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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Nun ist der Muskel im Organismus zwar eines der notwendigsten Elemente, aber an sich kein schönes Organ. Wer sich von der Stadt São Paulo besondere ästhetische, sentimentale oder pittoreske Eindrücke erwartet, sei gewarnt; es ist eine Stadt, die der Zukunft entgegenwächst und so unruhig und ungeduldig, daß sie für ihre Gegenwart kaum viel Sinn hatte und noch weniger für ihre Vergangenheit. Wer etwas Historisches hier sucht, wird es sowenig finden wie in Houston oder einer der andern nordamerikanischen Petroleumstädte; selbst das alte Kollegium der Stadtbegründer, das wie ein Pantheon pietätvoll hätte bewahrt werden sollen, ist längst irgendeinem Zweckbau zum Opfer gefallen. Von seinem siebzehnten, seinem achtzehnten Jahrhundert hat São Paulo sich soviel wie nichts bewahrt, und wer auch nur einen Überrest von dem paulistischen Wohntypus des neunzehnten Jahrhunderts sehen will, möge sich beeilen, denn mit einer fast erschreckenden Geschwindigkeit wird hier weggeräumt, was noch an gestern, an vorgestern erinnert; manchmal hat man das Gefühl, nicht in einer Stadt zu sein, sondern auf einem gewaltigen Bauplatz. Auf allen Seiten, nach Osten und Westen und Süden und Norden quellen die Häuser in die Landschaft über, und in der inneren City, im Geschäftsviertel, stülpt sich Straße nach Straße um; jemand, der vor fünf Jahren hier gewesen ist, muß sich zurechtfragen und zurechtfinden wie in einer neuen Stadt. Überall ist alles zu eng, zu nieder, zu klein geworden, die Straßen verlangen gebieterisch, breiter zu werden, und quetschen die Gebäude in die Höhe empor, Unterführungen müssen den Automobilen einen neuen Weg ins Freie bahnen, überall verändert sich alles eigenwillig und mit einer gewissen egoistischen Hast; so hat man noch heute hier das lebendige Bild von dem Werden und Sichumformen einer echten Kolonisten- und Immigrantenstadt. Nicht wie bei uns in Europa sind diese Städte langsam Ring um Ring um ein Zentrum gewachsen, sondern improvisatorisch, hastig, aufs Geratewohl. Irgendeiner hatte, herübergekommen, ein wenig Geld verdient; Zinshäuser waren keine zur Stelle, so baute er rasch (der Grund kostete nicht viel und ebensowenig die Arbeit) irgendwohin ein Haus, eines dieser kleinen, kunstlosen Häuser, wie man sie hier überall sieht, die ganze Küste, das ganze Land entlang; jedes nur immer ein offener Laden und darüber ein Stockwerk mit zwei, drei Zimmern, und wenn der Besitzer ein Italiener war, so strich er noch mit scharfen Farben, ockergelb oder ziegelrot oder meerblau, die Fassade an; ein Haus klebte sich an das andere, und dann war eine Straße da und noch eine und noch eine und noch eine und allmählich eine Stadt. Keiner war gewiß, in diesem Hause dauernd zu leben; vielleicht zog man weiter in eine ander Stadt, vielleicht kehrte man mit seinen Ersparnissen heim, vielleicht wurde man reich, dann baute man sich eben ein schöneres, eine jener überladenen Prunkvillen in Pseudobarock oder orientalischem Stil, wie sie vor dreißig Jahren hier überall als vornehm galten. Der Begriff der Dauer, der Seßhaftigkeit, der Stetigkeit, der Ständigkeit, der restlosen bürgerlichen Einordnung in das Stadtwesen mußte notwendigerweise diesen noch nomadischen Einwanderern völlig fehlen, und darum konnten von vornherein diese Städte im architektonischen Sinne nur Provisorien werden, nur ein zufälliges Nebeneinander vieler Wohnstätten, etwas wild und planlos Gewachsenes aus Ziegel und Lehm, das man ebenso leicht niederzureißen sich entschließt, wie man es gebaut hatte; ein Haus, das zwanzig Jahre alt ist, gilt hier so wie bei uns ein zweihundertjähriges als längst überlebt, und es wird mit gleicher Hast niedergerissen, wie es erbaut worden war.
