. Von Zahn kommentiert die Aktion Jahrzehnte danach so:
„Es war reiner Terror auf dem Rücken der Bevölkerung. Ein Krieg, der Sinn und Zweck völlig verloren hatte.“
In einem anderen Fall kommen SS-Männer, als Partisanen getarnt, der Anführer mit rotem Stern auf der Mütze und russisch parlierend, in ein Dorf. Jene Bewohner, die Sympathie für die vermeintlichen Landsleute bekunden – oft genug aus purer Angst vor den nicht selten auch gegenüber der Zivilbevölkerung brutal vorgehenden Freischärler – werden kurzhand erschossen.
Kurt L.18, gebürtiger Berliner des Jahrgangs 1908, ist während des Sommers 1942 im rückwärtigen Heeresgebiet zur Partisanenbekämpfung eingesetzt. Der gelernte Bankkaufmann schreibt seiner Mutter am 26. Juni:
„Neulich wurde eine Panjepferde-Transportstaffel, (Pferde, die laufend aus Polen geholt werden) bestehend aus 200 armseligen unterernährten Gäulen, von denen meist ein Teil auf dem langen Marsch zurückbleibt, und 50 russ. Pferdeknechte und 25 deutschen Soldaten von den Partisanen überfallen. Das kostete 2 Tote u. 5 Verletzte. Als Folge wurden von uns 3 Dörfer, in denen sich die Partisanen aufgehalten haben, vollkommen niedergebrannt, und die männliche Bevölkerung erschossen. Das ist dann die notwendige unerbittliche Vergeltung, bei der natürlich Unschuldige mit den Schuldigen leiden müssen.“
Nicht minder brutal sind die Aktionen der Partisanen. Wehrmachtsangehörige, die lebend in die Hände der Freischärler fallen, müssen mit einem fürchterlichen Ende rechnen. Herbert Veigel19, Soldat bei der Luftabwehr, erlebt im Sommer 1942 eine Partisanen-Attacke auf einen deutschen LKW. Der Augenzeuge berichtet über die schockierenden Szenen und ihre Folgen:
„Auf der Ladefläche lagen die Leichen der fünf Männer, nackt, zerstückelt wie geschlachtete Tiere. Den Geruch des frischen Blutes werde ich nie vergessen. Ist es dann nicht verständlich, daß sich nichts mehr in mir rührte, wenn ich auf unserem Weg Partisanen an den Bäumen baumeln sah, Schilder um den Hals, auf denen stand: ,Ich habe als Partisan deutsche Soldaten überfallen‘?“
Nur vordergründig, denn Vergeltungsaktionen im Krieg sind nur selten gerecht. Und der anfangs schwachen Partisanenbewegung verschafft die Eskalation der Gewalt wachsenden Zulauf. Die Zahl der Freischärler steigt im Laufe des Jahres 1942 von rund 25.000 auf 150.000. Dessen ungeachtet betont der Führer in der ostpreußischen Wolfsschanze am Abend des 10. Mai, dass er die letzte Kuh aus der Ukraine wegschaffen werde, bevor die Heimat hungern müsse.20
Dazu kommen die 1942 von Hitler persönlich befohlenen Zwangsdeportationen von Arbeitssklaven. Davon sind vor allem Frauen aus der Ukraine im Alter zwischen 18 und 35 Jahren betroffen. Sie werden ins Reich verschleppt, um knochenharte Zwangsarbeit zu leisten. Ihre Zahl geht in die Hunderttausende.
