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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Einem so mächtigen Herrn und einem zumal, der sooft meine Arbeit gefördert und mir in ungezählten Stunden die Freuden der Geselligkeit erhöht, einen respektvollen Besuch abzustatten, hielt ich für meine gebotene Pflicht. Freilich um diesen Herrn und König in seiner Residenz aufzusuchen, muß man heute schon tiefer ins Land reisen als ehedem. Ursprünglich, als der Kaffee von den Portugiesen aus Afrika herübergebracht wurde – Heinrich Eduard Jacob hat die Sage dieser Weltwanderung in seinem Buche bezaubernd erzählt – lagen die Pflanzungen noch hart an der Küste. Die Täler um Santos und manche der herrlichen Parks von Tijuca, unmittelbar neben Rio de Janeiro, waren durch Jahrhunderte Kaffeeplantagen; von den Feldern wurden die Säcke auf dem Rücken der Neger geradenwegs zu den Schiffen gebracht. Aber in Jahrzehnten und Jahrhunderten, nachdem sie Milliarden und Abermilliarden dieser magischen Bohnen gezeugt und genährt, wurde die Erde dort allmählich müde, die Körner verloren an Größe, Kraft und Aroma. Achtzig Jahre, fast genau das patriarchalische Alter der Menschen, währt die Lebensdauer eines solchen Strauchs auf derselben Scholle. So verlegte man – an ungenütztem Boden hat Brasilien noch niemals Mangel gehabt – die Pflanzungen jeweils tiefer und tiefer hinein in das Land, von Santos nach São Paulo, wo die rote, kräftige Erde viermal soviel zeitigte als in Rio, von São Paulo nach Campinas, weiter und weiter und immer tiefer hinein. Also nun nach dem Kaffee, dorthin, wo er jetzt seine Heimat hat! Ihm nach von Rio de Janeiro eine zwölfstündige Nachtfahrt nach São Paulo, von dort wieder drei nach Campinas, dieser alten Kolonie der Jesuiten, und nun genügt Hier allein hat die Technik noch nichts erfunden, um den Menschen überflüssig zu machen; wie vor hunderten Jahren werden von der Hand der Pflücker die Beeren vom Strauche genommen, und vielleicht singen die Arbeiter dieselben monotonen Lieder zu denselben monotonen Bewegungen wie einst die schwarzen Sklaven. Dann werden die Bohnen, als wäre es Sand, auf Wagen und Lastautomobile gekarrt, in die Fazenda gebracht und hier dem König Kaffee einige vorgeschriebene Zeremonien erwiesen, als da sind eine gründliche Waschung und darauf eine Trocknung in der prallen Sonne; dann erst werden mit Schüttelmaschinen die Hülsen von dem eigentlichen Kern gelöst und die entschälten, gereinigten Bohnen dann über Leitungen und Siebe in die Säcke verstaut.

Damit ist (oder scheint) die Arbeit zu Ende. Es ist kein romantischer Prozeß, nicht anders etwa, als wenn man Erbsen aus der Schote nimmt und trocknen läßt, und nur eines war mir bei allen diesen Prozeduren auf dem Felde und in der Fazenda und in der Fabrik überraschend – die totale Abwesenheit jedes Aromas. Ich hatte gemeint, wenn man eine Kaffeepflanzung mit Tausenden Büschen durchschreitet, müßte man einen Duft von diesem aromatischsten aller Getränke spüren, einen feinen Duft, der dies weite Grünen umwebt und überschwebt, einen Duft, wie man ihn doch selbst bei einem Getreidefelde spürt oder in jedem Wald und Holzschlag. Aber sonderbar: der Kaffee ist vollkommen stumm, er verbirgt hartnäckig sein Aroma im innersten Kerne. All die geheimnisvollen Salze und Öle und Ingredienzen, die sich, sobald die Körner geröstet sind, so stark und würzig lösen, bleiben vordem völlig tot und stumm; man kann in den Magazinen bis zu den Knöcheln in Kaffeebohnen waten, und es duftet so wenig wie wenn man in trockenem Sand stapfte, nicht einen Augenblick wüßte man mit verbundenen Augen auf einer solchen Fazenda, ob die verschnürten Bündel und Säcke Baumwolle enthalten oder Kaffee oder Kakao; es war eine kleine Enttäuschung für mich, der ich hier von einem süßen, narkotischen Brodem träumte, zu sehen, wie die Tausende Säcke dieser köstlichen Nervenwürze tot und stumm und duftlos übereinandergeschichtet lagen, als wären sie Zement.