Erst seit die Industrie, der Handel und der Reichtum sich so sprunghaft entfalten, scheint São Paulo entdeckt zu haben, daß es längst eine Großstadt ist und die repräsentativen Pflichten einer Großstadt hat. Alles ist hier mit einem Mal zu eng, zu klein geworden, die Straßen, die Plätze, die Kirchen, die Verwaltungsgebäude, die Bankgebäude, die Spitäler, und mit einem entschlossenen Willen ist nun die Stadt an der Arbeit, sich ein Zentrum, eine Form zu schaffen; wer heute hierherkommt, erlebt einen der interessantesten Augenblicke. Er kann sehen, mit welcher Energie hier ein Nebeneinander in ein Ineinander, ein Provisorium in ein Definitivum umgestaltet wird. Überall wird gearbeitet, Brücken werden unterfahren, Parks und Promenaden angelegt, Avenuen durch die engen Stadtteile geführt, große staatliche Gebäude errichtet und all dies planhaft, freilich nach Plänen, die, wie man mir sagt, jedesmal von dem rasenden Wachstumstempo der Stadt noch während des Baus schon überholt werden. Gegenseitig sich immer um ein paar Stockwerke überbietend, stemmen sich im Zentrum die Wolkenkratzer empor, um die Raumenge zu bewältigen, während gleichzeitig hügelauf und hügelab in immer weiterem Kreise die Villenvorstädte sich radial verbreitern. Und auch ethnographisch schichtet sich die Stadt völlig um. Während sie vordem einzig gegliedert war nach den Nationen der Einwanderer in ein italienisches Viertel (São Paulo ist zugleich eine der größten italienischen Städte der Welt), ein armenisches, ein syrisches, ein japanisches, ein deutsches, schmilzt dies alles jetzt ineinander, und nach rein repräsentativen Formen scheidet sich die Stadt, innen eine City mit stark nordamerikanischen Architekturformen und außen eine Wohn- und Gartenstadt, beide befähigt, in einigen Jahren und Jahrzehnten in einem neuen Sinne schön zu werden. Schon jetzt, wenn man von einem der Hochhäuser die leichtgewellte weite Fläche überblickt, gewinnt man allerhand erfreuliche Ausblicke; aber das Wesentliche ist in São Paulo, dieser typischen Entwicklungsstadt, das Werdende und nicht das schon Vollendete; stärker als selbst in Nordamerika und hier unten nur ähnlich in Montevideo habe ich das Phänomen einer Stadt gesehen, die sich gewissermaßen umstülpt und völlig peau neuve macht. Wenn man also auf dem Begriff der Schönheit durchaus beharren will, so kann man die São Paulos nicht eine vorhandene, sondern nur eine werdende nennen, eine nicht so sehr optische als energetische und dynamische, eine Schönheit und Form von morgen, die man durch das Heute eben jetzt mit einer ungeduldigen Gewalt durchbrechen fühlt.
Den Sinn und die Prägung gibt zunächst dieser Stadt noch die Arbeit. São Paulo ist keine Genießerstadt und nicht auf Repräsentation eingestellt, sie hat wenig Promenaden und keine Korsos, wenig Ausblicke und Vergnügungsstätten, und auf den Straßen sieht man fast nur Männer, hastige, eilende, tätige Männer. Wer hier nicht arbeitet oder zu Geschäften kommt, weiß nach einem Tage nicht mehr wohin mit seiner Zeit. Der Tag hat hier doppelt soviel Stunden wie in Rio und die Stunde doppelt soviel Minuten, weil jede mit Tätigkeit bis an den Rand vollgepreßt ist. Hier gibt es alles Neue, alles Moderne, ein gutes Kunsthandwerk und sehr erlesene Luxusgeschäfte, aber man fragt sich, wer hier Zeit hat für Luxus, für Genießen statt Verdienen. Unwillkürlich ist man an Liverpool, an Manchester erinnert, an diese Nur-Arbeits-Städte, und in der Tat verhält sich São Paulo zu Rio de Janeiro wie Mailand zu Rom, wie Barcelona zu Madrid, beides nicht die Hauptstädte, nicht der Sitz der Verwaltung, nicht die Hüter der Kunstwerte des Landes, aber den Residenzen überlegen durch werktätige Energie. Die eine Provinz São Paulo leistet – auch dank des kühleren Klimas, das den eingewanderten Europäern nichts von ihrer Aktivität nimmt – allein industriell und kaufmännisch mehr