Полная версия
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Und sicher war eins: Mußte das arme Fünfblatt dort über Nacht bleiben, so erfror es.
Der Presi wütete über Thöni, er sammelte dann eine Hilfskarawane, und die von St. Peter ließen sich, obgleich sie sich über den neuen Frevel wie über den ersten empörten und ihre Schadenfreude nicht verbargen, sofort herbei, die Rettung der Gesellschaft zu versuchen. Denn wo Menschenleben in Gefahr schwebten, waren sie, wie alle Leute der Berge sind: sie kannten nur die Pflicht der Hilfe.
Josi war in fiebernder Erregung: »Darf ich sie holen? Sie erfrieren, bis die Mannschaft oben ist,« fragte er den Ingenieur.»Well, hole die Unglückseligen, Boy.« Und George Lemmy war, indem er die Hände in die Hosentaschen steckte und ein Liedchen pfiff, selber neugierig, wie der Bursche nun vorgehen würde.
Eine – zwei – drei Stunden! – Man sieht ihn! Wo scheinbar nur glatte Wände sind, klettert der ehemalige Wildheuerbub wie ein Kaminfeger durch Felsenrisse, eilt über schmale Kanten, ist wieder in einem Riß und klettert aufwärts!
Ein Dutzend Fernrohre folgen ihm. – Noch eine Stunde – die Hilfskarawane ist erst auf den oberen Alpen – da schwingt sich Josi auf das Band, wo die fünf armen Knaben sitzen.
Er hört die Jubelrufe aus dem Thale nicht, er weiß nur, daß er eilen muß, die Leute zu bergen, denn St. Peter liegt schon im tiefen blauen Schatten, nur noch an den Spitzen glänzt die Sonne.
»Du lausiger Rebell, dich haben wir nicht gerufen,« empfängt ihn Thöni.
»Grieg, seid artig, sonst lass' ich Euch beim Eid über Nacht da oben hocken,« erwidert Josi.
Die von Thöni Schlechtgeführten danken ihm überschwenglich, einer weint vor Freude. Josi mahnt: »Nur Mut! – gangbarer Fels und Schutt ist nicht weit, aber ein Umweg ist nötig.«
Er kennt die Gegend genau, er hat über der Planke manchen Tautropfen gebrochen, er löst auch jetzt einen, den sein geübter Blick in einer kleinen Höhle entdeckt hat, und steckt ihn wie zum Andenken in die Westentasche.
»Aufpassen!« ruft er. Die Lotserei beginnt, sie geht im Bogen und Zickzack bergauf, bergab, den greifbaren Vorsprüngen entlang. Er würde den halsbrecherischen Weg in einer Viertelstunde machen, aber er muß den Ermüdeten und von jedem Selbstvertrauen Verlassenen die Füße einstellen, die Handgriffe zeigen, die mutlos werdenden Zurückgebliebenen nachholen, einen um den anderen am Seil herunterlassen, eine Stunde fieberhafter Anstrengung vergeht, und sie sind noch nicht am Ziel – die Nacht ist gesunken – – aber jetzt! – endlich! – endlich hat die Gesellschaft ein sanftes Geröllfeld erreicht – Josi will jauchzen, er kann es nicht vor Erschöpfung. Heiser nur sagt er: »Ihr seid auch da, Grieg!«
Thöni spürt aber kaum den sicheren Boden, so fährt er Josi an: »Du hättest uns nicht zu holen brauchen, du Laushund, ich wäre schon losgekommen. Den Schimpf machen wir einmal handgreiflich aus!«
»Gut, Ihr könnt Euch nur melden!«
Um drei Uhr des Morgens kamen Josi, die Geretteten und die Hilfskolonne im Dorfe an. Einheimische und Fremde wachten. Unter der Thüre des Bären, wo ihm der Presi mit einem Ausdruck aufrichtiger herzlicher Achtung entgegentrat und beide Hände reichte, brach er, den Jubel der Glückwünschenden in den Ohren, zusammen.