Und auch die Judenmorde haben im zweiten Kriegsjahr an der Ostfront noch kein Ende gefunden. In einem Feldpostbrief heißt es:
„Über die Ereignisse im Osten betr. der Juden könnte man ein Buch schreiben. Dafür ist das Papier zu schade. Ihr dürft Euch sicher sein, sie kommen an einen richtigen Ort, da unterdrücken sie keine Völker mehr.“
Der Memoirenschreiber Manstein findet in seinem Buch „Verlorene Siege“ auch nachträglich noch keine Worte für den Völkermord, die mindestens 33.000 Juden, die im Befehlsbereich der 11. Armee „an einen richtigen Ort“ gekommen sind. Hätte er gar während der Jahre 1941/42 gegen den Holocaust auf der Krim und damit gegen Hitler opponiert, wäre die militärische Karriere beendet gewesen. Die eiskalte Gleichung lautete: Ohne Unterstützung oder zumindest Duldung der Verbrechen keine glänzenden Operationen mehr und kein Marschallstab für die Erstürmung der Seefestung Sewastopol. Ein hoher Preis, den Manstein zu zahlen bereit gewesen ist. Wie die meisten deutschen Offiziere in höchster Verantwortung.
Dieser Tage werfen die dunklen Schatten der Vergangenheit ein düsteres Licht auch auf vermeintlich couragierte Generale, die bis dato gar dem Widerstand zugeordnet worden sind. Hans Graf von Sponeck, der als Kommandierender General des XXXXII. Armeekorps im Dezember 1941 entgegen Mansteins und Hitlers Haltebefehl die Halbinsel Kertsch auf eigene Faust räumte und damit Tausende seiner Soldaten gerettet haben mag, soll den Holocaust auf der Krim aktiv unterstützt haben.21 Doch nur wer den Geist dieser hohen Offiziere, ihre Herkunft, Sozialisation und Motivation ausblendet, darf ernsthaft überrascht über diese neue Enthüllung sein. Es werden wohl bald wieder einige bundesrepublikanische Straßen- und Kasernenschilder, die den Namen Sponeck tragen, umbenannt werden müssen ...
Die Kesselschlacht bei Charkow
Im Frühling 1942 kreisen die Gedanken im Führerhauptquartier vor allem um den sowjetischen Frontvorsprung bei Isjum, südlich Charkow. Ein gefährliches Relikt aus der Winterschlacht, entstanden durch einen russischen Einbruch in die deutschen Linien am Donez. Der weit nach Südwesten ragende Balkon ist 100 Kilometer breit und tief. In den Stäben der Heeresgruppe Süd sieht man klar: Bevor die große Sommeroffensive, der „Fall Blau“, hier den Ausgangspunkt nehmen kann, muss erst einmal diese russische „Beule“ eingedrückt werden. Die Operation erhält den Decknamen „Fridericus“. Sie sieht einen konzentrischen Angriff gegen die sowjetische 6. und 57. Armee vor. Von Norden soll General Paulus 6. Armee, von Süden die Armeegruppe Kleist mit Teilen der 1. Panzer- und 17. Armee antreten. Gelingt die Operation, wäre nicht nur eine gewaltige Kesselschlacht geschlagen, sondern auch eine günstige Basis für den „Fall Blau“ gewonnen. „Fridericus“ soll am 18. Mai starten.
Aber nicht nur Hitler, Halder und Bock befassen sich mit Angriffsoperationen. Auf der Gegenseite plant Marschall Timoschenko, der Oberbefehlshaber der Südwestfront, eine konzentrische Offensive gegen die wichtige Etappenstadt Charkow, um die 6. Armee einzuschließen. Nach Vernichtung der eingekesselten Verbände soll weiter auf Dnjepropetrowsk vorgestoßen werden. Über diesen Knotenpunkt am Dnjepr rollt ein Großteil des Nachschubs für die deutschen Großverbände im Donezgebiet und auf der Krim. Die Operation geht auf die persönliche Initiative Stalins zurück, und sie ist überaus gewagt! Immerhin richtet sich der Stoß gegen einen kampfkräftigen und erfahrenen Gegner, der selbst zur Großoffensive rüstet. Ein kompetenter Chronist der Frühjahrsschlacht um Charkow, der US-Militärhistoriker und -schriftsteller David M. Glantz, schreibt: „Unlike their Soviet counterparts, in spring 1942 German combat formations were still led and manned by battle-hardened and experienced combat veterans.“22 („Im Gegensatz zu ihren sowjetischen Gegnern, wurden die deutschen Kampfverbände im Frühling 1942 geführt von und besetzt mit schlachtgestählten und erfahrenen Kriegsveteranen.“)
In der Tat: Unter diesen Umständen droht Timoschenkos kühner Stoß zu einem gefährlichen Stich ins Wespennest zu werden …
Zwar befürwortet Armeegeneral Schukow ebenfalls Präventivschläge gegen die deutsche Front. Doch fasst der bullige Stratege dafür eher den Mittelabschnitt, deren Westfront er selbst kommandiert, ins Auge. Aber Stalin lässt sich von seinem Präventivschlag in der Ukraine nicht abbringen. Daran können auch die Bedenken seiner wichtigsten militärischen Ratgeber nichts mehr ändern. Die schweren Bedenken von Generalstabschef Schaposchnikow und seines strategisch begabten Zöglings Wassiljewski wischt Stalin beiseite.
