bannerbanner
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Полная версия

50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Язык: Немецкий
Добавлена:
Настройки чтения
Размер шрифта
Высота строк
Поля
На страницу:
53 из 80

Darum ist der Botanische Garten Rios, – der nach Aussage aller Fachleute (ich bin es nicht) auch der reichhaltigste der Welt sein soll – ein solches Wunder und eine solche Wohltat. Hier ist alles, was der Urwald enthält, ohne seinen Schrecken, seine Endlosigkeit, seine Unwegsamkeit, seine Gefahr. Hier sind alle Bäume, alle Pflanzen, alle Phänomene der Tropen in ihren großartigsten Exemplaren, und man kann sie mühelos bewundern. Schon die eine gigantische Palmenreihe des Eingangs ist ein wunderbares Bild, die Triumphallee, die sich ein König – König João VI. – vor anderthalb Jahrhunderten errichtet hat, und die so herrlich symmetrisch und aufrecht steht wie die Säulenreihe eines tausendjährigen griechischen Tempels. Man hat unzählige Palmen gesehen, hier in Brasilien und anderorts, und meint doch nie gewußt zu haben, wie herrlich majestätisch, wie wahrhaft königlich eine Palme sein kann, ehe man diese sah – kerzengrade, wunderbar rund der Stamm mit seiner arabisch-feinmaschigen Panzerhaut und hoch dann, o, ganz hoch, viel höher als man jemals den Blick erhoben, die Krone. Und rings herum, zur Rechten, zur Linken dann die Vasallen, herberufen aus allen Ländern und Zonen, aus Sumatra und Malakka, aus Afrika und vom Äquator, ein Riesengeschlecht vielfältigster Art. Man weiß sie nicht anzusprechen, man weiß ihre Namen nicht, man kennt die Früchte nicht, die sonderbar geformten und gefärbten, die sie in ihrem Laubwerk tragen, aber man spürt, daß diese Riesen uralter Herkunft sind, und man sinnt den exotischen Fernen nach, aus denen sie gekommen, um ihre Früchte und Farben vereinigt hier darzubieten. Und dann wieder, überschattet von bunten Sträuchern, im sumpfigen Teich die mächtigen Blüten der Victoria Regia und auf den höheren waldigen Teilen Bäume und Sträucher unserer Zonen, die man wie Freunde in der Fremde erkennt – ein lebendiges Museum einerseits, ist dieser Garten doch gleichzeitig ein vollkommenes Stück Natur. Denn nichts ist genialer in seiner Anlage, als daß er einem der mächtigen Hügel angelehnt ist; dadurch wird die Illusion erweckt, als ginge von hier, mitten aus einem Park und einer Weltstadt, dieses wogende Grün weiter und weiter ins Land, das ganze Reich, die ganze Welt entlang, und man sei erst am Anfang ungeheurer Überraschungen. Nicht einen Augenblick fühlt man sich umgrenzt. Es ist, wie wenn man von einem Vorgebirge jäh an das Meer tritt, eine unvergeßliche Vision von der Unendlichkeit der Natur.

Aber ist der andere Park Rios, der Parque da Cidade, minder großartig? Er ist nur anders. Er wollte einzig der Schönheit dienen und nicht wie der Jardim Botânico auch der Wissenschaft. Als Garten eines der Patrizier Brasiliens, der ihn der Stadt übermachte, war er geschaffen, um von einer Villa auf der Höhe mit einem Blick alles zu umfassen, was Rios Landschaft an Vielfalt enthält, das Meer und die Berge, die Täler und die Üppigkeit seiner Vegetation. Aber es wurde nicht ein Blick, sondern ein Nichtendenkönnen an Blicken; da sanfte Hänge, dort kunstvolle Blumen, die wetteifern mit den Farbenfanalen der Araras, dieser schönsten aller Papageien, und dazwischen ein Teich und hier wieder eine Terrasse; alle Künste der Gartenarchitektur sind hier wissend enthalten. Und zu all dem muß man sich in Rio immer noch den Himmel erdenken, diesen klaren, reinen Himmel, der wie eine stahlblaue Scheibe alles Licht schärfer und zugleich diffuser verteilt, so daß jede einzelne Farbe mit gleichsam explosiver Kraft sich entlädt und die feinste Kontur eines Baumes sich genau abzeichnet. Und zu all diesen Herrlichkeiten endlich noch diejenige, die Natur erst vollkommen macht: die große Stille. Denn so weiträumig erstrecken sich diese Parks, daß man selten jemandem darin begegnet; hier kann man mitten in einer Weltstadt mit dem Vollkommenen selig allein sein. Hier schweigt der Lärm, und nur mit tausend warmen unsichtbaren Lippen atmet die Erde die weiche, schwülige Luft.

