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Pearls of Bulgarian Folklore
„Abramkin soll Essen holen.“
„Ist Abramkin noch nicht vom Leitungsflicken zurück?“
Eines Tages greift ein Stoßtrupp des I. Bataillons/Infanterieregiment 380 nach einem Feuerüberfall der Artillerie den vordersten Feindgraben an. Der Gegner wird durch den blitzartigen Vorstoß überrascht. Nach dem Einbruch in die Feindstellung schleppen die Landser einen schwerverwundeten Rotarmisten zurück. Der Mann ist von einem Granatsplitter getroffen worden. Diesen Gefangenen kann man weder verhören noch ihm helfen. Als er gestorben ist, findet der Sanitäter in der blutverschmierten Uniformtasche ein Soldbuch, das Aufschluss über die Identität des Gefallenen gibt: Abramkin, Fedor, Jahrgang 1919, geboren im Bezirk Tula. Und gefallen beim Leitungsflicken vor Leningrad. Die Mehrzahl der Toten bleibt allerdings anonym – ein vernichteter „Bolschewist“ oder „Faschist“ mehr. Aber hinter jedem toten Gegner steckt ein Gesicht, ein Mensch. Vielleicht sogar ein feiner Kerl wie dieser Fedor Abramkin, den seine Kameraden bitter vermissen werden.
Der Kessel von Demjansk
Fährt man mit dem Finger auf der großen Lagekarte nach Süden, gelangt man vom Oranienbaumer Kessel im westlichen Vorfeld von Leningrad über die lange Wolchowfront bis zum Nordufer des Ladogasees. Am Südufer schließt sich der Kampfraum Staraja Russa-Demjansk an. Bis zum Frühjahr ist der sowjetische Ring um das deutsche II. Armeekorps zwar aufgebrochen, der Kessel rund um die beherrschenden Waldai-Höhen aber nicht von den Truppen der 16. Armee geräumt worden.
Man muss kein Generalstabsoffizier sein, um angesichts der Frontlage und Kräfteverteilung die Absichten der Kombattanten richtig zu beurteilen. Während die Russen den nur wenige Kilometer breiten Verbindungsschlauch wieder kappen wollen, trachten die Deutschen nach einer Verbreiterung ebendieser dünnen Versorgungsbasis. Darüber hinaus träumt der zunehmend wirklichkeitsfremde Führer allerdings noch von einer Großoffensive aus dem südlich gelegenen Raum Ostaschkow. Von hier aus soll der Nordflügel der benachbarten Heeresgruppe Mitte, die 3. Panzerarmee, antreten. Treffpunkt: Waldai-Höhen. Damit soll die große Frontlücke zwischen Demjansk und Rshew angriffsweise geschlossen werden. Im Erfolgsfalle wäre der Gegner zwischen den inneren Flügeln der Heeresgruppen Nord und Mitte abgeschnitten. Und wenn die Führungsstäbe beider Seiten viel planen, bedeutet das wenig Ruhe für die Fritzen und Iwans in der HKL.
So kommt die Front auch im Abschnitt der 290. Infanteriedivision, die den Nordrand des Schlauchs nach Demjansk zuhält, nicht zur Ruhe. Der Sommer 1942 bringt einen regenreichen Juli und damit stark verschlammtes Gelände. Teils sind die Stellungen von Freund und Feind eng verzahnt, was zusätzlichen Stress bedeutet. Oberleutnant Franz Silzner59 vom III. Bataillon/Infanterieregiment 501, berichtet:
„Unsere Gräben wurden von den Russen immer wieder zusammengeschossen, wir konnten nur tief gebückt nach vorn oder in ihnen entlang weiter kriechen. Oftmals waren die Stellungen beider Seiten nur 30 bis 40 Meter entfernt. Das war für beide Seiten die Handgranaten-Wurfweite, und der Iwan war an jedem Tag zwei- bis dreimal in unserem Graben, während wir im Gegenzug das Gleiche taten.“
Einer dieser Gegenstöße soll die Lage nachhaltig verbessern. Kleine Gruppen in Stärke von drei bis vier Mann, die sich besonders auf das präzise Werfen von Handgranaten verstehen, überwinden im Laufschritt das Niemandsland. Feuerschutz geben Maschinengewehre, die flach über die feindlichen Gräben hinweg schießen. Inzwischen haben die Nahkampf-Experten die vorderste Russenstellung erreicht. Gewandt lassen sie sich über den Grabenrand rollen und robben auf der Sohle weiter. Die Stoßtrupps werfen Serien von Handgranaten und bewegen sich im Takt der Explosionen vorwärts. Der verwirrte Gegner wird weich, weicht zum Teil zurück. Aber wer sich über den Grabenrand erhebt, den packt das Dauerfeuer der deutschen MG. Und jene Rotarmisten, die sich hinter der nächsten Grabenkreuzung weiter zur Wehr setzen, werden schließlich mit MPi und Pistole niedergemacht.