Und die zweite Überraschung dann in Santos, dem großen Verladehafen Brasiliens; ich hatte gemeint, daß die ganze Prozedur mit der Einfüllung des Kaffees in Säcke schon beendet sei. Nun sah ich dort in den großen Betrieben, daß die Arbeit noch einmal beginnt. Denn die Welt will nicht da und dort den gleichen Kaffee, die einen bevorzugen die großen, die anderen die kleineren Körner, so wie man auch in den Schlachthäusern Argentiniens sieht, daß die Fleischsorten nach dem verschiedenen Geschmack der einzelnen Länder fett oder mager, Großvieh oder Kleinvieh gleich an der Exportstelle sortiert werden. Noch einmal muß in Santos, diesem großen, glühenden Backofen am Meer, jede einzelne Kaffeebohne heraus aus ihrem Sack. Noch einmal werden sie zusammengeschüttet zu riesigen Massen, die dann ein Rohr der fleißigste Kaffeetrinker der Welt – mächtig ansaugt, die Masse wird Strom und läuft aufwärts und abwärts durch ein Gefäll von Sieben, so daß die größeren Sorten von den kleineren Körnern getrennt werden, an laufenden Bändern picken gleichzeitig flinke braune Frauenhände während des Vorbeiströmens die wertlosen, verkümmerten Körner heraus; so wird die Qualität in einzelne Qualitäten gesondert, die Kaffeevölker werden uniformiert und mit einzelnen Sortennamen bedacht, immer genau fünfzig Kilogramm einer und derselben Art schüttet die selbsttätig wägende und zählende Maschine in einen neuen Sack, der schon Nummer und Qualitätsmarke trägt, und während der eben noch offene und blitzschnell angefüllte Sack weitergestoßen wird auf dem rollenden Band, vernäht eine andere Maschine das obere Ende des Sackes. Nun erst, nach diesen raffinierten und supertechnischen Verteilungen ist der Kaffee wirklich reisefertig und kann auf den wartenden Schiffen in alle Zonen der Erde fahren.

Aber auch diese letzte Etappe der Reise vom Lagerhaus in das Schiff ist noch erstaunlich anzusehen. Denn nicht mehr wie in verschollenen Zeiten wird Sack für Sack auf einen sonngebräunten Menschenrücken geschwungen und über das Laufbrett an Deck getragen. Nicht wie wir es sonst in Häfen gewohnt sind, reichen Krane in elegant leichter Drehung vom Kai die gehäufte Ware in den Frachtraum des Schiffes hinab, sondern hier wird auf Schienen eine Brücke aus Stahl herangeführt und der Höhe des Bordes angepaßt. Diese Brücke trägt ein Paternosterwerk, einen fließenden Teppich, auf dem nun direkt aus der Tiefe ihres Lagerhauses die Säcke (weit bequemer als die Passagiere) an Bord befördert werden. Es ist schön anzusehen, dieses lautlose, stille, mechanische Fließen; Wie eine Lämmerherde auf einem schmalen Pfad Rücken hinter Rücken zu wandern genötigt ist, so zieht hintereinander stundenlang ein weißer Sack nach dem andern erst vom Lagerhaus empor und dann sacht wieder ins Schiff hinein, wobei man eigentlich erst erkennt (denn Zahlen selbst bleiben immer abstrakt), welche phantastische Quantitäten an Ware ein Schiffsbauch für eine zweiwöchige Reise in sich einzuschlucken vermag; und da hier Schiff an Schiff täglich wartend steht, ahnt man auch, welche ungeheuren Massen unsere kaffeetrinkerische Menschheit in jeder Stunde verbraucht.