Kaum hatte er sich am Morgen erholt, als ihn der Presi in jene Stube rufen ließ, wo sie sich nach dem Tod der Mutter gegenüber gestanden hatten. Als der mißtrauisch dreinblickende Bursche eintrat, empfing ihn der Bärenwirt fast feierlich. Er stand auf, stützte die Linke auf das Pult und reichte ihm die Rechte: »Setzen wir uns! Ich bekenne, daß ich Euch eine Weile unterschätzt habe, Blatter, sonst hätte ich Euch nicht zu Bälzi gethan. Zunächst danke ich Euch, daß Ihr die fünf geholt habt. Die Rettung ist ein Ehrenblatt für Euch.«
Josi wurde feuerrot und verlegen, er stand bei dem Lob des Presi wie auf Nadeln. Der Mann, der so mit Wärme und Achtung zu ihm sprach, war der, der ihm die Peitsche ins Gesicht geschlagen. Er war aber auch Binias Vater. Die Gedanken spannen sich ineinander und verwirrten ihn.
»Ihr wollt also jetzt mit George Lemmy nach Indien. Das ist ein abenteuerlicher Plan. Der Gemeinderat hat indes einstimmig beschlossen, daß man Euch kein Hindernis in den Weg legen will. Im Frühling werdet Ihr ja volljährig und dann seid Ihr ohnehin der Vormundschaft entlassen.«
Der Presi stand auf und langte in ein Pultfach: »Wenn man ins Leben geht, dann ist es von besonderer Wichtigkeit, daß man die Freiheit, sich zu wenden und zu kehren hat. Die besitzt man nur mit Geld. Ich möchte Euch einen Reisepfennig mitgeben. – Ihr seht, wenn ich gebe, bin ich nicht klein!«
Er reichte Josi etliche Blätter Banknoten. Der junge Mann fuhr auf, er wollte reden, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Nur ein seltsames »Herr Presi!« würgte er hervor.
So viel Geld hatte er natürlich noch nie beisammen gesehen, dachte der Presi, mißverstand seine Bewegung und hielt sie für Gier.
»Ich will keinen Dank, die Blätter sind für das Herunterholen der Jungen, es ist Rechnung und Gegenrechnung – nehmt sie herzhaft.«
Eine verwirrende Liebenswürdigkeit lag in seinem Ton, »Ich will noch einmal so viel zulegen, Blatter. Gebt mir nur das Versprechen in die Hand – daß Ihr – wenn Ihr je aus Indien zurückkehrt – mit Binia nichts zu schaffen haben wollt. – – Es kann nicht sein – es darf nicht sein. – Ich sage es Euch in heiligem Ernst: Ich leide es nicht – ich leide es nicht.«
Düster und trotzig waren seine letzten Worte.
Nun aber brach Josi los: »Herr Presi, glaubt Ihr, daß ich meinen Vater schände? Um wie viel weniger Geld habt Ihr ihn in jener Nacht gekreuzigt, daß er an die Weißen Bretter steige. Ihr meint, ich nehme je einen Rappen an aus Eurer Hand?«
Etwas Ergreifendes, Rührendes lag im Zorn des Burschen, eine durch Bescheidenheit gezügelte heiße Entrüstung.
Seppi Blatter und Fränzi in einem, ein verdammt schöner Bursche, dachte der Presi.
»Und Binia?« fragte er mit einem leisen Seufzer, schon halb verstimmt.
In den Augen Josis loderte es, er keuchte: »Herr Presi, ich bin kein Hudel. Behaltet das Geld, ich behalte mir das Recht, das Mädchen um seine Hand zu fragen, das mir am besten gefällt. Und im Glotterthal ist's ja noch so: Keine Jungfrau steht so hoch, ein ehrbarer Bursch darf um ihre Hand anhalten.«
Seine Stimme bebte, der Presi lachte scharf: »Gewiß darf er darum anhalten – es kommt aber nicht aufs Fragen, sondern auf den Bescheid an, den er erhält. – – Wollt Ihr das Geld, Blatter?«
Das letzte sprach er mit hartem, höhnischem Klang.
»Nein, Herr Presi!«
Das tönte nicht herausfordernd, aber als wären die Worte von Granit.
