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Pearls of Bulgarian Folklore
Ostfront 1942/43
Erlebnisse aus dem Russlandfeldzug
Von Stalingrad bis Kursk
Impressum
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2014 Henning Stühring
ISBN 978-3-8442-8271-9
Cover: Bundesarchiv, Bild 101I-218-0529-07
Kartenskizzen: Dieter Weyand
Grafik & Gestaltung: Henning Stühring
Inhalt
Vorwort
I. Vorgeschichte
Frühjahr 1942
Weichenstellungen
II. Ouvertüren im Süden
08.05.1942-03.07.1942
Kertsch, Sewastopol, Charkow
III. Blutige Nebenfronten
06.05.1942-23.11.1942
Brennpunkte bei den Heeresgruppen Nord und Mitte
IV. „Fall Blau“
28.06.1942-25.07.1942
Vom Donez zum Don
V. Das Kaukasus-Abenteuer
26.07.1942-27.12.1942
Im Schatten des Elbrus
VI. Rattenkrieg an der Wolga
26.07.1942-18.11.1942
Angriff auf Stalingrad
VII. Operation „Uranus“
19.11.1942-02.02.1943
Die 6. Armee im Kessel
VIII. Schlagen aus der Nachhand
28.12.1942-18.03.1943
Mansteins große Stunde
IX. Abwehrschlachten im Norden
24.11.1942-04.07.1943
Von Rshew bis Leningrad
X. Die Kursker Schlacht
05.07.1943-18.07.1943
Operation „Zitadelle“
Nachwort
Anhang: Informationen/Hintergrund
Quellen, Literatur, Fotonachweis
Nach der Schlammperiode zeichnen sich noch die tiefen Einbrüche durch die Winteroffensive der Roten Armee ab. Fieberhaft versucht die Wehrmacht bis in den Sommer 1942 hinein, die daraus resultierenden Beulen und Einbuchtungen zu begradigen. Vor allem die Heeresgruppe Süd muss die Lage auf der Krim und den russischen Frontvorsprung bei Isjum bereinigen, bevor „Fall Blau“ (Ausschnitt Karte r.o.), die große deutsche Sommeroffensive zu den Ölquellen des Kaukaus, beginnen kann.
Vorwort
„Unter der großen Birke, da liegt er.“
Ein älterer Herr weist den Weg. Zu einer bestimmten Grabstelle auf dem Dorfmarker Friedhof in der Lüneburger Heide. Es ist ein drückend heißer Mittwochabend, dieser 14. Juli 2010 – der französische Nationalfeiertag. Noch ein paar Schritte, eine letzte Wegkreuzung. Und tatsächlich, da liegt er. Unter einer schweren Steinplatte. Er, der Generalfeldmarschall Erich von Lewinski, genannt von Manstein. Neben ihm ist seine Frau Jutta Sybille gebettet, und an der Ecke der Grabstelle steht noch ein schlichtes Holzkreuz. Für den Sohn Gero Erich Sylvester. Dessen Gebeine liegen allerdings in Russland begraben. Am Südufer des Ilmen-Sees. Gefallen am 29. Oktober 1942 im Nordabschnitt der Ostfront durch die Explosion einer Fliegerbombe. Als Leutnant, im Alter von 19 Jahren. Sein Vater, der berühmte Stratege der Wehrmacht und „gefährlichste Gegner der Alliierten“, durfte 85 werden.
Die Schatten werden länger. Es ist ein ausgesprochen ruhiger Abend. Eine geradezu friedliche Stimmung. Als stünde die Zeit still. Der passende Augenblick, sich auf die kleine Bank unter der mächtigen Birke zu setzen, eine Zigarre anzuzünden und in Gedanken zu versinken. Grübeln über ihn, den Generalfeldmarschall. Ironie der stillen Begegnung: Ausgerechnet heute feiern die Menschen in Frankreich ihren Nationalfeiertag! Laut und freudig. Vor 70 Jahren, im Mai 1940, versetzte die atemberaubend erfolgreiche Ausführung von Mansteins genialem „Sichelschnitt“-Plan, der die Grundlage zum phänomenalen Blitzsieg im Westen bildete, Frankreich plus die halbe Welt in Angst und Schrecken. Stalin soll laut Chruschtschow angesichts der unerhörten Niederlage der vermeintlich stärksten Landstreitmacht der Erde verzweifelt ausgerufen haben, dass Hitler nun auch die Sowjets „fertigmachen“ werde.