Endlich hat das gefräßige Schiff genug Kaffee in sich geschluckt. Ein Pfiff, und das flirrende Laufband stoppt, ein, zwei Säcke gleiten, von der Geschwindigkeit noch weitergestoßen, saumselig den andern nach. Dann schrillt das Zeichen des Dampfers, die Turbinen wettern los, langsam löst man sich von dem Kaffeestrand. Noch leuchten die Häuser in der Sonne, noch heben sich schlank die Palmen, aber immer ferner schimmert das große Grün dieser tropischen Welt, und bald sieht man nur ungewiß die Hügel mehr und schon ist auch dieses letzte Grüßen entschwunden aus dem Königreich des Kaffees. Vorüber! Vorbei und schon Erinnerung! Aber doch, wenn man daheim eine Tasse trinkt dieses köstlichsten und kunstfreundlichsten aller Getränke, wird man in dem zarten Duft jedesmal wieder all das besinnen, die tropische Sonne, die ihm das heimliche Feuer in den innersten Kern getrieben, das lodernde Licht, in dem hier alle Dinge des Daseins glühen, und jeden Baum und jede Bucht dieser fremden Landschaft, die, solange man in ihr weilt, unwiderstehlich den Sinn zum Träumen erzieht und in der Ferne ein Heimweh weckt nach diesen Zonen der frei und mächtig und unerschöpflich schaffenden Natur.

Kapitel Sieben­und­dreißig

Besuch hei den versunkenen Goldstädten

Vila Rica und Vila Real, im achtzehnten Jahrhundert die reichsten und berühmtesten Städte Brasiliens, sind heute auf keiner Landkarte mehr zu finden. Die hunderttausend Menschen, die sie bevölkerten zu einer Zeit, da New York und Rio de Janeiro und Buenos Aires noch unbeträchtliche Siedlungen waren, sind zerstoben, und selbst die prunkreichen Namen längst von ihnen gefallen. Vila Rica, im Volksmund später als Vila Pobre verhöhnt, heißt heute Ouro Preto und ist nichts als ein romantisches Provinzstädtchen mit ein paar Dutzend holprigen Straßen. An der Stelle von Vila Real steht ein armes Dorf, das sich bescheiden in den Schatten der neuen Hauptstadt der Provinz Minas Gerais, des modernen Belo Horizonte drückt. Ihr Glanz und ihre Größe haben knapp ein Jahrhundert gewährt.

Dieser flüchtige Glanz von Reichtum und Gold, der damals die ganze Welt überflammte, war aus dem kleinen Flüßchen Rio das Velhas geholt und aus den Flanken der Berge, die ihn umschließen: es ist ein einmaliges Abenteuer, von Abenteurern begonnen. Zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts dringt zum erstenmal in diese unwirkliche, düstere Zone ein Trupp von bandeirantes, jener verwegenen Gesellen, die von São Paulo aus das ganze Land auf der Suche nach Sklaven und Erzen durchwandern; tagelang, wochenlang streifen sie durch die weglosen Schluchten, ohne eine Siedlung, ohne eine menschliche Spur zu finden. Aber sie lassen nicht ab, denn die Berge funkeln an den brüchigen Stellen von blankem Metall, und die Erde leuchtet dunkelrot wie gesättigt von geheimnisvollen Kräften. Endlich winkt ihnen das Glück: der kleine Fluß Rio das Velhas, der von Ouro Preto nach Mariana in seinem ungeduldigen Lauf die Kanten der Berge abschürft, rollt in seinem Sande Gold mit sich, reines, volles Gold, und vor allem viel Gold; man braucht den Sand nur in hölzernen Schüsseln zu fassen und zu schütteln, und es bleiben die kostbaren Körner zurück. Nirgends auf Erden liegt im achtzehnten Jahrhundert das Gold so reich, so flach, so offen zutage als hier im brasilianischen Bergland. Einer derbandeirantes bringt die erste Beute im ledernen Säckchen nach Rio de Janeiro – damals zwei Monate entfernt, heute sechzehn Eisenbahnstunden – ein anderer nach Bahia, und sofort beginnt ein