Der Gegenstoß führt zu einem vollen Erfolg. Allerdings mit gewissen Nebenwirkungen. Viele Gefallene können nicht unter die Erde gebracht werden. Oberleutnant Silzner und seine Kameraden rümpfen in den nächsten Tagen die Nase, denn „der Leichengestank war derart penetrant, daß wir keinen Bissen mehr essen konnten und herausgezogen werden mußten.“
Erschwerend kommt hinzu, dass der Artilleriebeschuss die bereits bestatteten Toten wieder freilegt. Besonders gefürchtet unter den Landsern sind die 15,2-Zentimeter-Granaten. Die gut 50 Kilo schweren Geschosse der Haubitze 193860 werden auch „Schwarzer Iwan“ genannt, weil sie nach dem Einschlag ganz schwarzgebrannte Krater hinterlassen. Verschiedentlich wird das Kaliber des Geschützes falsch angegeben, nämlich mit 17,2 Zentimeter. Nach dem Beschuss müssen die alten und neuen Toten begraben werden. Je mehr Leichen daliegen, desto flacher fallen die Löcher aus. Sind es zu viele, rollt man die Toten in Bombenkrater. Dann Sumpferde drauf und Birkenkreuze drüber.
Herbert Brunnegger61, Angehöriger der SS-Totenkopf-Division erlebt in dieser „Totenstellung“ auch Kriegsverbrechen der eigenen Leute. Er wird Zeuge, wie ein Kamerad einen schwerverwundeten Rotarmisten in einem vorgelagerten Bombentrichter erschießt. Der Schütze, der seinen Karabiner mit Explosivgeschossen geladen hat, kommentiert seine mörderische Tat in einer völlig verrohten Art:
„Enorm, die Wirkung der B-Munition! Der Schädel in tausend Fetzen!“
Brunnegger muss auch die Folgen eines Feuerüberalls auf eine bespannte Artillerieeinheit der Russen mit ansehen. Der 18-jährige Sturmmann gelangt an einen Waldrand und erkennt „die grauenhafte Wirkung unserer Waffen. Der Anblick der herumliegenden, zerfetzten Menschen- und Pferdeleiber, aus denen es noch dampft, würgt mich zum Erbrechen.“
*
Etwas entspannt hat sich im Laufe des Jahres 1942 vielerorts das Verhältnis zwischen der deutschen Besatzungsmacht und nicht geringen Teilen der russischen Zivilbevölkerung. Dazu tragen sicher auch der Stellungskrieg und die warme Jahreszeit bei. Zwei Faktoren, die sich günstig auf ein halbwegs gedeihliches Zusammenleben auswirken. Das gilt zumindest für den frontnahen Bereich. Dass dahinter weiterhin ein brutaler Vernichtungskampf gegen echte und vermeintliche Todfeinde, Partisanen und Juden, tobt, ist kein Widerspruch dazu. Im Abschnitt der 5. Jägerdivision erhalten einzelne Bauern unter deutscher Regie Land von der Kolchose plus Erntehilfe zugeteilt.