»Du Steckgrind – ein Rebell bist und bleibst du!« – Der Presi schrie es. – »Mit dir habe ich es gut gemeint. Ich habe wollen Frieden zwischen mir und dir machen – du bist aber ein Thor – ein wahnsinniger, verstockter Thor – – he, du und Binia? – Wo nimmt auch so ein Fötzel das Recht her, an so etwas zu denken?«
»Herr Presi, in drei Jahren wollen wir wieder zusammen reden, helf' mir der Himmel, daß Ihr mich dann nicht mehr so verachten könnt.«
Josi sagte es bescheiden – doch das Wort war Oel ins Feuer.
»Gottes Heilige hören es – die Tatze soll mir eher aus dem Grabe wachsen, eher soll ein Traum, den ich einmal gehabt habe, in Erfüllung gehen und Binia von einem Gespenst erschlagen werden – als daß ihr zwei zusammenkommt.«
»Ihr redet entsetzlich!« Helle Thränen liefen Josi über die braunen Wangen. »Lebt wohl, Herr Presi!«
»Dich mögen in Indien die Königstiger fressen!«
Er donnerte es dem Forttaumelnden nach – –
»Ihr redet entsetzlich!« Dem Presi klang der Ausruf Josis im Ohre fort, es lag darin etwas so Wundes, wie wenn ein Tier aus tiefsten Nöten schreit. Aus sich selber wiederholte er: »Ich redete entsetzlich!« Ihm war, er müsse Josi zurückrufen, er müsse ihm noch etwas sagen. Ein seltsamer Einfall kam ihm. Er wollte zu George Lemmy sprechen: »Laßt mir Josi Blatter da – er paßt mir als Bergführer.« Eine sonderbare Empfindung durchrieselte ihn. Er könnte, war ihm, den schönen, gescheiten, rechtschaffenen, heimlich stolzen Burschen unendlich lieb haben – lieb wie einen Sohn, – er staunte, wie ihm der Gedanke angeflogen kam – er sperrte sich wütend dagegen – er zitterte – er schwitzte und schnaufte.
»Ich muß noch einmal mit ihm reden! – Seppi Blatter – Fränzi. – Habt ihr Gewalt über mein Herz?«
Nach drei Tagen aber sammelte sich in der Morgenfrühe ein Häuflein Dörfler vor dem Bären, um Josi Blatter, den Abenteurer, abreisen zu sehen. Der Bärenwirt stand auf der Freitreppe und winkte, wie ein Wirt winkt, wenn ein so angesehener Gast wie George Lemmy geht. –
»Jetzt habe ich doch nicht mit ihm geredet.« Seit einer Weile saß der Presi, den Kopf stützend, am Tisch. Und wütender über sich selbst als über Josi, murmelte er:
»Binia erschlagen – nein – nein – das ist Wahnsinn.«
Bei sich selbst war er überzeugt, daß Josi Blatter in drei Jahren als Freier vor ihm stünde.
»Nun wohl – dann Gewalt gegen Gewalt.«
Da kam Thöni: »Ich führe das Gepäck des Engländers nach Hospel!«
»Gut – doch noch etwas! Der Schwager Kreuzwirt fährt Ende dieser Woche oder Anfang der nächsten über den Hochpaß. Ich lasse ihn um den großen Gefallen ersuchen, daß er Binia aus dem Kloster heimbringt.«
Als Thöni gegangen war, lächelte der Presi glücklich: »Binia – wenn du schon an dem Burschen hängst und thöricht bist wie alle Weiber – mein lieber Herzensvogel bist du doch!«
Kapitel Elf
»Josi Blatter bleibt ein verkehrter und geheimnisvoller Kerl bis ans Ende,« sagten die zu St. Peter, als sie sahen, daß er mit seinem Engländer das Glotterthal nicht auf dem Weg über Tremis, Fegunden und Hospel verließ, den doch alle ordentlichen Menschen gingen, sondern sich mit ihm vom Haus des Garden über die unwegsame Schneelücke wandte.
An der Grenze zwischen Weltland und Weißland erhebt sich ein altes verwittertes Holzkreuz, bei dem die Hirten sommers über ihren Sonntagsdienst halten. Bis dorthin, wo man eben noch die Kirche in der tiefen Thalspalte sieht, begleitete Vroni ihren Bruder, bei dem Kreuz knieten die Geschwister nieder und verrichteten zum Abschied eine gemeinsame Andacht.