Einen andern Tag hinauf in höhere Zonen. Kann man Berge sehen inmitten einer Stadt ohne die Lust, sie zu besteigen, ohne das Verlangen, klar ausgebreitet das steinerne und grüne Gewirr zu sehen, in dem man lebt? Es wird einem leicht gemacht, denn der Corcovado, der 700 Meter hoch sich über – oder eigentlich inmitten – der Stadt erhebt und sein nachts elektrisch erhelltes Kreuz mit großartiger Geste segnend über die ganze Bucht von Guanabara hebt, ist nicht einmal ein Ausflug zu nennen; in zwanzig Minuten klettert ein Auto die scharfen Kurven auf den beschatteten Wegen hinan bis zum Gipfel. Und hier tut ein unvergeßliches Panorama sich auf. Endlich, endlich überschaut man die ganze Stadt mit ihrer Bucht, ihren Bergen und Seen, ihren Inseln und Schiffen, ihren Häusern und ihrem Strand! Endlich sieht man, mit blauen, grünen, weißen Linien gezeichnet, den Grundriß ihrer Anlage und gleichzeitig ihre Mächtigkeit. Vom Wind umbraust, an die Riesenstatue des Redentor gelehnt, umfaßt man die ganze Vista; es ist wahrhaftig der Blick aller Blicke und doch unfotografierbar wie alles in Rio, weil zu groß in seinen Perspektiven ausgespannt. Denn überall ist Blick, zur Rechten, zur Linken, nach Ost und West und Nord und Süd, da das Meer, ins Unendliche blauend, dort die Bergkette von Teresópolis, da das flache Land und der Strand und die Bucht und die Stadt; jetzt erst begreift man die einzigartige Kombination aus dieser Höhe des Vogelflugs.

Und doch ist der Corcovado bloß einer unter den Gipfeln und der beliebteste nur, weil für die Touristen durch Bahn und Autostraße so bequem zugänglich gemacht. Wie viele Wege noch auf diesen Bergen und Hügeln, wieviel Ausblicke auf jedem, der Blick von Boa Vista, vom Pico da Tijuca, von der Mesa do Imperador, von der Vista Chinesa, von Santa Teresa; von all den namenlosen Winkeln und Terrassen! Was von dem Gipfel des Corcovado aus zusammengeschlossen schien, vereinzelt, verteilt sich wieder, das Panorama löst sich filmisch auf in einzelne landschaftliche Szenen: man wird nicht fertig mit Rio. Man kann es nie zu Ende kennen, und das ist seine eigentliche, seine unvergängliche Schönheit.