Zwar sind aus den Besetzern längst noch keine Befreier geworden. Aber die Ergebnisse einer verbesserten Besatzungspolitik im zweiten Kriegsjahr sind nicht zu übersehen. Ebenso wenig wie die intimen Kontakte der deutschen Soldaten zu den sowjetischen Frauen. Darunter beileibe nicht nur unfreiwillige. Es gibt viele Zeugnisse der „Liebe im Vernichtungskrieg“, vor allem im deutschfreundlichen Baltikum und in der Ukraine. Die Folgen tragen die Frauen (aus). Nach der Eroberung Charkows durch die Rote Armee im Februar 1943 erschießen Geheimdiensttruppen des NKWD 4.000 Einwohner, vermeintliche Kollaborateure, „darunter auch Mädchen, die sich mit den deutschen Soldaten eingelassen hatten, besonders aber, wenn sie schwanger waren.“62
Auf der Gegenseite hat sich mancherorts der russische Ersatz verschlechtert. Bei der 5. Jägerdivision ergeben Verhöre, dass viele der Überläufer im Alter zwischen 16 und 50 Jahren nur eine sehr kurze Ausbildung absolviert haben. Kanonenfutter für eine rohe Armee, die so verschwenderisch mit eigenem Blut umgeht wie keine zweite in der Kriegsgeschichte. Aber trotz der ungeheuerlichen Verluste scheint das Reservoir an wehrfähigen Männern (und Frauen!) unerschöpflich. In Puncto Kopfstärke bleibt die Rote Armee der Wehrmacht drückend überlegen, besonders an den Nebenfronten der Heeresgruppen Nord und Mitte.
Zu der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes kommen die Unbilden der Natur. Das Gelände im Kampfraum Demjansk bleibt sumpfig, und die warme Jahreszeit produziert Massen an stechwütigen Mücken. Das Leben wird zur Qual. Zumal die Hauptkampflinie oft nur 20, 30 Meter Sicht bietet und lediglich über kilometerlange Knüppeldämme mit dem Hinterland verbunden ist. Das Vegetieren in feuchten, verrauchten Erdbunkern, mangelhafte Hygiene und Versorgung sowie Läuse, Juckreiz, Ausschläge, Durchfälle, Fieber zehren an den Kräften und Nerven. So bereitet auch eine Nebenfront den Soldaten beider Seiten schlimmen Dauerstress.
Die Ruhe weg scheinen allerdings die dänischen Waffenbrüder des „Freikorps Danmark“63, einem Freiwilligenverband der Waffen-SS in Bataillonsstärke, zu haben. Mancherorts baden die lebensfrohen Skandinavier in wassergefüllten Bombentrichtern. Jedenfalls sind die Dänen nicht so lebensmüde, den Verheißungen der Russen zu folgen, wonach Überläufer angeblich „gutes Essen, weiße Betten, Wein und Frauen“ bekämen. Lieber kämpfen die „Wikinger“ um ihre Freiheit, statt sich ausgerechnet in die zu Recht gefürchtete sowjetische Kriegsgefangenschaft zu ergeben. Zumal die Lage aus damaliger Sicht noch recht hoffnungsvoll scheint.
Das am 8. Mai mit über 1.000 Soldaten in die Kesselschlacht von Demjansk gezogene „Freikorps Danmark“ zählt Ende Juli noch eine Grabenstärke von etwa 300 Mann. Viele Kameraden liegen in russischer Erde begraben. Vergessene Tote. Die Gedenkstätte für die Gefallenen in Hoevelte wird 1945 von dänischen Widerstandskämpfern gesprengt. Toten Landsleuten, die auf der falschen Seite für eine ungerechte Sache ihre jungen Leben geopfert haben, verzeiht man zu dieser Zeit nicht. Selbst tolerante Dänen wollen kompromisslose Zeichen setzen – und das Mitmachen vergessen machen. Mit Donnerknall gegen ein Ehrenmal.64 Und Schimpf und Schande, Tritte und Schläge und mehr für die überlebenden Ostfrontkämpfer nach ihrer Heimkehr.
Von einer anstrengenden Fahrt wieder in Porchow zurück, nimmt der beratende Chirurg der 16. Armee, Professor Dr. Hans Killian65, ein Bad im kühlen, kaffeebraunen Wasser des Schelon-Flusses. Der Freiburger, Jahrgang 1892, empfindet den Rhythmus der Natur dieser Tage als „geradezu hektisch“. Der kurze Sommer in Nordrussland läuft ab wie in einem Zeitraffer. Grüne Hetze. Als fühle die frische Sommerblüte schon wieder die nahe Herbstkühle.
Keine Scheu vor den Blicken des in der Sonne liegenden Professors zeigen drei junge Russinnen, die sich am gegenüberliegenden Ufer entblößen. Die Nackedeis scheinen nicht die geringste Scham zu empfinden. Für Killian ist es, inmitten des nicht enden wollenden Kriegselends, „ein paradiesischer Anblick und ein in seiner Naivität entzückendes Bild […] wie Paris am Schelon“.