Sturm in die Wildnis, nur jenem bei der Entdeckung der Goldgruben Kaliforniens vergleichbar. Die Pflanzer verlassen ihre Zuckerplantagen, die Soldaten ihre Kasematten, die Priester ihre Kirchen, die Matrosen ihre Schiffe; auf Booten und Mauleseln und Pferden und zu Fuß drängt eine riesige Rotte heran und peitscht ihre schwarzen Sklaven mit; bald kommt der erste, der zweite, der dritte Zuzug aus Portugal, und allmählich sammeln sich solche Massen, daß eine Hungersnot auszubrechen droht in dieser Einöde ohne Viehzucht und ohne Vegetation. Ein wüstes Treiben hebt an, denn noch ist keine Autorität zur Stelle, das Gesetz zu verteidigen; leider fehlt uns der richtige literarische Augenzeuge, der brasilianische Bret Harte, um das Phantastische dieses ersten wildesten Tumults zu schildern, aber er muß ohnegleichen gewesen sein. Die paulistas, die ersten Entdecker, kämpfen gegen die emboabas, die fremden Eindringlinge. Nach ihrer Auffassung gehört ihnen das Gold allein als Lohn für die unzähligen Expeditionen, die ihre Väter, ihre Brüder vergeblich von São Paulo aus unternommen. Sie werden besiegt, aber das schafft keinen Frieden. Wo Gold ist, herrscht Gewalt. Mord, Raub, Diebstahl mehren sich von Stunde zu Stunde, und verzweifelt ruft der Priester Antonil in seinem ersten Bericht (1708) aus: »Kein vernünftiger Mensch kann einen Zweifel hegen, daß Gott in den Minen nur darum so viel Gold entdecken ließ, um damit Brasilien zu strafen.«

Zehn Jahre und mehr herrscht in diesem verlassenen Gebirgstal ein vollkommenes Chaos. Endlich greift die portugiesische Regierung ein, um sich selbst ihren Anteil an dem Gold zu sichern, das diese zuchtlosen Abenteuerer entweder verschwenden oder auf Schleichwegen aus dem Lande schaffen. Ein Gouverneur, der Conde de Assumar, wird über die neue capitania eingesetzt und rückt mit Fußtruppen und Dragonern an, um die Autorität der Krone zu wahren. Eine seiner ersten Maßnahmen ist, daß, um eine genaue Kontrolle zu sichern, kein Staubkorn Gold mehr aus der Provinz geschafft werden darf. Alles Gold muß zunächst an das Schmelzhaus, das er 1719 errichtet, abgeliefert werden, in dem die Regierung gleichzeitig den ihr gesetzlich zustehenden Anteil – ein Fünftel alles gefundenen Goldes – sofort in Abzug bringen kann. Aber den Goldgräbern ist jede Art Kontrolle verhaßt. Was kümmert sie in ihrer Wildnis der König von Portugal? Unter Führung Filipe dos Santos rotten sich zweitausend Männer, die ganze weiße oder halbweiße Bevölkerung von Vila Rica, zusammen und bedrohen den Gouverneur, der – von der unvermuteten Revolte völlig überrascht – den Aufrührern in einem aufgenötigten Vertrag alle Forderungen bewilligt. Aber heimlich zieht er zugleich seine Truppen zusammen und überfällt nun seinerseits die Aufständischen nachts in ihren Häusern. Der Aufrührer wird gevierteilt, ein Teil der Ortschaft niedergebrannt und von nun ab mit den strengsten und sogar grausamsten Methoden Ordnung in Minas Gerais erzwungen. Langsam beginnen sich inmitten des arbeitenden, schöpfenden, tragenden, schüttelnden Ameisenhaufens von Sklaven und Goldwäschern aus erbärmlichen Lehmhütten und flüchtig gezimmerten Zelten die Konturen einer wirklichen Stadt abzuzeichnen. Um den Palast des Gouverneurs, das Schmelzhaus und das nicht minder zur geordneten Verwaltung wichtige Gefängnis ordnen sich steinerne Häuser, enge Straßen umschließen den Hauptplatz; allmählich erheben sich die Kirchen, und zugleich mit dem unermeßlichen Reichtum, der von den Fünfzig- und sogar Hunderttausenden