als der Großteil des übrigen Landes, sie ist moderner, fortschrittlicher als alle andern und deshalb nordamerikanischen oder europäischen Städten ähnlicher durch ihre intensive Organisation. Nichts von der wundervollen Weiche Rios, von dieser Atmosphäre, die ständig zum Schauen und zu schönem Müßiggang verlockt; die Musikalität, die jene helle Stadt und die ganze Bucht von Guanabara umschwebt, ist hier ersetzt durch Rhythmus, einen starken, heftigen Rhythmus, den Herzschlag eines Läufers, der vorwärts, vorwärts rennt und sich an der eigenen Geschwindigkeit berauscht. Was ihr an Schönheit noch fehlt, ist aufgewogen durch Energie, die hier in diesen tropischen Zonen viel auffälliger und wertvoller wird, und was noch wesentlicher ist: diese Stadt weiß, daß sie sich ihre Form erst erobern muß, und da die Paulisten eine starke Rivalität gegen Rio de Janeiro beseelt, ein Wille, nicht inferiorer, nicht unkünstlerischer zu wirken, so kann man hier in den nächsten Jahren auf allerhand Überraschungen gefaßt sein.
An eigentlichen Sehenswürdigkeiten – ein unangenehmes, hochmütiges Wort – hat São Paulo heute noch nicht viel, und alle drei haben bei ihrer Großartigkeit einen fatalen Beigeschmack. Da ist das Ypirangamuseum, das die ganzen ethnographischen Verschiedenheiten der brasilianischen Fauna, Flora und Kultur in ausgezeichneter Weise und durchdachter Übersicht zeigt; aber was man im Durchwandern der Säle fühlt, ist eher Sehnsucht als Erfüllung, denn die tausend verschiedenfarbigen Kolibris und Papageien möchte man doch in ihrer Urwelt sehen, frei und unbekümmert statt ausgestopft, und man weiß, ein paar Stunden weit, da beginnt schon der Wald und die Dschungel, und während man noch vor den Schaukästen steht, träumt man von diesen phantastischen Regionen. Alles Exotische hört sofort auf, exotisch zu wirken, sobald es schaumäßig aufgestellt und schematisiert ist; sofort wird es trocken wie ein Lehrgegenstand, wie eine starre Kategorie, und deshalb empfindet man (gegen die eigene Vernunft, die ein solches Museum bewundert und seine Leistung nicht genug schätzen kann) festgehaltene Natur inmitten einer so wild und üppig blühenden Natur ein wenig als Widersinn. Einer diese entzückenden kleinen Affen, von Palme zu Palme frei sich schwingend, begeisterte uns gewiß als eine Gnade der Natur, aber eingereiht und mumifiziert in allen Varianten an eine Wand gereiht, löst der Anblick von hundert Affenarten nur eine technische Neugier aus. Schon Menagerien wirken nicht ganz wirklich, um wieviel weniger Museen, selbst wenn sie wie dieses mit der äußersten Sorgfalt geleitet und zu einem großartigen Ganzen vereinigt sind. Alles Eingeschlossene bedrückt – und so ward mir das Herz auch nicht frei, als ich die andere Sehenswürdigkeit sah, die penitenciária, das berühmte Gefangenenhaus von São Paulo, eine Musteranstalt, die der Stadt, dem Land und seinen Leitern hohe Ehre macht. Hier ist das Problem der Strafanstalt – das moralisch nie ganz lösbare – im humansten Sinne angefaßt, und das Land, das die Todesstrafe nicht kennt, hat sich bemüht, für seine Verbrecher nach den durchdachtesten und neuesten Prinzipien zu sorgen. Hier ist die Humanität in der Behandlung der Zuchthäusler nicht wie in anderen Ländern als eine Rückständigkeit abgeschafft, sondern bewußt entwickelt und nach der Idee gefördert, daß jeder Gefangene die ihm gemäßeste Arbeit leisten und das ganze Haus gleichsam eine autarke Gemeinschaft bilden solle, wo alles durch die Insassen geschieht. Man sieht in diesem großen, großartig reinen und hygienisch gebauten Häuserkomplex den ganzen Betrieb einzig von den Insassen in Bewegung gehalten; das Brot wird von ihnen gebacken, die Medikamente verfertigt, die Klinik geführt und das Spital, die Gemüse gepflanzt und die Wäsche gewaschen, kaum irgendwann muß von außen jemand zur Hilfe gerufen werden; jede Bestrebung zu