Von den Hügeln hat man inmitten der endlos gebreiteten Bucht Inseln und Inseln erblickt, grau und felsig die einen, grün und blühend die andern, alle wie in einem Spiel von Giganten achtlos in die azurne Fläche gestreut. Soll man sie nicht auch noch besuchen? Ja, man soll es, wenigstens einige von ihnen. Ein breites, stämmiges Ferryboot steuert einen hinaus, vorbei zuerst an den Inseln knapp vor der Reede, die meist Nutzzwecken dienen, der Marineakademie oder als Petroleumdepots; erst nach einer Stunde nähert man sich den interessanteren. Manche sind nur nackte, kahle Riffe, von Vögeln umschwärmt, manche palmenbestanden und mit einzelnen alten Häusern. Endlich landet man in Paquetá, und mit einem Mal klingen in einem die alten Kindheitserinnerungen auf, die Erinnerungen an die Reisebücher: Columbus in Guanahani, Kaptän Cook in Tahiti und Robinson auf seinem Eiland. Denn Paquetá, das ist eines dieser seligen Eilande, dicht umblüht, flammend von Blumen, der erfüllte Südseetraum. Keine Autos, keine fashionablen Badeplätze wie in Honolulu und Hawaii, die dem Geld ihre Unschuld verkauft haben. Auf einem alten Pferdewagen umfährt man den Strand; ab und zu ein kleines Haus, ein Feld, ein Garten, sonst überall unverstörte, herrlich tropische Natur jenseits der Zeit und der Zeiten. Man hat das Gefühl, daß diese Insel niemandem gehört und jedem, aber – wunderbares Widerspiel – Rio ist wahrhaft unerschöpflich in der Kunst der Kontraste – nur durch einen schmalen Meerarm getrennt liegt gegenüber eine Insel, die wiederum einem einzigen gehört: Brocoió. Hier hat sich der Besitzer aus einem jahrelang unbehausten winzigen Eiland ein Paradies für sich allein gezaubert und in seine Mitte ein entzückendes Haus gestellt, frei mit seinen Terrassen nach allen Seiten, mit allem Komfort unserer Zeit, mit Büchern und einer Orgel und verlockenden Gastzimmern. Wie Paquetá ganz Natur, ist Brocoió ganz Kultur. Im wohlgepflegten, mit Steinen geränderten und gekiesten Garten spielen Hunde und Pfauen, und seltenes Getier leuchtet auf, weite Gärten führen den Weg eine Anhöhe empor, in einer halben Stunde ist das ganze Reich umzirkt; aber welch eine begnadete Einsamkeit hier unter Palmen, die gegen einen ewig blauen Himmel lehnen und niederschatten auf ein ewig blaues Meer! Und Einsamkeit, Trosteinsamkeit nur so lange, als der Sinn sie ertragen will: ein Ruck, und das Motorboot springt an, und in einer halben Stunde ist man wieder in der Stadt und umdonnert vom Leben. Und schon, wenn der Umriß mit den Palmen, den schön erhobenen, in den Wellen verschwindet, fragt man sich, ob man dies wirklich gesehen oder nur geträumt hat. Wieder hat man (und wie oft nun schon in dieser Stadt!) einen Tropfen getrunken vom goldenen Überfluß der Welt!

Kapitel Vier­und­dreißig

Sommer in Rio

Es wird November. Die sogenannte »Saison« von Rio geht zu Ende und die Freunde, denen man begegnet, haben alle dieselbe Frage: wohin gehen Sie über den Sommer? Es ist ein Axiom, daß man die Monate, die man bei uns Winter nennt – Dezember, Januar, Februar und März – in die Berge flüchtet, oder es ist zum mindesten ein alter Brauch, den Kaiser Pedro II. für die Gesellschaft eingeführt hat. Im Sommer verlegte er seine Residenz nach Petrópolis, ihm folgte der Hof und dem Hof die Gesellschaft; alle Gesandtschaften und Ministerien verlegten ihre Tätigkeit in diese nahe und kühlere Gartenstadt, die heute dank des Autos eine Art Vorstadt von Rio geworden ist. Während der Sommerzeit, in den schulfreien Monaten, wohnt die Familie in einer Villa in Petrópolis, und der Geschäftsmann, der höhere Beamte steuert abends mit dem Auto hinauf und morgens hinab: es ist keine Reise mehr.