Mit den paradiesischen Anblicken soll es schon bald wieder ein Ende haben. Zumal in den Stäben der 16. Armee das Unternehmen „Winkelried“ vorbereitet wird. Die Operation sieht vor, die Landbrücke zum II. Armeekorps im Kessel von Demjansk nach Süden zu verbreitern. Am 27. September beginnt der sorgfältig geplante Angriff. Wie eine chronische Krankheit mit immer wiederkehrenden Symptomen: Trommelfeuer, Luftbombardement, Sturmangriff – und im Anfangs- wie im Endstadium für zahlreiche Betroffene tödlich verlaufend.
Nachdem sich der Frühnebel verzogen hat, herrscht sonniges Spätsommerwetter. Im Tagebuch der 126. Infanteriedivision66 heißt es, dass der Feind an der Ssosna „einzeln in den Löchern getötet werden [musste]; selbst Schwerverwundete schossen bis zum letzten Atemzug.“ Der 19-jährige Helmut Nosbüsch67, Schütze 4 an einem schweren Maschinengewehr (sMG) in der 4. Kompanie/Infanterieregiment 422, macht den Angriff im Südteil des Schlauches mit. Vor dem Antreten ist Glühwein ausgegeben worden. Jetzt teilt der Feind, dessen Stellungen trotz des Luftbombardements durch Stukas und Me 109 größtenteils intakt geblieben sind, aus, und zwar mit grausamer Rohheit, wie Nosbüsch zu berichten weiß:
„Vor einem Erdbunker fanden wir einen deutschen Spähtrupp, tot, nebeneinander liegend mit durchgeschnittenen Kehlen; ein grausiger Anblick […] Wir hatten Kalmücken, Tataren und sibirische Sträflingsbataillone vor uns. Es waren die brutalsten russischen Einheiten, mit denen wir es zu tun hatten. Es gab kein Pardon, vorübergehend wurden keine Gefangenen gemacht.“
Abends meldet Generalleutnant Laux, Kommandeur der 126. Infanteriedivision, 70 Gefallene und 465 Verwundete in den eigenen Reihen. Ein hoher Preis für ein paar Meter Sumpf mehr.
Leichter voran kommt die rechts anschließende 5. Jägerdivision. Aber auch Generalleutnant Allmendingers Einheiten müssen örtlich erbitterten Widerstand brechen. Leutnant von Falkenhayn68, Kompaniechef im Regiment 54, erleidet bei den teils im Nahkampf geführten Gefechten Schuss- und Bissverletzungen!
Neben dem zähen Gegner bereitet den Angreifern das unübersichtliche Gelände, das durch Wald, Moor und Heide geprägt ist, Schwierigkeiten. Nichtsdestotrotz gelingt es, die Landbrücke bis zum 11. Oktober von vier auf zwölf Kilometer nach Süden hin zu verbreitern. Die dünne Nabelschnur zum II. Armeekorps ist etwas dicker geworden. Mit diesem Erfolg sind überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen, den Kessel von Demjansk ausreichend versorgen zu können, um für den mit Sicherheit zu erwartenden nächsten Großangriff der sowjetischen Nordwestfront einigermaßen gerüstet zu sein.
Man muss bedenken, dass schon der Bedarf einer einzigen Division riesengroß ist, und zwar nicht nur an Munition. Allein die 12. Infanteriedivision69 hat im ersten Halbjahr des Ostkrieges 8.110 Tonnen Verpflegung verbraucht. Das bedeutete einen durchschnittlichen Tagesbedarf von 66 Tonnen für das Jahr 1941. Die Bäckereikompanie der Division buk zwischen dem 22. Juni und 31. Dezember über zwei Millionen Brote. Und die Schlachtereikompanie zerwirkte 3.344 Rinder, 1.568 Schweine und 190 Hammel. An Zigaretten sind 1941 über 15 Millionen Stück, an Alkohol fast 100.000 Liter ausgegeben worden. Demzufolge rauchte jeder Divisionsangehörige in den ersten sechs Monaten des Russlandfeldzuges statistisch gesehen 750 Zigaretten. Also im Schnitt vier Glimmstängel pro Tag. Wenn er denn Raucher war; andernfalls tauschte er seine Zigarettenration ein, zum Beispiel gegen Verpflegung. Was den Alkohol betrifft, ergab sich für die genannte Zeitspanne ein durchschnittlicher Konsum von insgesamt fünf Litern. Daraus errechnet sich ein Tagesmittel von gut 25 Millilitern oder, anders ausgedrückt, ein Gläschen Schnaps.