Mit Thränen in den Augen blickte Vroni Josi nach. Als sie aber immer noch ihr Tüchlein schwenkte, da stapfte er schon unentwegt mit seinem Herrn in die große wilde Gebirgseinsamkeit hinein.
Ernst, doch unverzagt hatte er die letzten Tage verlebt. Sie aber war vor Schmerzen vergangen: den Vater, die Mutter hatte sie schon verloren – und nun verlor sie auch den Bruder. Sie konnte nicht glauben, daß er je wieder nach St. Peter komme. In ihrem Kopf und in ihrem Herzen summte das Kirchhoflied:
»Und als er stand an blauer See,
Da schrie sein Herz nach Berg und Schnee.«
Sterben wird er vor Heimweh!
Während seine sanfte Schwester mit den großen Blauaugen in Thränen träumte, was doch so ein lieber Bruder für ein böser Mensch sei, schritt Josi tapfer in die Zukunft und mit seinem Herrn quer über Gletscher und Hochgebirge. Drüben in einer kleinen Stadt wollten sie Felix Indergand, der in einigen Tagen nachzukommen versprochen hatte, erwarten und dann von Genua aus die große Reise nach Indien antreten.
Ein herrliches Wandern. Die Luft war blau und herbstlich still. Aus der Höhe ertönte der Ruf der Zugvögel. Die vom Sommer ausgelaugten und ausgewitterten Gletscher lagen wie riesige Leichen da. Wenn es wahr wäre, was die Sage behauptet, wenn die Venediger wirklich bei ihrer Säumerei über die Schneelücke in Stürmen und Wettern Ladungen Silbers verloren hatten, so würde man sie jetzt wohl finden können.
Doch Josi dachte an etwas anderes. Konnte er nach Indien gehen, ohne zu Binia, die er für ewig verloren hatte, lebewohl gesagt zu haben?
Unter einem überhängenden Felsen, bei den Resten alter Jägerfeuer übernachteten sie. »Brigante, solche Nächte unter freiem Himmel wird es auch bei unserer Arbeit in Indien genug geben, nur ist es dann nicht so still wie hier, sondern die wilden Tiere schreien und brüllen ringsum!«
Allein als George Lemmy nachsah, schlief Josi schon. Am Morgen standen sie auf einem mächtigen Firngrat, einem wunderherrlichen silbernen Wall, wo der Himmel so nahe schien, als könnte man den dunkelblauen Teppich mit der Hand streicheln. »Boy, wo ist jetzt das Glotterthal?«
Im gewaltigen Eisland, das sich gegen Norden dehnte, war ein kleiner dunkler Streifen wie ein Nebelchen sichtbar. Da konnte es Josi kaum fassen, daß er sein ganzes bisheriges Leben in der schwarzen Spalte zugebracht habe.
Dort saß Vroni.
Wie sonnig lag die Erde! Weithin dehnte sich im Süden unter ihnen, wo die Berge ausgingen, geheimnisvolle Bläue. Ist das wohl das Meer? dachte Josi. Da wies ihn George Lemmy auf weiße Flecken, die in der Bläue schwammen, und sagte: »Das sind die italienischen Städte.«
Am folgenden Tag wanderten sie einem lebendigen klaren Wasser entlang durch eine grüne Berglandschaft und kamen auf die schöne Straße, die vom Hochpaß herniederführt.
George Lemmy aber hinkte, er war beim Abstieg durch den Wald über eine Wurzel gestrauchelt und hatte den Fuß leicht verstaucht.
Im ersten Dorf nahmen sie ein Wägelchen und fuhren durch den goldenen Abend.
Kirchen, Klöster und Schlösser hoben ihre Türme aus Kastanienhainen und in der Ferne schimmerte eine Stadt. Fröhliches Volk in bunten Trachten kam ihnen entgegen, Landleute, die vom Markt heimzogen, riefen ihnen den Gruß in einer fremden Sprache zu.
Der Kutscher, der wohl an Fremde gewöhnt war, wies mit der Peitsche nach allen Sehenswürdigkeiten und erklärte den beiden in mangelhaftem Deutsch ihre Namen und Bedeutung.