Es ist keine Reise mehr und eher ein Ausflug zu nennen. Zwanzig oder dreißig Minuten durch das flache Land, das die Energie der Regierung den früher fieberbringenden Sümpfen abgewonnen. Dann steigt die breite, blank zementierte Straße in scharfen Kurven die Höhe empor. Serpentine um Serpentine schraubt sie sich hoch, allmählich öffnet sich der Ausblick über das Tal und die Bucht, Kilometer um Kilometer schmettert vorbei und die Luft, die einen anspringt, wird frischer und kühler. Endlich eine Wendung und – man ist kaum mehr als anderthalb Stunden gefahren – die Höhe ist erreicht; kleine gefällige Häuschen, von einem Kanal durchzogen, flankieren die Straße und man ist in einem Kurörtchen, einem Sommerresidenzchen, das ein wenig altväterisch anmutet mit seinen roten Brückchen und etwas antiquierten Villen. Irgendwie, man weiß nicht warum, denkt man an ein deutsches Provinzstädtchen. Und, siehe da, man hat richtig gefühlt. Hierher hatte vor vielen Jahrzehnten der Kaiser deutsche Ansiedler kommen lassen, und sie bauten ihre Häuschen nach heimischer Art; sie gaben ihnen deutsche Namen und pflanzten in ihre kleinen schmucken Gärtchen wie zu Hause die Pelargonien. Auch das kaiserliche Palais wirkt wie das eines deutschen Duodezfürstentums, das durch eine nette Zauberei auf einen brasilianischen Berg getragen wurde; alles hat ein hübsches, zierliches Format, und erst in den letzten Jahren haben die neuen Villen den Charakter anspruchsvoller gemacht. Jetzt drängt sich alles hier ein wenig zusammen, die Menschen und die Häuser; die Straßen, vormals nur für die schweren, langsamen Karossen gedacht, schwirren von Automobilen, die Unruhe von Rio rückt allmählich den Berg herauf. Aber die Lieblichkeit des Ortes wird niemals ernstlich bedroht werden können, denn die Natur selbst ist hier lieblich; die Berge zeigen keine Schroffen mehr sondern weichen in flutenden Wellen zurück, überall leuchten und flammen die Blumen in dieser Stadt der Gärten. Tagsüber klimmt das Quecksilber hier ungehemmt empor, aber die Nächte sind im Gegensatz zu Rio kühl und die Schwüle entlüftet; noch ist es nicht die starke, die ozonische Luft, die wir mit dem Bergland verbinden, aber doch schon Kühle und Reine, von dem Atem der Wälder und der Blumen leise durchduftet.

Wer wirkliche Berglandschaft fordert, muß noch weiter empor nach Teresópolis, das einige hundert Meter höher liegt; es ist, als ob man von einer österreichischen Landschaft in eine schweizerische käme. Die Kulisse ist hier enger und strenger, die Wälder dunkler, die Berge schroffer im Abfall – an einer Stelle blickt man wie von einer Zinne unvermittelt, daß einem beinahe schwindlig wird, über das ganze Land bis nach Rio hinab. Nicht wie in Petropolis liegen kurorthaft die Villen nebeneinander, sondern weit voneinander wie Bauerngehöfte im Grünen zerstreut. Hier und in Friburgo, das schweizerischen Ursprungs ist, hat man zum erstenmal alpine Landschaft im europäischen Sinne, und in merkwürdiger Abscheidung sind es zumeist die Europäer, die hier übersommern (wenn man das Gegenwort zu überwintern wagen darf), während die brasilianische Gesellschaft sich traditionell in Petropolis zusammenfindet.