Das Unternehmen „Winkelried“, auch „Michael“ genannt, bezahlen die deutschen Angreifer mit 415 Toten und 1.875 Verwundeten. Die Verluste der russischen Verteidiger werden auf 10.000 (!) Gefallene geschätzt. Dazu kommen Zigtausende Verwundete. Als Gefangene werden 3.178 Rotarmisten eingebracht.70
Um die Verwundeten beider Seiten müht sich der Stabsarzt Werner Forßmann71 nach Kräften. Als ihm zwei schwer getroffene Rotarmisten, die zehn beziehungsweise 15 Kilometer Fußmarsch hinter sich gebracht haben, vorgeführt werden, sieht der Chirurg nur geringe Überlebenschancen. Beiden ist die Bauchdecke aufgerissen, und sie halten ihre ausgetretenen Därme in einem Tuch. Ein Wunder und zugleich ein Beleg für die Härte der Iwans, dass sie es überhaupt bis zum Hauptverbandsplatz geschafft haben. Forßmann steht unter Zeitdruck, reinigt und vernäht notdürftig die Schlingen. Dann stopft er die Därme zurück in die Bauchhöhlen und schließt die Wunden. Als er sich ein paar Tage später nach den beiden Patienten erkundigt, bekommt er von seinem Feldwebel die überraschende Antwort:
„Verdauung normal. Appetit gut.“
Der Fleischwolf von Rshew – Sommerschlacht 42
Südlich vom Demjansker Kessel liegt der Frontbogen Rshew. Jener berüchtigte Kriegsschauplatz am Nordflügel der Heeresgruppe Mitte, der 15 Monate lang, vom Dezember 1941 bis zum März 1943, schwer umkämpft bleiben soll. Rshew, Eckpfeiler am Oberlauf der Wolga und nur 200 Kilometer nordwestlich von Moskau gelegen, bildet eine permanente Bedrohung für die sowjetische Hauptstadt. Wenngleich auch mehr vom psychologischen Standpunkt aus gesehen als unter militärischen Gesichtspunkten betrachtet. Denn tatsächlich sind die deutschen Kräfte im Frontbogen Rshew, die 9. und Teile der 4. Armee, kaum stark genug, um ihre vorgeschobene Bastion an der Wolga zu halten geschweige denn um anzugreifen. Letztlich wird der vor dem Krieg gut 50.000 Einwohner zählenden Stadt ihre strategisch bedeutsame Lage zum Verhängnis.
Schon bald mehren sich die Anzeichen eines sowjetischen Großangriffs. Dann ist es soweit: Am 30. Juli eröffnet Konjews Kalininfront die Sommerschlacht bei Rshew. Der Generaloberst appelliert an die Rotarmisten seiner Heeresgruppe:
„Ich befehle, die Stadt Rshew zu nehmen! Vorwärts tapfere Soldaten! Gebt dem Lande die alte Stadt Rshew wieder! Tapfer voraus auf Rshew!“
Die 29. und 30. Sowjetarmee berennen die exponierten Stellungen der 9. Armee nördlich und nordöstlich der Stadt. Am 4. August schließt sich Schukows südlich benachbarte Westfront der Offensive an. Dabei schreckt der energische Stratege nicht vor brutalen Maßnahmen gegenüber seinen Soldaten zurück. Hinter der ersten Welle der angreifenden Rotarmisten rollen mitunter Panzer, die Befehl haben, auf die eigenen Leute zu feuern, falls diese nicht energisch genug vor- oder sogar zurückgehen. An den Schwerpunkten greifen die Divisionen auf ein bis zwei Kilometer Frontbreite massiert an. Starke Unterstützung für die Schützen liefert das Trommelfeuer der Artillerie, die nach Tausenden Rohren zählt. Die deutschen Verbände im Schwerpunkt des Angriffs zählen bis zu 9.000 Einschläge pro Tag.