künstlerischer Tätigkeit wird von den Leitern gefördert, ein ganzes Orchester hat sich geformt, in Sälen sieht man ihre Zeichnungen, und so gibt sogar in einem Lande, das in den schwerer erfaßbaren Zonen noch ziemlich viel Analphabeten zählt, das Gefangenenhaus Gelegenheit nachzuholen, was die Schule versäumte. Nichts Musterhafteres kann man sich erdenken als diese Anstalt, die für sich allein schon den europäischen Hochmut korrigieren könnte, bei uns seien alle Einrichtungen die perfektioniertesten der Welt, und doch – mit entlastetem Atemzug saugt man die Luft ein, sobald endlich die letzte von den vielen schweren Eisentüren, die man durchschritten, hinter einem zufällt und man wieder Freiheit atmet und freie Menschen sieht.
Mit einem ähnlichen Atemzug der Entlastung verläßt man auch die Schlangenfarm zu Butantan, obwohl man Großartiges dort gesehen und Wesentliches gelernt. Was dort das große Publikumsschauspiel ist – nichts lieben ja die Menschen mehr, als sich zu grauen, wenn es gleichzeitig nicht gefährlich ist – hatte mir wenig zu sagen: wie man die Giftschlangen dort aus ihren Höhlen holt, mit Stangengriffen faßt und den Wehrlosen das Gift auszieht. Dies hatte ich Vorjahren schon in Indien gesehen, und jedesmal ist es mir gräßlich, wenn der Mensch aus der Wehrlosigkeit eines überwältigten Tieres ein Schaustück oder eine Unterhaltung formt. Aber längst ist die Anstalt von Butantan über die ursprüngliche Absicht hinausgewachsen, einzig der Beobachtung der Schlangen und der Erzeugung von Heilserum gegen die vielen Giftbisse zu dienen; sie hat sich in den letzten Jahren zu einem Forschungsinstitut größten Stils entwickelt, in dem mit den modernsten Apparaten die hervorragendsten Fachleute arbeiten; ich habe in dieser einen Stunde, da mir die verschiedenen Versuche der Umpflanzungen, der chemischen Zerlegungen erklärt wurden, mehr gelernt als in Jahren durch Bücher; immer ist für uns Laien die sinnlich optische Arbeit an dem Objekt die einzige, die uns den abstrakten Problemen am ehesten begrifflich entgegenführt. Und weil es eben das Sinnliche, das Optische ist, das mir immer am stärksten die Phantasie in Erregung setzt, so hat mich nichts dort so beeindruckt als eine einzige mittelgroße Flasche, mit kleinen weißlichen Kristallen gefüllt: es ist das Gift von achtzigtausend Schlangen, das da in konzentriertester kristallisierter Form in dieser Flasche bewahrt ist, und das furchtbarste aller Gifte. Jedes dieser kaum wahrnehmbaren Körnchen, deren jedes unter dem Fingernagel spurlos verschwinden würde, kann leicht in einer Sekunde einen Menschen töten. Tausendfacher als in den riesigsten Granaten ist die Vernichtung in dieser einzigartigen, furchtbaren, dieser unersetzbaren Flasche zusammengedrückt, ein Wunder, größer als in jenem berühmten Märchen aus Tausendundeiner Nacht – nie hatte ich den Tod in so konzentrierter Form gesehen und hunderttausendfach in Händen gehabt wie in der Minute, da ich dieses kühle und zerbrechliche Glas umspannte. Dieses Unfaßbare der möglichen Zerstörung eines ganzen atmenden Menschenwesens in einer Sekunde mit allen seinen Gedanken und Erfahrungen, das plötzliche Stocken eines Herzens und aller Muskeln, nur weil ein Körnchen, viel winziger als ein Salzkorn, ihm ins Innere dringt, und diese Möglichkeit – bei einem einzigen Lebewesen schon unerfaßbar – nun verhunderttausendfacht nebeneinander zu sehen, hatte etwas Erschütterndes und zugleich Großartiges. Alle die Apparate dieses Laboratoriums wurden mir mit einem Mal zu Kräften, die der Natur das Gefährlichste wie im Spiel entwinden, um es nun in einem neuen, einem eigenen schöpferischen Sinn der Natur zu nützen, und mit Ehrfurcht sah ich plötzlich auf dies kleine Haus, das vom Wind umflogen einsam in der Grüne eines Hügels ruht, umfaßt von Natur und sie doch noch gewaltiger umfassend durch den menschlichen, unermüdlichen Geist.