robotenden Sklaven aus der Erde geschüttelt und gegraben wird, hält ein absurder Luxus Einzug in diese Städte – ein frenetischer, kindischer Luxus, der im grotesken Gegensatz zur Abseitigkeit und Weltverlassenheit dieses öden Gebirgstals steht. In Vila Rica und Vila Real und Vila Albuquerque wird im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts allein mehr Gold gewonnen als in ganz Amerika einschließlich des viel berühmteren Mexiko und Peru. Aber innerhalb dieser Wildnis ist für Gold wenig zu kaufen; gierig stürzen sich die unseligen Narren des Goldes darum auf jeden pompösen Tand, den die Händler mit hundertfachem Gewinn in diese unzugänglichen Bergtäler herankarren. Abenteurer, die gestern noch Bettler waren, stolzieren in grellen samtenen Gewändern, prahlen mit seidenen Strümpfen und zahlen für eine eingelegte Pistole zwanzigfach mit Dukaten, was dieselbe Ware in Bahia in Silbermünzen wert ist; eine hübsche Mulattin kostet mehr als am Hof des französischen Königs die teuerste Courtisane. Alle Berechnungen, alle Maße werden durch die Fülle des allzu leicht geförderten Metalls hier absurd; schmutzige Gesellen verspielen mit Würfeln und Karten in einer Nacht Beträge, mit denen man in Europa die kostbarsten Gemälde eines Raphael und Rubens erwerben könnte oder ganze Schiffe ausrüsten und die wundervollsten Paläste erbauen. Aber am liebsten kaufen sie, längst zu vornehm, selbst einen Spaten in die Hand zu nehmen, für ihr Gold Sklaven und Sklaven, damit sie ihnen mehr und mehr Gold scheffeln. Der Sklavenmarkt in Bahia kann gar nicht genug heranschaffen, die Boote können kaum all diese schwarze Fracht befördern. Und so wächst die Stadt von Jahr zu Jahr, schon sind die ganzen Hügel mit den Hausungen der schwarzen Arbeitstiere wie mit Termitennestern besät, schon verschönern sich die Häuser der Sklavenbesitzer und Goldausbeuter. Sie steigen sogar – Zeichen besonderen Reichtums – bis zu zwei Stockwerken und füllen sich mit Möbeln und Schmuck. Künstler kommen, durch den erträumten Verdienst angelockt, von den Küstenstädten, um Kirchen und Paläste zu errichten und die Brunnen mit Skulpturen zu schmücken. Ein paar Jahrzehnte noch solchen wirbelnden Aufstiegs, und Vila Rica muß die reichste, die schönste und volkreichste Stadt Amerikas werden.

Aber ebenso irrlichthaft, wie er aufgetaucht, verschwindet der trügerische Zauber. Das Gold des Rio das Velhas war nur Schwemmgold, Alluvialgold gewesen, und nach fünfzig Jahren ist die kostbare Oberfläche abgeschöpft. Um das tückische Metall aus der Tiefe der Felsen zu holen, von denen Jahrhunderte oder vielleicht Jahrtausende es in unsichtbarer Arbeit zu Sand zerrieben haben, fehlen diesen primitiven Goldwäschern die Kraft, das Werkzeug und vor allem die Geduld. Eine Zeitlang versuchen sie direkt in den Felsen Stollen zu treiben, um an das kostbare Metall zu gelangen, aber die Mühe bleibt vergeblich, und bald verläuft sich der nomadische Schwarm. Die Neger werden in die Zuckerplantagen zurückgetrieben, einzelne der Abenteurer machen sich in der »matta«, den tiefergelegenen, fruchtbaren Tälern seßhaft; nach ein oder zwei Jahrzehnten sind die Goldstädte verlassen. Die Lehmhütten, wo die Tausenden von Sklaven hausten, sinken spurlos in die Erde zurück, Wind und Regen verschwemmen die Strohdächer, die sie deckten, die Häuser der Stadt selbst verwahrlosen, und durch fast zwei Jahrhunderte wird kein neues mehr gebaut: wie in den Zeiten des Anfangs ist es wieder eine Mühe, zu diesen verschollenen, vergessenen Orten zu gelangen.