In den Gräben und Stäben ahnt man schon bald: Bei dieser russischen Großoffensive handelt es sich nicht allein um ein Ablenkungsmanöver, das deutsche Kräfte im Zentrum der Ostfront binden und einen Abzug von Verstärkungen für die vorstürmenden deutschen Südarmeen verhindern soll. Vielmehr plant das sowjetische Oberkommando STAWKA, Feldmarschall Kluges Heeresgruppe Mitte aufzuspalten. Die Schlüsselpositionen Rshew und Sytschewka sollen endlich genommen werden, um den deutschen Frontvorsprung zu liquidieren. Darüber hinaus wird die Eroberung von Wjasma und Smolensk, zwei große Etappenstädte im Bereich der Heeresgruppe Mitte, ins Auge gefasst. Aus gutem Grund betraut Stalin Armeegeneral Schukow, den „Retter von Moskau“, mit dieser groß angelegten Operation, die das Zentrum der deutschen Ostfront zertrümmern soll.
Für die 9. Armee ist es von Beginn an ein verzweifelter Überlebenskampf. Die Nordfront gerät mächtig ins Wanken. An der Nahtstelle zwischen der 87. und 256. Infanteriedivision bricht der Russe tief ein. Rshew und die Wolgabrücken in der Stadt, die für die Versorgung des Brückenkopfs auf dem Nordufer des Stroms lebensnotwendig sind, werden indes durch die 6. Infanteriedivision gesichert. Das befehlsführende VI. Armeekorps versucht verzweifelt, den täglichen Massenangriffen der Sowjets Herr zu werden. Während Konjews Verbände die Wolgafront der 9. Armee unter Druck setzen, stürmen Schukows Stoßtruppen südlich von Rshew gegen die deutschen Linien zwischen Subzow und Karmanowo. Die 31. Sowjetarmee überrennt die 161. Infanteriedivision. Im Raum Karmanowo trägt das XXXXVI. Panzerkorps die Hauptlast der Kämpfe. Zwar kann die Westfront Subzow nehmen, aber der entscheidende Durchbruch auf den Eisenbahnknotenpunkt Sytschewka bleibt Schukows Armeen versagt.
Nicht zuletzt bremst das von Mischwäldern und Sümpfen durchzogene Kampfgelände das russische Vormarschtempo. Zudem erzeugen starke Regengüsse schlammige Wege, auf denen sich kaum noch ein Rad dreht. Vor allem aber sind während des monatelangen Stellungskriegs starke deutsche Stützpunkte, Bunker und Feldbefestigungen entstanden. Entsprechend schwer sind die Verteidiger zu überwinden, schnelle Durchbrüche kaum zu erzwingen. Unzählige Rotarmisten fallen dem heftigen Abwehrfeuer zum Opfer. Im Abschnitt der 5. Jägerdivision hört man nachts die russischen Verwundeten im Niemandsland stöhnen. Bald liegt ekelhafter Verwesungsgeruch über dem Kampfgebiet, das die 9. Armee trotz örtlich tiefer Einbrüche eines zahlenmäßig erdrückend überlegenen Angreifers vorerst behaupten kann.
Auf der Gegenseite erlebt Leutnant Peter Michin72 seine Feuertaufe. Beim Erkunden einer günstigen Stellung für die Geschütze seiner Einheit gerät der junge Offizier in einen deutschen Artillerieüberfall. Der Russe nimmt „auf einer Wiese mit schönen Blumen“ volle Deckung, schließt die Augen und betet um sein Leben:
„Als ich später aufstand, sehe ich, daß Gras durch mir unbekannte Säcke wächst. Ich habe einen Sack mit der Hand an mich gezogen. Und welch‘ ein Erschrecken: Das waren keine Säcke, sondern Soldatenmäntel. Sie waren grau. Mäntel von unseren sowjetischen Soldaten. In ihnen waren die Überreste der Leichen. Die Körper waren schon trocken, zusammengeschrumpft und schwarz. Entsetzen ergriff mich. Ohne nachzudenken, lief ich in ein nahegelegenes Gebüsch.“
Im Wolga-Brückenkopf Rshew-Subzow ist die 14. motorisierte Infanteriedivision, kurz: I.D. (mot.), eingesetzt. Darunter Helmut Martin73, der wechselweise als Richtschütze und Geschützführer an einer Panzerabwehrkanone (Pak) fungiert. Der durchtrainierte junge Mann mit den schwarzen Haaren erlebt düstere Wochen in Erdlöchern. Tagsüber kann kein Mensch den Kopf aus der Deckung nehmen. Jede Bewegung wird sofort mit Beschuss quittiert. Martin sieht, wie eine He 111 von den Bomben einer höher fliegenden eigenen Maschine getroffen wird. Das Flugzeug verschwindet vom Himmel – „als ein riesiger Feuerball“.