Kapitel Sechsunddreißig
Besuch beim Kaffee
Freundliche Sitte wie jedwede in diesem gastfreien Land: besucht man in Brasilien ein Haus, so wird einem zu jeder Stunde des Tages Kaffee angeboten, köstlicher schwarzer Kaffee in kleinen Tassen, es ist hier eine Selbstverständlichkeit. Man trinkt ihn auf andere Art als bei uns – oder vielmehr, man trinkt ihn eigentlich gar nicht, sondern stülpt ihn mit einem einzigen scharfen Ruck hinunter wie einen Likör, ganz heiß, so heiß, daß, wie man hierzulande sagt, ein Hund heulend davonlaufen würde, wenn man ein paar Tropfen auf ihn schüttete. Wie viele solcher schwarzduftender, glühender Tassen ein Brasilianer durchschnittlich im Tage konsumiert, dürfte statistisch kaum festzustellen sein ich nehme an, zwischen zehn und zwanzig – und ebenso schwer wäre es, apodiktisch zu entscheiden, in welcher Stadt er am besten mundet. Mit homerischem Eifer fordern hier alle Orte den Ruhm der vorzüglichsten, der richtigsten Zubereitung für sich, und so habe ich ihn unparteilich mit gleicher Begeisterung getrunken in den kleinen Kaffeehäusern in Rio, wo die Tasse zweihundert Reis kostet (ein in unseren Währungen kaum münzbarer Betrag), und in der Fazenda selbst und in Santos, der Kaffeestadt, und sogar im Instituto do Café in São Paulo, wo seine richtige Zubereitung geradezu zur Wissenschaft erhoben wird und ich nach genommenem Kurs einen Sack Kaffee und die richtigste Kaffeemaschine zur weiteren Ausübung mitbekam – überall, an allen Stellen war er gleich zauberhaft würzig, stark und nervenbelebend, ein schwarzes Feuer, das die Sinne heller und die Gedanken leuchtkräftiger macht.
König Kaffee, so möchte man diesen schwarzen Potentaten hier nennen, denn er beherrscht noch immer ökonomisch dieses riesige Land und regiert von seinem Hafen in Santos aus mehr oder minder sämtliche Märkte und Börsen der Welt, sechzehn Millionen Sack von den vierundzwanzig, welche unsere Erde konsumiert, werden hierzulande gepflanzt und verschifft: im letzten sind diese winzigen perlgrauen oder rehfarbenen Körner die eigentliche Münze und Währung des Landes. Mit Kaffee kauft und bezahlt Brasilien die wenigen Rohstoffe, die ihm fehlen, Öl vor allem und Getreide, mit Kaffeekörnern (mit Milliarden Kaffeekörnern allerdings) die Maschinen und technischen Behelfe. Darum war der Weltmarktpreis des Kaffees das eigentliche Thermometer der brasilianischen Wirtschaft; stieg sein Wert, so blühte das ganze Land, drohte er zu sinken, so verbrannte die Regierung die überschüssigen Säcke oder warf die kostbaren Körner den unverständigen Fischen vor. Kaffee bedeutete hier durch ein Jahrhundert im letzten Gold und Reichtum, Gewinn und Gefahr; von seinem Wert und Walten hing bis zu einem gewissen Grade die Handelsbilanz des ganzen Landes ab; nicht der Milreis hat den Wert des Kaffees in manchen Jahren bestimmt, sondern der Weltmarktspreis des Kaffees den Wert des Milreis.