So fragen die Freunde, wofür ich mich entschieden habe. Und ich entschied mich für Rio. Ich wollte dort den Sommer mitleben, denn man kennt eine Stadt, ein Land nur in seinen Extremen; man weiß nichts von Rußland, wenn man es ohne Schnee, nichts von London, wenn man es ohne seinen Nebel gesehen. Und ich bereue es nicht. Es ist heiß in Rio im Sommer, vielleicht mag es sogar keine Erfindung sein, daß man an den brennenden Tagen rohe Eier dort auf dem Asphalt garkochen kann, aber ich habe New York, wenn es dort einmal feucht zu dünsten beginnt und die Häuser zu Backöfen werden, schlimmer gefunden. Was allein den Sommer in Rio so lastend macht, ist, daß er zu lange dauert, drei und eigentlich vier Monate. Bei Tage erträgt man die Hitze leicht, denn es ist, wenn man so sagen darf, eine schöne, eine volle, eine reine Hitze, die Wärme einer prallen Sonne, eines strahlenden Himmels, der sich wolkenlos über die Bucht spannt und ihre an sich schon schmetternden Farben zu ihrem äußersten Fortissimo steigert: wer nicht dieses Weiß der Häuser, wenn die Strahlen prall auf sie fallen, nicht das malachitene Grün der Palmen, nicht das einzige Blau des Meeres dort im Sommer gesehen, der kennt diese Farben nur in gedämpften, vermengten, verminderten Formen. Aber diese massive Hitze hat ihre natürlichen Linderungen. Jede paar Stunden springt vom Meere her mit ganz unbrasilianischer Pünktlichkeit eine Brise auf, die erfrischt, und muß man nicht in die innere Stadt, wo diese wohltätige Zugluft nicht zu kann, so ist es eine Lust, an dem Strand – freilich nicht zu hastig – dahinzuschlendern. Schwerer erträglich sind die Nächte, wenn diese Brise stockt und man die Feuchte, die Dicke, die Überfülltheit der Atmosphäre so dicht an die Haut drängen fühlt, daß sie mit allen Poren sich öffnet. Aber im allgemeinen dauern diese drückenden Tage nicht lang, und es macht ein Gewitter ihnen ein jähes Ende, ein Tropengewitter von jener Gewalt, die mir die Schilderungen Joseph Conrads glaubhaft illustriert haben. Das ist nicht Regen, der dann niederprasselt, das ist der ganze Himmel, der wie ein umgeworfenes Faß mit einem Male niederstürzt. Das sind keine Blitze, die wie bei uns als blaue Adern am Himmel aufspringen – das sind weiße Schüsse, und der Donner, der ihnen nachfällt, erschüttert die Häuser. Eine Viertelstunde, und die Straßen sind meterhoch überschwemmt, aller Verkehr stockt, kein Mensch wagt sich auf die Straße. Und wieder eine Viertelstunde, und der Himmel schimmert unschuldig im früheren Blau, als ob er von seinem Wutanfall nichts wüßte, das Licht glänzt scharf und klar durch die gefilterte Luft, und man atmet erstaunt und entlastet, wie nach einer Explosion, der man durch ein Wunder entkommen. Und dann wieder Tag um Tag strahlende Sonne, wolkenloser Horizont – so ist der Sommer in Rio.

In summa: er ist erträglich. Und zwei Millionen Menschen ertragen ihn, ohne zu klagen und sogar vergnügt. Sie passen sich ihm nur an. Alles trägt Leinenkleider, die ganze Stadt funkelt in Weiß wie bei einer Marineparade, und vom November an wird Rio ein einziger Badestrand; zwei, drei Straßen vom Ufer her – und fast überall ist Ufer – gehen die Leute in Schwimmhosen und Badekostümen, um rasch ein- oder zweimal des Tags den erfrischenden Sprung ins Meer zu tun; um fünf Uhr morgens, ehe sie frühstücken oder zur Arbeit gehen, rücken die ersten an, und das geht bis tief in die Nacht, an manchen Tagen sind an dem einen Strand von Copacabana hunderttausend Menschen zu finden. Nichts irriger als zu glauben, die Cariocas, die Leute von Rio, würden durch den Sommer erschöpft und ausgelaugt: im Gegenteil, es ist, als sammelte sich in ihnen diese aufgestaute Hitze zu einem einzigen impulsiven Ausbruch, der dann mit kalendarischer Regelmäßigkeit im Karneval erfolgt. Der Karneval von Rio ist, man weiß es, ein Unikum an heiterem und leidenschaftlichem Überschwang in unserer seit Jahren reichlich verdüsterten Welt. Monatelang zuvor wird gespart und geübt, denn jeder Karneval bringt neue Lieder und Tänze. Und da der Karneval ein demokratisches Fest hier ist, ein Lustausbruch, eine Temperamentsmanifestation des ganzen Volks, hört man diese Lieder schon überall vorausgeübt, damit jeder einstimmen könne; man hört sie in den Kasinos, den Restaurants, im Radio, im Grammophon und in den Negerhütten; überall wird geübt und exerziert zu der großen Parade der kollektiven Freude. Wenn der Kalender dann endlich die Verstattung gibt, schließen für drei Tage alle Geschäfte, und es ist, als sei die ganze Stadt von einer riesigen Tarantel gestochen. Alles lebt auf den Straßen, bis tief in die Nacht wird getanzt, gesungen und mit allen denkbaren Instrumenten bis zur Raserei gelärmt. Jeder soziale Unterschied ist aufgehoben, Fremde wandern Arm in Arm mit Fremden, jeder spricht jeden an, und allmählich steigert sich die gegenseitige Erhitzung, das unaufhörliche Lärmen zu einer Art Tollheit; man findet Menschen erschöpft auf der Straße liegen, ohne daß sie einen Tropfen Alkohol getrunken, sie haben sich nur krank getanzt und gelärmt. Aber das Merkwürdigste, das typisch Brasilianische ist, daß selbst in diesen Ekstasen die Leute selbst des niedersten Volkes nicht ihre innere Humanität verlieren und zum Pöbel werden; trotz Maskenfreiheit geschieht nichts Brutales, nichts Unanständiges inmitten einer kindlich tobenden und Tag und Nacht durcheinanderquirlenden Menge; einmal sich Ausschreien, Austanzen, das Leise, das Zurückhaltende orgiastisch loswerden zu dürfen, erlöst sich im Taumel dieser drei Tage – es ist wie eines jener Tropengewitter des Sommers. Und nachher wieder das alte stille Gebaren, die Stadt kehrt in ihre alte Ordnung zurück. Der Sommer ist gefeiert, die gestaute Hitze aus den Menschen gleichsam herausgefahren, Rio ist wieder Rio, die Stadt, die still und stolz ihre eigene Schönheit spiegelt.