Zu den Dramen in der Luft kommt das Unglück am Boden. Hilflos muss der 20-jährige Sachse mit ansehen, wie vor seinen Augen der Kamerad Thomas, dem ein Granatsplitter die Brust aufgerissen hat, verblutet. Kurz vor der Einschlagserie sagte der Getroffene noch:
„Am besten, man kriegt eins ins Kreuze, da hat man wenigstens Ruhe!“
Seit dem 10. September spürt Thomas „nichts mehr von dieser elenden Scheiße“, wie er die Hölle bei Rshew kurz vor seinem Tod verfluchte. Die überlebenden Kameraden müssen weiterhin ihre Notdurft in leeren Konservenbüchsen verrichten, da die Vorderhangstellung der Panzerabwehrkompanie am Wolgaufer vom Feind eingesehen wird. Nach verrichtetem Geschäft wirft man die gefüllte Dose über den Rand des Deckungslochs. Das Elend in der HKL stinkt zum Himmel. Martins Kompanie zählt bereits 40 Gefallene. Die Stimmung erreicht einen neuen Tiefpunkt.
Ein Höhepunkt deutscher Waffenentechnik kommt in diesen Tagen bei der Panzerjägerabteilung der 14. I.D. (mot.) zum Einsatz: die Schwere Pak 41. Eine Panzerabwehrkanone, Kaliber 7,5 Zentimeter, mit überragender Durchschlagleistung. Die Mündungsgeschwindigkeit liegt bei 1.210 Metern pro Sekunde. Erreicht wird diese unerhört rasante V0 durch das konisch gezogene Rohr. Das heißt, es verjüngt sich von 7,5 auf 5,5 Zentimeter. Die durchs Rohre getriebenen, zusammengedrückten Granaten durchschlagen die Panzerung jedes sowjetischen Tanks schon ab 2.200 Metern Entfernung. Aus Mangel an Wolfram können allerdings nur zirka 150 Kanonen an die Front geliefert werden. Helmut Martin kann beobachten, wie ein T 34 von einer Schweren Pak 41 unter Beschuss genommen wird. Erst zerreißt „ein scharfer Knall die Luft“, dann ist „eine „kleine, stahlblaue Wolke“ am Turmdrehkranz des Tanks zu sehen – das Zeichen für einen Treffer.74
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Für gepanzerte Fahrzeuge droht auch vom Himmel her Gefahr. Schlachtflieger greifen massiv in die Bodenkämpfe ein. Um die Luftherrschaft über dem deutschen Frontvorsprung wird erbittert gerungen. Dabei erleiden vor allem die roten Falken schwerste Verluste. Allein die II. Gruppe/Jagdgeschwader 51 unter Hauptmann Grasser schießt über dem Wjasmabogen an einem einzigen Tag 46 russische Flugzeuge ab. Nichtsdestotrotz wiegen auch die deutschen Verluste schwer. Erstmals eingesetzte moderne rote Jäger, insbesondere die neue Lawotschkin La-5, erweisen sich der gefürchteten Me 109 als mindestens ebenbürtig. Die einmotorige, 1.850 PS starke Maschine erzielt eine Spitzengeschwindigkeit von 648 km/h. Dazu kommt die starke Bewaffnung mit einer 20-Millimeter-Kanone und zwei 12,7-Millimeter-MG, die dem 8,70 Meter langen Jagdeinsitzer eine beachtliche Feuerkraft verleihen.
Auf deutscher Seite trägt man den speziellen Erfordernissen der Ostfront durch Einführung der FW 190 Rechnung. Die bullige Focke Wulf mit dem Doppelsternmotor ist robuster als der elegante Messerschmidt-Jäger. Das Breitspurfahrwerk erlaubt Starts und Landungen selbst auf primitivsten Rollbahnen. Zudem erweist sich die FW 190 weniger empfindlich gegen Kälte und Beschuss. Und schließlich die überragende Feuerkraft in Form von vier 20-Millimeter-Rohren.