Dieser große Finanzpotentat Brasiliens, der Kaffee, ist wie so viele andere heute reiche Leute in diesem Lande ursprünglich ein Einwanderer, ein Immigrant. Seine eigentliche Heimat ist Arabien, das Mokka-Land, und die Legende erzählt, daß Hirten dort eines Tages mit Überraschung beobachteten, wie ihre Ziegen immer, wenn sie von einem bestimmten Strauch geknabbert hatten, lebendiger herumtollten. Bald versuchten sie selbst diese Bohnen und stellten fest, daß sie ohne jede Schädigung für die Gesundheit eine besondere Wirkung ausübten und die Müdigkeit minderten, weshalb sie das Gebräu aus diesen köstlichen Bohnen Kahma nannten (von kaheja, was Abhalten vom Schlaf bedeutet). Die Araber brachten das erfrischende Elixier den Türken, bei der Belagerung Wiens fielen den Österreichern ganze Säcke als Beute in die Hände, bald entstand in Wien das erste Kaffeehaus, und das braune Getränk wurde in ganz Europa Mode – eine flüchtige, wie die gute Madame de Sévigné irrigerweise meinte, als sie von Racine ärgerlich sagte:Cela passera comme le café. Aber der Kaffee blieb – Racine überdies gleichfalls und wanderte in die französischen Kolonien nach Guyana hinüber, wo die Pflanzen und Samen ängstlich als Handelsgeheimnis gehütet wurden. Wie tausend Jahre vordem die Chinesen das Urprodukt der Seide, den Cocon, vor allen Fremden versteckten und die Ausfuhr auch nur eines einzigen unverarbeiteten Cocons mit dem Tode bedrohten, bis dann zwei Mönche in einem ausgehöhlten Pilgrimsstab einen Cocon nach Europa schmuggelten – so hatte der Gouverneur von Cayenne strengen Auftrag, keinem Ausländer Zutritt zu den Pflanzungen zu gewähren. Glücklicherweise für Brasilien besaß dieser Gouverneur eine Frau, und diese schenkte 1727 in einer oder nach einer schwachen Stunde dem portugiesischen Sergeanten Major Francisco de Melo Palheta einige Sträucher und Wurzeln; damit war der braune Einwanderer nach Brasilien hineingeschmuggelt, und er fühlte sich wie alle Einwanderer bald heimisch in dem neuen Land. Zuerst siedelte er sich in Nordbrasilien im Amazonasgebiet und dem Maranhão bei seinen Vettern Zucker und Tabak an – Kaffee ohne diese Vetternschaft bleibt immer unvollkommener Genuß; allmählich rückt er 1770 nach Süden in die Gegend von Rio de Janeiro hinunter. Rings um die Hügel von Tijuca, wo heute schon die Hochhäuser den ländlichen Villen den Raum streitig zu machen beginnen, rafft er die Felder an sich und läßt sich von Tausenden von Sklaven hegen und pflegen; aber noch immer behagt ihm die Luft nicht ganz, und schließlich bemächtigt er sich der ganzen Provinz São Paulo, um nach tausendjähriger Wanderung von dort aus sein Imperium über die ganze Welt auszubreiten. Seinem orientalischen Ursprung gemäß entwickelte er sich immer mehr zum Tyrannen, er unterjocht die ganze brasilianische Wirtschaft von seinem Königsthron in São Paulo aus. Er läßt sich die herrlichsten Lagerhäuser errichten, befiehlt Schiffe aus der Welt heran, er diktiert den Preis des Geldes, jagt das Land in wilde Spekulationen und lebensgefährliche Krisen und ersäuft sogar seine eigenen Kinder – Tausende und Tausende Säcke – im Meer, weil die Welt ihm nicht den vollen Tribut zahlen will.