Die Frage ist nur: Wer schlägt als Erster los – die Deutschen oder die Russen? Der 12. Mai liefert die Antwort. Aus der „Pestbeule“, wie Feldmarschall von Bock, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, den Donez-Brückenkopf bei Woltschansk nennt, tritt die 28. Sowjetarmee mit 16 Schützen- und Kavalleriedivisionen sowie drei Panzer- und zwei mechanisierten Brigaden gegen den Nordflügel der 6. Armee an. Nach einstündiger Artillerie- und bis zu 20-minütiger Luftvorbereitung. Der Stoß richtet sich gegen Seydlitz-Kurzbachs LI. und Hollidts XVII. Armeekorps.
Wie kritisch sich die Lage vorn bei den betroffenen Einheiten entwickelt, erlebt der Soldat Hans-Jürgen Hartmann23 von der 294. Infanteriedivision. Sein schonungsloser Bericht offenbart Entschlossenheit und Verzweiflung gleichermaßen sowie teils krasse Unterschiede in der Mentalität, Ausstattung und Versorgung der beteiligten Großverbände. Hartmann, Angehöriger einer 14. (Pak) Kompanie, blickt neidvoll auf eine benachbarte Panzerdivision, für deren Angehörige es unter anderem „Schokolade und Zigaretten satt, herrlichen Käse“ gibt. Vor allem aber ist es das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber den massiven russischen Panzerangriffen im Raum Nepokrytaja, die an der Moral der Infanterie nagen. Mancherorts geraten die Landser sogar in Panik. Hartmann schreibt über die dramatischen Ereignisse, die sich Mitte Mai ostwärts Charkow zugetragen haben:
„Aus den riesigen Staub- und Pulverwolken brachen dann die Panzer hervor, die braunen Infanterierudel gleich dahinter, und dann gab es kein Halten mehr. Weg, ab nach hinten, Kanonen sprengen – rette sich, wer kann! Dazu oben in Massen die russischen Schlachter.“24
In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai entern einzelne Landser vorbeirollende Panzer, um oben aufsitzend mitzufahren. Entsetzt erkennen die Infanteristen dann aber rote Sterne an den Türmen. Sofort springen sie wieder herunter und flüchten sich schließlich doch lieber zu Fuß nach Westen. Laut Hartmann wirkt der verlorene Haufen wie „ein jammervoll zerfledderter, entnervter Verein, den Panzerschreck in den Knochen, verkommener Lanseradel, hin- und hergeschubst als Lückenbüßer, ohne Kanonen und Handgranaten, und wie zum Hohn bestückt mit russischen Beuteflinten.“
Noch brenzliger entwickelt sich die Lage am Südflügel der 6. Armee. General der Panzertruppe Friedrich Paulus sieht seine Offensivplanungen jäh über den Haufen geworfen. Statt selbst anzugreifen, muss sich der im Felde noch unerfahrene Kommandeur mit seinem Großverband dem überwältigenden Ansturm von zwei sowjetischen Armeen, der 6. und 57., erwehren. Nicht weniger als 26 Schützen- und 18 Kavalleriedivisionen sowie 14 Panzerbrigaden überrennen die sechs Divisionen des deutschen VIII. und rumänischen VI. Korps. Insgesamt führen die Russen 640.000 Mann, 1.200 Panzer und über 900 Flugzeuge in die große Frühjahrsschlacht um Charkow. Werden Timoschenkos Greifer nicht schleunigst angepackt, sind alle Planungen für den „Fall Blau“ obsolet.