Ja, Mansteins Feinde verloren ob seiner brillanten Operationsideen schon mal die Fassung. Schlachten lenken, sich in den Gegner denken, konnte er wie kein Zweiter. Zwar wurde der vornehme Preuße bisweilen von Hitler als „Pinkelstratege“ verspottet. Aber ebenso bemerkte der Führer gegenüber Generaloberst Guderian, Manstein sei „vielleicht der beste Kopf, den der Generalstab hervorgebracht hat“. Davon konnte neben anderen auch der legendäre Marschall Schukow ein Klagelied singen. Noch im Frühjahr 1944 wurde der „Held der Sowjetunion“ von Manstein regelrecht vorgeführt, als ihm dieser in überragender Feldherrnkunst die schon sicher geglaubte Beute, die eingekesselte 1. Panzerarmee, entwand. Es sollte allerdings die letzte Großtat des blonden Strategen im Zweiten Weltkrieg gewesen sein. Hitler verabschiedete seinen fähigsten Feldmarschall am 30. März, da „im Osten die Zeit der Operationen größeren Stiles [...] abgeschlossen“ sei. Damit war Mansteins glänzende Karriere abrupt beendet. Geblieben sind viele Fragen. Bis heute. Zwar kann es keine Zweifel am operativen Genie Mansteins geben, aber dafür umso mehr an seiner Einstellung gegenüber dem NS-Regime und seiner charakterlichen Veranlagung. Der zweifellos überaus ehrgeizige Stratege, der 1942 für die sehr blutige Eroberung der Seefestung Sewastopol auf der Krim den Marschallstab erhielt, sah sich selbst als unpolitischen Soldaten; bezeichnend sein Ausspruch:
„Preußische Feldmarschälle meutern nicht!“
Untergebene wiederum nahmen Manstein gelegentlich als gefühlskalt wahr. Wer aber war dieser im persönlichen Umgang gewiss nicht einfache Mann, der zur zentralen Figur unter den deutschen Heerführern in einer schicksalhaften Kriegsphase, nämlich zwischen den historischen Wegmarken Stalingrad und Kursk, avancierte und ein atemberaubendes Kapitel an der Ostfront entscheidend mitschrieb?
Manstein ist tatsächlich Zeit seines Lebens vor allem Soldat gewesen. Wie ein roter Faden zieht sich das Militärische durch sein gesamtes Dasein – vom jugendlichen Kadetten über den Frontkämpfer im Ersten und Heerführer im Zweiten Weltkrieg bis hin zum Bundeswehr-Berater im Kalten Krieg. Das Soldatentum legte man dem Sprössling einer preußischen Offiziersfamilie quasi in die Wiege, und als Soldat ist er schließlich von der Bundeswehr ehrenhaft zu Grabe getragen worden.