Niemand nimmt gern Abschied, der hier einmal gewesen. Bei jedem Fortreisen und von jedem Ort wünscht man sich zurück. Schönheit ist selten und vollendete beinahe ein Traum. Diese eine Stadt unter den Städten macht ihn wahr auch in düstersten Stunden; es gibt keine tröstlichere auf Erden.

Kapitel Fünf­und­dreißig

Blick auf São Paulo

Um die Stadt Rio de Janeiro darzustellen, müßte man eigentlich ein Maler sein, um São Paulo zu schildern, ein Statistiker oder Nationalökonom. Man müßte Zahlen türmen und vergleichen, Tabellen nachzeichnen und versuchen, Wachstum in Worten sichtbar zu machen; denn nicht seine Vergangenheit und nicht seine Gegenwart machen São Paulo so faszinierend, sondern sein gleichsam unter der Zeitlupe sichtbares Wachsen und Werden, sein Tempo der Verwandlung. São Paulo gibt kein Bild, weil es seinen Rahmen ständig erweitert, weil es zu unruhig ist in seiner rapiden Veränderung; man zeigte es am besten als Film und zwar als einen, der von Stunde zu Stunde rascher abrollt; keine Stadt Brasiliens und wenige der ganzen Erde lassen sich an Ungestüm der Entwicklung dieser ehrgeizigsten und dynamischsten Brasiliens vergleichen.

Ein paar Zahlen also, nur um einen Maßstab zu haben, eine Art Thermometer für die Fieberkurve dieser Entwicklung. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts gründen die Jesuiten ein paar Hütten und Häuser um ihr primitives Kollegium, das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert sieht an dem Ufer des kleinen Flusses Tiete noch ein unbedeutsames Städtchen, Hauptquartier und Feldlager eher als ständiger Wohnsitz jener schweifenden Banden, der paulistas, die von hier aus in den berühmten und berüchtigten entradasdas ganze Land nach Beute durchstreifen, ohne aber sich und die Stadt mit ihrem Sklavenfang wirklich reich zu machen. Noch tief im neunzehnten Jahrhundert, 1872, steht São Paulo mit seinen 26 000 Einwohnern, seinen engen und ärmlichen Straßen noch an zehnter Stelle unter den Städten Brasiliens, weit hinter der Residenzstadt Rio mit 275 000, hinter Bahia mit 129 000 Einwohnern, aber sogar noch hinter Städten, deren Namen der Nichtbrasilianer gar nicht kennt wie Niterói mit 42 000 und Cuiabá mit 36 000 Menschen. Es ist der Kaffee, der große König, der zuerst seine Arbeitstruppen hierherkommandiert, und, einmal eingesetzt, nimmt der Aufstieg phantastische Proportionen an. Die 26 000 Einwohner von 1872 haben sich 1890 zu 69 000 verdreifacht, im nächsten Jahrzehnt springt die Ziffer zu 239 000 empor. Im Jahr 1920 sind es schon 579 000, um 1934 ist die Million überschritten und heute wohl schon der Pegel von anderthalb Millionen, ohne daß ein geringstes Anzeichen für eine Verminderung des Tempos zu vermerken wäre. 1910 wurden 3 200 Häuser gebaut, 1938 über 8 000, eine Zahl, die aber an sich keineswegs die Proportion des Aufstiegs ganz begreifen läßt, denn die neuen Häuser umfassen als Hochhäuser, als Wolkenkratzer jedes einzelne den vielfachen Wohnraum von Dutzenden früheren, einfachen und engen Einstockgebäuden; besser drückt sich der Steigerungskoeffizient aus im Mietwert, der allein von 1910 von 43 137 Kontos auf fast das Zwanzigfache mit zirka 800 000 emporgeklettert ist. Jede Stunde mindestens vier neue Häuser, das ist heute das ungefähre Entwicklungstempo dieser Stadt, die, seit die Industrie dem Kaffee die Königsherrschaft entrissen hat, mehr als 4 500 Fabriken in sich vereinigt und faktisch mehr oder minder das ganze merkantile Leben des Landes unter seiner Führung hält.