Einem so mächtigen Herrn und einem zumal, der sooft meine Arbeit gefördert und mir in ungezählten Stunden die Freuden der Geselligkeit erhöht, einen respektvollen Besuch abzustatten, hielt ich für meine gebotene Pflicht. Freilich um diesen Herrn und König in seiner Residenz aufzusuchen, muß man heute schon tiefer ins Land reisen als ehedem. Ursprünglich, als der Kaffee von den Portugiesen aus Afrika herübergebracht wurde – Heinrich Eduard Jacob hat die Sage dieser Weltwanderung in seinem Buche bezaubernd erzählt – lagen die Pflanzungen noch hart an der Küste. Die Täler um Santos und manche der herrlichen Parks von Tijuca, unmittelbar neben Rio de Janeiro, waren durch Jahrhunderte Kaffeeplantagen; von den Feldern wurden die Säcke auf dem Rücken der Neger geradenwegs zu den Schiffen gebracht. Aber in Jahrzehnten und Jahrhunderten, nachdem sie Milliarden und Abermilliarden dieser magischen Bohnen gezeugt und genährt, wurde die Erde dort allmählich müde, die Körner verloren an Größe, Kraft und Aroma. Achtzig Jahre, fast genau das patriarchalische Alter der Menschen, währt die Lebensdauer eines solchen Strauchs auf derselben Scholle. So verlegte man – an ungenütztem Boden hat Brasilien noch niemals Mangel gehabt – die Pflanzungen jeweils tiefer und tiefer hinein in das Land, von Santos nach São Paulo, wo die rote, kräftige Erde viermal soviel zeitigte als in Rio, von São Paulo nach Campinas, weiter und weiter und immer tiefer hinein. Also nun nach dem Kaffee, dorthin, wo er jetzt seine Heimat hat! Ihm nach von Rio de Janeiro eine zwölfstündige Nachtfahrt nach São Paulo, von dort wieder drei nach Campinas, dieser alten Kolonie der Jesuiten, und nun genügt ein Auto und man ist mitten im Kaffeeland und endlich auf einer Fazenda.
Fazenda oder hacienda – woher ist einem das Wort so geläufig? Warum rührt es einen so merkwürdig romantisch an und vertraut, warum weckt es in einem so vergessene, starke und mitschwingende Gefühle? Ach, man erkennt es wieder, nichts bleibt innerlich so verhaftet wie die Bücher, die man leidenschaftlich in seiner Knabenzeit gelesen; wie hatte man diese Fazendas oder Haciendas Brasiliens und Argentiniens in den Romanen Gerstäckers, Sealsfields, diese kleinen Gutshäuser mitten in tropischer Wildnis oder auf den unendlichen Pampas mit der Phantasie der Kindheit sinnlich gesehen, diese exotischen Fernen, immer umringt von Gefahren und unerhörten Abenteuern. Wie hatte man als Knabe geträumt, dies einmal zu erleben! Und nun ist man da; freilich nicht auf feurigem Mustang trabt man heran, sondern das Automobil steuert einen sacht durch die blumenüberhangene Einfahrt in den Hof; aber doch, genau wie auf den alten Stichen und in den Darstellungen der verschollenen Kindheitsromane sieht sie aus, die Fazenda, ein einstöckiges, flaches Haus inmitten des unübersehbaren Besitzes, nach allen vier Seiten von einer breiten, schattigen Veranda umrahmt. Siehe, und nahe davon stehen um einen viereckigen kleinen Platz die Häuser der Arbeiter, und man erinnert sich aus den Büchern, hier wohnten – es ist ja erst fünfzig Jahre her – die Sklaven, und abends saßen sie dann auf diesem Platz und sangen ihre melancholischen Lieder; vielleicht gedenkt noch einer oder der andere der weißhaarigen Neger, die hier still und zufrieden herumgehen, der verschollenen Zeit. Allerdings, tritt man ein in das gastliche Haus, so springt die Weltuhr sofort in die heutige Stunde; man sieht zwar noch die altgetäfelten Decken, den ererbten schönen Hausrat aus dem kostbaren, steinharten Jacarandaholz, die silbernen Schalen und Hausaltäre aus der portugiesischen Zeit pietätvoll bewahrt, aber längst sind diese Fazendas keine Einsamkeiten mehr, zu herrlichsten Lagerhäuser errichten, befiehlt Schiffe aus der Welt heran, er diktiert den Preis des Geldes, jagt das Land in wilde Spekulationen und lebensgefährliche Krisen und ersäuft sogar seine eigenen Kinder – Tausende und Tausende Säcke – im Meer, weil die Welt ihm nicht den vollen Tribut zahlen will.