Man wird Manstein und auch anderen Feldherrn seiner Generation nicht gerecht, indem fortlaufend der Grad seiner Zustimmung zum Nationalsozialismus oder Antisemitismus gemessen wird. Ob unter Kaiser, Führer oder Kanzler – dieser Mann wollte vor allem eines: Operationen auf dem Schlachtfeld lenken! Er war geschmeidig genug, seine überragenden Fähigkeiten den verschiedenen Systemen anzudienen. Solange er nur planen und operieren durfte. Dass er dabei auch kalt bis rücksichtslos wirkte beziehungsweise handelte, liegt in der Natur von militärischen Angelegenheiten. Unter Mansteins Führung starben gewiss Zigtausende Menschen. Soldaten wie Zivilisten. Man muss aber seine Biografie kennen, um die kriegerische Mentalität erfassen zu können. Was der eigenen Karriere nützte, goutierte Manstein. Einerseits. Andererseits denkt ein reinrassiger Soldat in anderen Kategorien als ein friedliebender Zivilist. Manstein hat als junger Oberleutnant im Ersten Weltkrieg für sein Vaterland geblutet und eine schwere Schussverletzung nur dank der Hilfe seiner Kameraden überlebt. Und er beerdigte seinen Sohn Gero an der Ostfront. Ein solcher Mann weiß, dass Leben und Sterben auf dem Schlachtfeld oft nur einen Schritt voneinander entfernt liegen. Er akzeptiert das Gesetz des Krieges. Es gehört einfach zum Soldatensein. Was der Feldmarschall von Manstein seinen Landsern befahl, hat er selbst an Leib und Seele erfahren. Daraus zog er wohl auch die Berechtigung, buchstäblich alles von den Untergebenen fordern zu dürfen. Nicht wenige Feldherren verschließen sich gegenüber sentimentalen Kategorien wie Mitleid – erst recht gegenüber dem Feind, Zivilisten eingenommen. Andernfalls zerbricht der militärische Führer an seiner Aufgabe, zumal einer solch übermenschlichen, wie sie zweifellos das Kommando über eine Heeresgruppe im Kriege darstellt. Besser man legt das Menschsein ab und sieht die Dinge rein vom militärischen Standpunkt her.
Dazu gehört, potentiellen Unruhen im Operationsgebiet vorzubeugen. Also lässt man die Einsatzgruppen der SS nicht nur gewähren, sondern unterstützt sie auch noch. Oder die Bekämpfung der Partisanenbewegung mit brutalen Repressalien. So geschehen 1941/42 im Herrschaftsbereich seiner 11. Armee. Man darf Manstein sicher nicht gleichsetzen mit einem Reichenau. Jener berüchtigte Nazi-General, der als leidenschaftlicher Juden- und Russenfresser galt. Mansteins Verhältnis zu Hitler war durchaus ambivalent. Der eher feine preußische Pinkelstratege und der öfter grobe ostmärkische Gefreite wurden nie richtig warm miteinander. Aber der eine brauchte eben den anderen, und beide wussten es. Ohne Hitler, der Aufrüstung und Krieg verhieß, konnte Manstein sein operatives Genie nicht endlich auch auf dem Schlachtfeld unter Beweis stellen. Und der im Anfangsstadium des Völkerringens in militärischen Fragen noch unsichere Führer war zunächst auf seinen besten Kopf angewiesen, vor allem um Frankreich vernichtend schlagen zu können. Wer weiß, welchen Lauf die Geschichte genommen hätte, wenn nicht Halder, sondern Manstein zum Generalstabschef des Heeres ernannt worden wäre. Das erschien damals durchaus eine reelle Option. Seinerzeit fungierte Manstein als Oberquartiermeister I im Generalstab des Heeres. Er galt in dieser Schlüsselposition als ein potentieller Nachfolger von Generalstabschef Beck, den Hitler 1938 aus dem militärischen Spitzenamt entfernte. Gesetzt diesen Fall: Wären die deutschen Panzer im Westfeldzug 1940 kurz vor Dünkirchen ebenfalls angehalten worden oder hätten sie das britische Expeditionskorps von diesem letzten Hafen für eine Evakuierung abgeschnitten und den Westalliierten damit die totale Niederlage bereitet? Vielleicht würde ein von Manstein, der Schöpfer des „Sichelschnitts“, bei Hitler mehr Gehör gefunden haben