Bis zur gegenwärtigen Hauptstadt von Minas Gerais, der erst knapp in unserem Jahrhundert gegründeten Stadt, ist der Weg allerdings dank der modernen Technik leicht; ein Flugzeug schwingt einen in anderthalb Stunden von Rio de Janeiro zu dem Hochplateau von Minas Gerais hinüber, zu dem vordem die ersten bandeirantes zwei Monate wandern mußten und die Eisenbahn heute noch sechzehn Stunden benötigt. Diese neue Hauptstadt der Provinz, Belo Horizonte, ist – in Brasilien sind die eigenartigsten Varianten wie auf allen Gebieten auch auf dem des Städtebaus zu finden keine organisch gewachsene, sondern eine geplante, eine aus Willen, Überlegung und auf Jahrzehnte vorausblickender Berechnung geschaffene Stadt. Die ursprüngliche, die traditionelle Hauptstadt von Minas Gerais, das alte Vila Rica, das heute Ouro Preto heißt, zu modernisieren, hätte bedeutet, ein einzigartiges historisches Dokument brasilianischer Geschichte zu verderben; so entschloß sich die Regierung, lieber eine völlig neue Hauptstadt neben der alten zu konstruieren und zwar an der landschaftlich schönsten, geographisch wie klimatisch günstigsten Stelle. Ursprünglich sollte sie Cidade de Minas heißen, aber man zog vor, um ihres weiten Fernblicks willen – hier sieht man die schönsten Sonnenuntergänge Brasiliens – ihr den italienisch schönen Namen Belo Horizonte zu schenken. Aber längst vor der Namensgebung, längst ehe der erste Stein zur ersten Straße gelegt wurde, war diese Stadt in einem weit vorausblickenden Stadtplan völlig vorausmodelliert. Weder ihre Form noch ihre Entfaltung nichts sollte dem Zufall überlassen werden, jedem künftigen Wohnviertel war seine Bestimmung, jedem Straßenzug seine bestimmte Breite und Richtung von vornherein zugewiesen, und jedes öffentliche Gebäude mußte sich gleichzeitig prominent und doch harmonisch dem künftigen Stadtbild eingliedern; wie Washington ist Belo Horizonte das glückliche und vorbildliche Resultat einer freien, von keiner Vergangenheit gehemmten und nur der Zukunft entgegengewandten Planung. Mächtige Diagonalen schneiden den Kreis, in dem sich – regelmäßige Distanzen und Zwischenräume wahrend – die Stadt entfaltet hat und immer weiter entfalten wird, in sinnvoller und wohldurchdachter Ordnung ab. Im Zentrum liegen die Gebäude der öffentlichen Verwaltung beisammen, breite Gartenflächen führen die symmetrischen Straßenzüge allmählich ins Freie, und jeder Straßenzug ist abwechselnd nach den Städten, Landschaften, großen Persönlichkeiten Brasiliens benannt, so daß ein Spaziergang entlang der Peripherie zugleich einen systematischen Kurs heimischer Geschichte erteilt. Als Musterstadt von Anfang an gedacht, erfüllt Belo Horizonte diese Aufgabe durch vorbildliche Organisation und Sauberkeit; während man in den anderen Städten gerade von der Vielfalt der Kontraste, dem pittoresken Übereinander und Durcheinander verschiedener Zeit- und Kulturschichten bezaubert ist, überrascht einen hier die vollkommene und harmonische Einheitlichkeit. Eine durchaus schöne Stadt, weil aus einer Idee geboren, hat sich Belo Horizonte eine einzige Linienklarheit der Entwicklung bewahrt, und der Sinn dieser ihr eingebauten Idee: Hauptstadt einer Provinz zu sein, die selbst so groß ist wie ein europäisches Königreich, wird von Jahr zu Jahr offenbar; vor 1897 ein leeres, unbebautes Stück Landschaft, heute schon über 150 000 Einwohner zählend, ist sie um ihrer günstigen Lage und ihres vortrefflichen Klimas willen in raschem und dank des vorausschauenden Plans in durchaus harmonischem Wachstum. Wird erst die metalllurgische Ausbeutung dieser reichsten Provinz systematisch einsetzen und Minas Gerais seine Industriekraft entfalten, so ist trotz aller Vorberechnung nicht abzusehen, zu welcher Größe sie sich entwickeln kann: einer nächsten Generation wird jedenfalls dieser Name Belo Horizonte so vertraut sein wie der von Rio oder Sáo Paulo.