Erst 20 Kilometer vor Charkow gelingt es General Paulus, mit der 3. und 23. Panzerdivision den ungestümen Vorwärtsdrang der russischen Nordzange durch Flankenstöße zu lähmen. Das infanteristische Rückgrat bildet die 71. Divison. Generalmajor Hartmanns Großverband ist im Herbst 1941, nach der Kesselschlacht um Kiew und den hohen Verlusten, von der Ostfront abgezogen und zur Wiederauffrischung nach Belgien verlegt worden. Der zweite Russlandeinsatz sieht die voll kampfkräftige Infanteriedivision in der Schlacht um Charkow.
Leutnant Wigand Wüster25 von der 10. Batterie/Artillerieregiment 171 erlebt die wechselvollen Gefechte. Eine seiner schweren Feldhaubitzen, Kaliber 15 Zentimeter, fällt durch Rohrkrepierer aus. Der starke Detonationsdruck hat die beiden Kanoniere auf der Lafette betäubt, Gefäße in ihrem Gesicht sind geplatzt. Aber die erlittenen Verletzungen erweisen sich als halb so schlimm. Lebensgefährlich ist dagegen die starke sowjetische Artillerie, laut Leutnant Wüsters Bericht liegt die Hauptkampflinie (HKL) „unter ständigem schweren Beschuss“. Zu allem Überfluss greifen auch noch Panzer plus Begleitinfanterie an. Im direkten Richten nehmen die Artilleristen mit ihren schweren Feldhaubitzen von einer Vorderhangstellung aus die anrollenden T 34 unter Feuer. Distanz 1.500 Meter. Dann rollt die Kanonade über das wellige Gelände. Und es gelingt tatsächlich, Wirkung zu erzielen, obwohl die Haubitzen nicht sonderlich für den Panzerabwehrkampf geeignet sind. Der erste Volltreffer reißt einem T 34 gleich den ganzen Turm herunter. An anderer Stelle genügt der Naheinschlag einer 15-Zentimeter-Granate, um einen Tank bewegungsunfähig auf die Seite zu werfen oder ihm die Ketten abzureißen. Fünf Russenpanzer kann die 10. Batterie schließlich vernichten, dann ist der Feindangriff abgeschlagen.
Hans Jürgen Hartmann von der 294. Infanteriedivision beschreibt die gefallenen Gegner in seinem Gefechtsabschnitt: „Die meisten Toten waren Mongolen mit gelben, vor Schmerz und Angst und Hitze grässlich verzerrten Gesichtern, die uns mit starren Augen und bleckenden Zähnen immer von neuem erschreckten.“26
Mehr Biss als die Nord- zeigt Timoschenkos noch stärkere Südzange. An dieser Stelle stoßen die sowjetischen Verbände bis zum 16. Mai scheinbar unaufhaltsam vor. Aber mit jedem Kilometer Raum, den die Stoßtruppen nach Westen gewinnen, verlängert sich auch ihre Südflanke, bietet selbst Angriffsfläche ...
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Die große Frage in den deutschen Stäben lautet: Soll die Armeegruppe Kleist ungeachtet der überraschenden Lageentwicklung am Fridericus-Plan festhalten? Können die 1. Panzer- und die 17. Armee immer noch nach Norden antreten, um den russischen Frontvorsprung bei Isjum abzuschneiden, und zwar allein? Denn die eingetretene Krise östlich Charkow erlaubt keine entscheidende Mitwirkung der weiterhin in schweren Abwehrkämpfen gebundenen 6. Armee mehr. Bock zögert, während Halder zur einarmigen Zange drängt, die Hitler schließlich billigt.