als eben Halder, der lange Zeit gegen den Plan intrigierte. Aber auf Dauer hätte Hitler wahrscheinlich den Preußen mit der Hakennase noch weniger ertragen als den Bayern mit dem Bürstenschnitt. Gut möglich, dass Mansteins größter Triumph zugleich auch sein letzter als OKH-Chef gewesen wäre. Aber immerhin hätte die Wehrmacht dann mit aller Macht die Rote Armee laut Stalin „fertigmachen“ können, statt den doppelt riskanten Zweifrontenkrieg, wie er 1941 ausbrach, wagen zu müssen. Zugegeben: Alles reine Hypothese im Großreich der Spekulation, wenngleich auch eine höchst interessante. Sicher dürfte allerdings sein, dass es viele Feldherrn – ob nun ein Patton, Montgomery, Schukow oder Manstein – mit dem Wort Wellingtons hielten: „Das Zweitschlimmste nach einer verlorenen Schlacht ist eine gewonnene Schlacht.“
Denn in beiden Fällen ist der Krieg, „die schönste Zeit“1 für die Herren Generale, vorbei; der populäre US-Panzergeneral Patton schrieb während der Schlacht um die Normandie in sein Tagebuch: „Das zivile Leben wird stinklangweilig werden. Keine jubelnden Menschen, keine Blumen und keine Privatflugzeuge mehr. Ich bin überzeugt, das beste Ende für einen Offizier ist die letzte Kugel des Krieges.“
Dafür mag man sie verfluchen, die großen Marschälle, weil andere für ihren Lorbeer verbluteten. Man selbst kann es im Angesicht von Mansteins letzter Ruhestätte nicht. Trotz allem, was geschehen. Dazu muss man freilich bereit sein, die Menschen und die Zeit, in der sie lebten, emotional zu verstehen, statt sie allein aus nachträglicher Sicht „politically correct“ analysieren zu wollen. Man wird das Gefühl nicht los, dass gewisse der heutigen moralisierenden TV-Professoren damals wohl eher nicht nicht zu Bombenlegern, sondern „Hitlers Helfern“, Eliten des Dritten Reichs, getaugt hätten. Jedenfalls wird oft nur dieser zweite Schritt gesetzt. Wer sich aber die Mühe macht, die damalige Zeit unvoreingenommen zu betrachten, bleibt früher oder später an der unbequemen Frage hängen: Wie hätte man selbst als Angehöriger der Kriegsgeneration gehandelt? Zum lebensgefährlichen Widerstand in Diktaturen taugt bekanntlich nur eine mutige Minderheit. Das möge sich unsere Friedensgeneration vielleicht zuerst oder überhaupt mal fragen. Denn es waren jene, aus deren Blut und Fleisch wir entsprungen sind, nämlich unsere Väter und Großväter, Mütter und Großmütter; jene, an deren Gräbern wir trauern statt sie zu verfluchen, obwohl die meisten damals mitmachten. Wer von uns hätte die Hakenkreuzfahne verbrannt und nicht geschwenkt? Wäre man selbst damals wirklich klüger, mutiger gewesen?
Die Zigarre erlischt. In Frankreich wird weiter gefeiert. Aus Erbfeinden sind Partner, Motoren, Hauptantriebskräfte des europäischen Einigungsprozesses geworden. Der Sichelschnitt ist Geschichte, Manstein Legende lebendig. So wird er es wohl gewollt haben, auch wenn der viele Lorbeer auf ewig schmutzig blutbefleckt bleibt.
Fotos: Henning Stühring
Die Grabstelle der Familie Manstein auf dem Friedhof in Dorfmark. Das kleine Foto oben rechts zeigt das Kreuz des Sohnes Gero, der in Russland durch eine Fliegerbombe tödlich verwundet wurde. Seine Gebeine liegen bei Redja am Südufer des Ilmensees. Das Grabkreuz des Leutnants ist dem damaligen Original in Russland detailgetreu nachgebildet.
I. Vorgeschichte
Frühjahr 1942
„Wir wollen hoffen, dass es dieses Jahr zu Ende geht.
Ich glaube nicht daran.“2
Aus dem Brief eines Landsers der 211. Infanteriedivision, die im Verband der 2. Panzerarmee nordöstlich von Orel kämpft.
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„Wenn ich das Öl von Maikop und Grozny nicht bekomme, dann muß ich diesen Krieg liquidieren.“
Ausspruch Hitlers vor den versammelten Spitzenmillitärs der Heersgruppe Süd in Poltawa/Ukraine am 1. Juni 1942.