Von Belo Horizonte nach Ouro Preto, von der neuen zur alten Hauptstadt, heißt aus der Zukunft in die Vergangenheit reisen, aus dem Morgen wieder zurück in das Gestern. Die Straße schon, kaum man den guten Asphalt der Hauptstadt verläßt, beginnt einen sehr eindringlich an das Gestern zu mahnen, denn die rote, lehmige Erde wird bei Hitze zu einem staubigen Qualm, nach einem Regenguß zu einem zähen Brei; wie einstens ist es noch immer nicht ganz bequem, in die Goldwelt zu gelangen. Von dem hellen freundlichen Hochplateau von Belo Horizonte das Land weit überschauend, hatte man gemeint, hinter der schroffen Bergkette erstrecke sich ein weites, flaches, tropisches Land. Aber die Straße führt in unermüdlichen Biegungen und Wendungen, steigend und fallend, immer wieder durch Bergland; an manchen Stellen klimmt sie tausend und sogar vierzehnhundert Meter hoch zu ragenden Gipfeln, und dann überblickt man ein Panorama, das in seiner Großartigkeit nur der Schweiz vergleichbar ist: Hügel an Hügel in erstarrten riesigen Wellen, ein anderer grüner, unendlicher Ozean aus Stein und Wald. Stark und duftend fährt der Wind über diese Höhen dahin, und sein stilles Sausen ist der einzige Ton in dieser Einsamkeit. Kein Wagen auf dem Wege, kaum eine Hütte auf stundenlanger Fahrt, kein bestelltes Feld, kein Glockenruf, kein Vogelsang – immer nur der Urton des Anfangs in dieser leeren, unbeseelten Welt, die den Menschen noch nicht zu kennen scheint. Aber dennoch liegt in dieser einsamen, wildschönen Landschaft etwas, was die Phantasie merkwürdig irritiert; man spürt, daß hier in Erde und Stein und Fluß ein besonderes Geheimnis sich verbirgt. Ein merkwürdiges Leuchten geht von den Bruchstellen der Berge aus, ein Funkeln von Erz und Metall. Selbst ohne daß man es von Buch und Bildung wüßte, ahnt man an dem schillernden Glanz, daß diese Berge Erz in sich schließen, einen noch ungehobenen und kaum errechenbaren Reichtum an Metall. Denn schon die Straße selbst verrät ihn mit ihrem pulvrigen Lehm, der von Eisen so dunkelrot gesättigt ist, daß bereits nach kurzer Fahrt das Automobil purpurn leuchtet wie der feurige Wagen Elias'. Und es verrät ihn der Fluß, der Rio das Velhas, der schwer und satt den glitzernden Sand mit sich hinschwemmt; funkelnde Unterwelt voll kostbarer Quarze ist hier verborgen, und Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte wird es dauern, ehe sie sich aufschließt der menschlichen Ungeduld. Aber noch stört kein Spatenschlag, kein Maschinenrattern die Einsamkeit; hinauf, hinab geht der Weg durch das steinerne Gewinde, hinauf, hinab, und schon ist man derart gewöhnt an diese großartige Unbeseeltheit, daß man menschliche Siedlung erst wieder im Talland erwartet: hier oben, so meint man, lebt niemand und hat niemals ein Mensch gewohnt.