Was sind die Ursachen, die einen solchen phantastischen Aufstieg bedingten und heute noch befördern? Im wesentlichen dieselben geographischen und klimatischen, die den Gründer Nóbrega vor vierhundert Jahren diesen Raum als den geeignetsten für eine gesunde und rasche Expansion in ganz Brasilien wählen ließen. Einer der besten Häfen Südamerikas, Santos, liegt nahe, das Hochplateau erleichtert den Verkehr nach allen Richtungen, das große Strombett des Paraná und La Plata ist leicht erreichbar, die Erde, die sogenannte terra roxa, fruchtbar und jeder Art der Anpflanzung willig, die hydro-elektrische Kraft im Überfluß vorhanden und überdies wohlfeil; dies alles allein schon genug, um das rapide Wachstum innerhalb eines sich selbst ständig potenzierenden Landes zu erklären. Aber der entscheidende Faktor war von Anfang an das Klima, das, zwar mit Sonne gesättigt, auf diesem achthundert Meter hohen Plateau doch niemals jene erschlaffende Wirkung auf die Arbeitskraft übt wie in den tropischen Zonen und den nieder gelegenen Küstenstädten. Schon im siebzehnten Jahrhundert hatte es sich erwiesen, daß der paulista energischer, tatkräftiger, aktiver gesinnt sich entwickelte als die übrigen Brasilianer. Die eigentlichen Träger der nationalen Energie, erobern und entdecken sie das Land,semper novarum rerum cupidi, und dieser Wille zum Wagnis, zu Fortschritt und Expansion hat sich in späteren Jahrhunderten dem Handelswesen und der Industrie vererbt. Das eigentliche Vorwärtstempo bringen dann die Immigranten in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Unwillkürlich sucht der Immigrant Lebensbedingungen und eine klimatische Einstellung, die der seinen gemäß ist; die Italiener, die den Hauptstock der Zuwanderung bilden, finden in São Paulo das Klima von Norditalien, von Mittelitalien und die Sonne des Südens wieder. Sie müssen sich nicht umstellen, nicht umlernen; ungebrochen bringen sie ihre ganze Stoßkraft mit sich und verstärken sie eher noch im neuen Lande. Denn der Einwanderer ist immer ungeduldiger vorwärtszukommen als der Ansässige, er besitzt nichts Ererbtes, von dem er ausrastend leben und zehren könnte, sondern muß alles erst erwerben. Das steigert sein Tempo, seinen Energieeinsatz. Und dieser Einschuß von Tatkraft und Wagemut reißt dann die andern mit; gerade die arbeitswilligsten, die ambitiösesten Brasilianer etablieren sich in São Paulo, wo sie diese höher zivilisierten, besser vorgebildeten und leistungswilligeren Arbeiter zur Verfügung haben. Das Kapital strömt dem Unternehmungsgeist wieder willig nach, ein Rad greift ins andere, und so wird der Umschwung von Jahr zu Jahr immer rascher; vier Fünftel all dessen, was heute im ganzen Lande industriell und organisatorisch geleistet wird, hat hier seinen Handgriff und seinen Impetus. São Paulo hält heute mehr als jeder andere Bundesstaat Brasiliens die Wirtschaft in Schwebe, es ist gewissermaßen sein Muskelzentrum, das Organ seiner Kraft.

На страницу:
53 из 80