*
Prolog
Im Frühjahr 1942 bietet das gewaltige Geschehen an der Ostfront für den neutralen Beobachter ein undurchsichtiges Bild. Einerseits ist es der Wehrmacht gelungen, große Gebiete der Sowjetunion zu erobern. Andererseits sind die entscheidenden operativen Ziele, nämlich Leningrad und Moskau, sowie folglich auch das strategische Ziel Hitlers, „Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“, verpasst worden. Die Rote Armee wiederum hat den ersten und gefährlichsten Ansturm der Wehrmacht pariert. Allerdings um den Preis ungeheurer Opfer. Zwar konnte die Winteroffensive die akute Bedrohung der russischen Hauptstadt beseitigen. Aber die angestrebte Vernichtung der Heeresgruppe Mitte ist nicht gelungen. Im Prinzip herrscht eine klassische Patt-Situation. Aber im unerbittlichen Kampf der Weltanschauungen bleibt kein Raum für einen Verhandlungsfrieden. Damit zeichnet sich für beide Seiten ab, dass der Kampf der Titanen noch lange dauern wird. Generalstabschef Franz Halder hat recht, wenn er vorausschauend für das Jahr 1942 notiert: „Krieg wird im Osten entschieden.“
Aber wo genau soll, kann auf deutscher Seite überhaupt noch einmal der Hebel für eine strategische Offensive angesetzt werden? Nach dem großen Aderlass des Winters kommt ein Generalangriff an der gesamten Ostfront nicht mehr in Frage. Die Kräfte reichen nur für eine Teiloffensive an einem Frontabschnitt. Nach dem Debakel vor Moskau schwebt Hitler diesmal der entscheidende Stoß im Süden der Sowjetunion vor, um endlich konsequent „seine“ kriegswirtschaftlichen Ziele zu verfolgen. Der Führer begehrt vor allem die Ölquellen des Kaukasus. Sie sollen die Autarkie des Reiches auf dem europäischen Kontinent langfristig sichern und der Sowjetunion kurzfristig entzogen werden. Und entgegen der Legendenbildung nach dem Krieg besteht auch in maßgeblichen Kreisen der hohen Generalität durchaus Einvernehmen über den Schwerpunkt bei der Heeresgruppe Süd. Halder bezeichnet das geplante Kaukasus-Unternehmen als „eine zwingende Notwendigkeit“. Die Region habe „etwa die gleiche Bedeutung wie die Provinz Schlesien für Preußen“.3
Auf der anderen Seite braucht die Rote Armee, die im Winter gegenüber der schlechter ausgerüsteten Wehrmacht dominieren konnte, eine Atempause, um neue Kräfte zu mobilisieren. Man ist sich im sowjetischen Oberkommando STAWKA der Tatsache bewusst, dass das russische Volk weiterhin die Hauptlast der Anti-Hitler-Koalition in den nächsten Monaten tragen muss. Zwar drängt Stalin unentwegt auf die Eröffnung einer zweiten Front in Westeuropa, aber Churchill sieht seine Streitkräfte noch nicht reif für eine große Invasion. Völlig zu Recht übrigens, wie die Ereignisse noch zeigen sollen ...