Da plötzlich an einer Kurve leuchtet etwas auf wie ein weißer Doppelblitz: die beiden hellen Türme einer schlanken schönen Kirche. Und man erschrickt fast vor diesem jähen Einbruch menschlicher Vollendung in diese harte strenge Einsamkeit. Aber da, am Nachbarhügel, ebenso leicht und schlank und weiß, eine zweite, eine dritte. Es sind die elf Kirchen, die die einstige mächtige Stadt Vila Rica beschirmten und nun das kleine schlafende Städtchen Ouro Preto. Sie bieten zuerst einen unwirklichen Eindruck, diese ragenden Kirchen, die frei und stolz ihre Schönheit in den Himmel heben, während unter ihnen etwas klein und ungewiß liegt wie ein vergessener oder weggeworfener Überrest – diese wie vom Vogel Greif des Märchens hierhergetragene Stadt, die plötzlich müde geworden war und, ausgeblutet von ihren Menschen, sich nicht mehr aus ihrer Erschöpfung aufrichten konnte. Nichts hat sich hier geändert, während in Rio de Janeiro, in São Paulo man jede Stunde ein neues Haus baut und sich sonst überall die Dimensionen mit tropischer Wachstumskraft ins Phantastische vermehren; auf dem Hauptplatz mit dem einstigen Palast des Gouverneurs, der über hunderttausend Menschen gebot, schatten ein paar Leute vorüber und verlieren sich in den engen holprigen Nebengassen, Maulesel traben genau wie zur Kolonialzeit in langen Zügen, einer hinter dem andern mit ihrer Last von Holz, in dunklen Stuben arbeitet der Schuster mit gleichem Pech und Draht und Werkzeug, wie sein Urahn als Sklave oder Sklavensohn es getan. Die Häuser scheinen so müde, daß man meint, sie lehnten sich nur so nah und nieder aneinander, um eines das andere zu stützen; ihr Verputz ist so alt und grau, so abgeblättert und zerfaltet wie ein Greisenantlitz. Man weiß, auf dem steinigen, stockigen Pflaster, in dem hier und in Mariana die Gäßchen auf und nieder steigen, sind die Schritte der Großväter und Ahnen derselben Menschen im gleichen Kleid zu gleichem Werk gegangen; spät am Abend scheint es einem gespenstischerweise, als wären es noch die Menschen von einst oder ihre Schatten. Manchmal wundert man sich, daß die Glocken an den Kirchen die Stunden zählen, denn wozu sie zählen, die Zeit, wenn sie stille steht und stockt? Hundert Jahre, zweihundert Jahre scheinen hier nicht mehr als ein Tag. Man kommt zum Beispiel vorbei an einer Reihe verbrannter Häuser; ohne Dach, ohne Holzsparren stehen rauchgeschwärzt die nackten und halb niedergefallenen Mauern. Ein Feuer, so glaubt man, hätte dort vor einer Woche, vor einem Monat gewütet, und man habe sich noch nicht die Mühe genommen, den Schutt wegzuräumen. Aber dann wird man belehrt, es seien dies doch die Häuser, die im Juli 1720 der Gouverneur Conde de Assumar niederbrennen ließ. Seit diesen 220 Jahren hat sich keine Hand gerührt, weder sie neu aufzubauen noch sie niederzureißen. Alles ist geblieben in Ouro Preto, in Mariana, in Sabará, wie es war zur Zeit der Sklaven und des Goldes. Mit unsichtbaren Flügeln, ohne sie zu berühren, ist die Zeit über die verlassenen Goldstädte dahingefahren.

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