*
Zu den schweren Hypotheken des Winters auf deutscher Seite zählen die vielen Fronteinbuchtungen, die alsbald begradigt werden müssen. Dazu kommen Gesamtverluste in Höhe von 1,1 Millionen Mann vom 22. Juni 1941 bis Ende März 1942; davon allein 33.000 Offiziere (117 pro Tag!). Ein unersetzlicher Aderlass, der merklich an der Substanz der Truppe zehrt. Generalstabschef Halder konstertierte angesichts der gewaltigen Verluste bereits am 23. November 1941, dass „ein Heer, wie das bis Juni 1941 [...] uns künftig nicht mehr zur Verfügung stehen wird“. Das Oberkommando des Heeres (OKH) meldet bis zum 1. Mai 625.000 Fehlstellen im Ostheer. Den gut 2,5 Millionen Landsern plus 950.000 verbündeten Soldaten stehen 5,4 Millionen Rotarmisten mit 3.900 Panzern, 45.000 Geschützen und 2.200 Flugzeugen gegenüber. Auf deutscher Seite wiegen zudem die materiellen Einbußen besonders schwer. Bis Ende März wird ein Fehlbestand von 2.097 Panzern gemeldet. In den Panzerdivisionen sind zu diesem Zeitpunkt noch neun bis 15 Kampfwagen, entlang der gesamten Ostfront 140 (!) Panzer und weniger als 1.000 Flugzeuge einsatzbereit. Anfang Februar heißt es in einem Bericht der 2. Armee an die vorgesetzte Heeresgruppe Süd: „Die Armee ist also für einen Bewegungskrieg nicht einsatzfähig.“
Feldmarschall von Bock sieht den Bericht beispielhaft auch für die anderen Armeen seiner Heeresgruppe und gibt ihn an das OKH weiter. Kein Zweifel, die Verbände müssen erst einmal aufgefrischt werden. Mit größter Anstrengung gelingt es in den nächsten Wochen, die für die Großoffensive vorgesehene Heeresgruppe Süd – zeitlich gestaffelt – aufzufüllen. Die Heeresgruppen Nord und Mitte müssen dagegen ein Fehl von 4.800 bis 6.900 Mann je Division hinnehmen. In der Folge sinkt die Zahl der Bataillone in den Infanteriedivisionen von neun auf sechs. Geschwächt wird auch die Artillerie. Fortan stehen nur noch drei Geschütze pro Batterie (von ehemals vier bis sechs) zur Verfügung. In den Panzerdivisionen, die 1941 mit drei Abteilungen dotiert gewesen sind, ist nur noch eine Abteilung einsatzbereit.
Zudem geht der Personalersatz für die Front auf Kosten der Wirtschaft, die entsprechende Freistellungen in den Betrieben vornehmen muss. Nicht zuletzt leidet die Ausbildung der Rekruten unter den beschleunigten Truppenaushebungen. Einen Rückgriff auf weibliche Arbeitskräfte lehnt Hitler aus politischen Gründen ab. Ganz im Gegensatz zu Stalin, der längst den Masseneinsatz von Frauen an der Rüstungsfront propagiert und praktiziert. Den totalen Kriegseinsatz wagt nur der rote Diktator, während der deutsche noch die negativen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg vor Augen hat und Unruhen durch zu große Belastungen in der Heimat fürchtet. Rückblickend darf man wohl behaupten: Während der Führer auf vielen anderen Gebieten den höchsten Einsatz wagte, unterschätzte er hier wohl die Opferbereitschaft der deutschen Volksgemeinschaft. Einen Vorgriff auf die Zukunft macht Hitler allerdings, indem er den kompletten Jahrgang 1922 einziehen lässt. Nachteilig macht sich auf deutscher Seite weiterhin der permanente Nachschubmangel bemerkbar. Darüber zeigt sich auch der Führer verärgert, als er zürnt:
„Damit kann ich mich nicht abfinden. Es gibt Probleme, die unbedingt gelöst werden müssen. Wo richtige Führer vorhanden sind, sind sie immer gelöst worden und werden auch immer gelöst werden.“
Nicht zuletzt deshalb wird Albert Speer am 8. Februar 1942 als Reichsminister für Bewaffnung und Munition ernannt. Der in vielerlei Hinsicht begabte wie geschmeidige Architekt und Günstling Hitlers nimmt sich unter anderem der Logistik – und hier speziell der Steigerung der Transportkapazitäten – an, und zwar erfolgreich.
An der Ostfront flaut indes die Gefechtstätigkeit im Laufe des Frühjahrs spürbar ab. Dennoch fordert der Krieg seinen Tribut; es fließt auch im April noch Blut genug. Rund 23.000 Tote kostet der vergleichsweise ruhige Monat den ausgepowerten deutschen Verbänden. Derweil nutzen beide Parteien die mehr oder minder ausgeprägte Kampfpause, um sich für die nächsten großen Waffengänge zu rüsten und entsprechende Aufmarschanweisungen für die warme Jahreszeit auszuarbeiten.
*
Dem Beobachter stellt sich die Frage, ob es zu diesem Zeitpunkt überhaupt eine echte Alternative gibt zu Hitlers Entschluss, in den Kaukasus zu marschieren. Warum wird nicht wieder der Kreml ins Visier genommen? Unstreitig ist zunächst einmal, dass dem Führer kaum eine andere Option bleibt, als sein Heil in der Offensive zu suchen. Für das Reich kommt 1942 alles darauf an, bis Jahresende eine Vorentscheidung im Osten herbeizuführen. Denn nach dieser Frist droht das strategisch wirksame Eingreifen der Westalliierten an einer der Landfronten. Dafür bieten sich Invasionen in Afrika, Norwegen oder Nordfrankreich an. Das „Aufklärungsunternehmen“ vom 19. August 1942 am Strand von Dieppe, wie es der Chef der Kombinierten Operationen im britischen Oberkommando, Admiral Lord Mountbatten, von vornherein verstanden wissen will, fällt gewiss nicht unter diese Kategorie.
Andererseits führt nicht zuletzt die vermeintlich akute Bedrohung der französischen Küsten zum Abzug verschiedener Divisionen von der Ostfront. Darunter so bewährte Verbände wie die 6., 7. und 10. Panzerdivision. Dafür ist Hitler viel kritisiert worden. Allerdings sind gerade die genannten Verbände im Frühjahr 1942 ausgebrannt und bedürfen dringend der Auffrischung, Erholung und Ruhe, die es im Osten kaum geben kann. Gerade das Prinzip der Rotation auf Seiten der Wehrmacht soll sich bewähren. Im Westen gelingt es am besten, den kampfunerfahrenen Ersatz mit den Ostfrontveteranen zu neuen schlagkräftigen Einheiten zu verschmelzen. In Russland wären dagegen die begehrten schnellen Divisionen von den Armeen als permanent greifbare Front-Feuerwehr vollends verheizt worden. Zum Beispiel, um die zahlreichen Fronteinbrüche bei der Heeresgruppe Mitte zu bereinigen.
Denn erst nach Beseitigung dieser Beulen aus der Winterschlacht kann Moskau ein verlockendes, buchstäblich nahe liegendes Operationsziel für Feldmarschall Kluges Streitmacht sein. Aber nur auf den ersten Blick. Denn vor der Hauptstadt konzentriert Stalin auch seine stärksten Kräfte. Dazu kommt das heikle Gelände. Wälder und Sümpfe würden Umgehungen großen Stils stark behindern. Ein Angriff in dieser Richtung müsste mehr oder minder frontal gegen die stark befestigten Verkehrsknotenpunkte geführt werden – wie es schon im Herbst des Vorjahres der Fall gewesen ist. Für den Angreifer ein schwerer Nachteil, für die Verteidiger ein glücklicher Umstand. Und in der Kunst der Geländeausnutzung, allen voran in der Defensive, gilt der Russe als Meister. Zumal die vergleichsweise günstigen Voraussetzungen von 1941 längst nicht mehr gegeben sind. Das sollen die begrenzten Angriffe der Heeresgruppe Mitte im Frühling und Sommer 1942 noch exemplarisch unter Beweis stellen. Statt blitzartiger Vorstöße entwickelt sich daraus vielerorts ein zähes, verlustreiches Durchfressen, bedingt durch das unübersichtliche Gelände und den hartnäckigen Feindwiderstand. Kein Zweifel, die Rote Armee gewinnt langsam, aber sicher an Kampfkraft, während die Leistungsfähigkeit der Wehrmacht ihren Höhepunkt bereits 1941 überschritten hat. Die 150 bis 200 Kilometer nach Moskau wären jedenfalls für die Heeresgruppe Mitte verdammt lang und blutig geworden! Will man wieder den Kreml ins Auge fassen, so bietet sich dafür schon eher ein tiefer Flankenstoß durch den Nordflügel der Heeresgruppe Süd an.