Jetzt blitzte ihnen ein blauer See entgegen.
Auf einem felsigen Vorsprung erhob sich ein Kloster aus mächtigen Bäumen, unter denen ein Zickzackweg zu dem großen alten Bau hinaufführte. An weißen Kapellen vorbei, die den Weg schmückten, sah man das von Epheu umrankte Thor und durch die Bäume, die reichlich Frucht trugen, blitzte neben dem Kloster der See.
»Das sehr berühmte Kloster Santa Maria del Lago mit den dreihundertjährigen Pinien,« erklärte der Fuhrmann.
Da überzwirbelte dem starken Josi das Herz.
Gleich hinter dem Hügel, auf dem das Kloster steht, lag die Stadt, und vor einem kleinen netten Gasthof hielt nach der Weisung George Lemmys das Fuhrwerk an. Da übernachteten sie.
Als Josi am Morgen nach George Lemmy sah, lachte dieser: »Josi, Brigante! Ich bin also zum Ruhen verdonnert, der Fuß ist elend geschwollen. Ich fürchte aber, daß du ein schlechter Krankenwärter bist, darum bleibe mir ein gutes Stück, mehr als dieses Zimmer lang ist, vom Leib. Die Wirtin wird dich unten füttern, doch strecke alle Tage den Kopf einmal herein. Da hast du etwas Klingendes in die leere Weste und hörst du: Wein, Wurst und Brot bestellt man hier zu Lande mit den Worten: Preg' un po' de vin u e un cu de gin com pan!
Und nun versuche einmal, wie sich's auf eigenen Füßen geht.«
Josi war glücklich. Einige Tage frei. Und er war jetzt so nah bei Binia! Aber die Welt war ihm so fremd, daß er kaum wagte, sich zu rühren. Durfte er zu dem Kloster hingehen und nach Binia fragen? Nein, nein! Der Knecht hatte es schon thun dürfen, denn er war ein alter stoppelbärtiger Mann ohne alles Verdächtige. Ihm aber würde alle Welt es ansehen, daß ihn die Liebe zu Binia hingetrieben.
Lange schaute er den Handwerkern zu, die unter den Bögen der Häuser das Kupfer schmiedeten, das Leder klopften und das Holz bearbeiteten. Ein Schneider, der die Brille tief auf die Nase gerückt hatte, sang beim Flicken alter Kleider. Da fiel Josi das Kirchhoflied ein, das er mit der Mutter, mit Vroni und Binia gesungen, aber freilich, wenn er an den Presi dachte, war ihm nicht ums Singen.
Eine Weile später strich er doch um das Klostergut und sang:
»Das Steingenelk, die Königskerzen
Erblühn voll Pracht im heil'gen Rund,
Sie steigen aus gebrochnen Herzen
Und jede Blume ist ein Mund!«
Da horch! Wie er gegen den See hinkommt, antwortet jenseits der epheuumsponnenen Klostermauer eine silberne Stimme mit der gleichen Melodie.
»O wie das weint, o wie das lacht,
Dem Flüstern horcht die Sommernacht!«
Nur einige Takte, dann bricht das Lied ab. – Er hört eine keifende Frauenstimme, dann helles Lachen von jungen Mädchen.
Er rennt davon.
Binia hat ihm geantwortet. Wer sollte sonst Worte und Melodie kennen? In der fremden Welt hat er ihre Stimme gehört. Es wird ihm feierlich zu Mut. Gewiß wird er sie auch sehen.
Aber, wie er so überlegte, wurde er ganz traurig. Was nützte es, sie zusehen? Er wußte ja jetzt bestimmt und fest, daß sie nie zusammenkommen würden. Ihm war, der gräßliche Wunsch im Mund des Presi, Binia möge eher durch eine fremde Hand fallen, als daß sie mit ihm durchs Leben gehe, habe allen Segen, der auf seiner Liebe zu Binia ruhen könnte, hinweggenommen!
Und doch war, seit er ihre Stimme gehört, sein ganzes Wesen in einem Aufruhr der Hoffnung. – Binia sehen! sie sehen!
Am Abend wandte er sich an den Wirt, der einen großen weißen Schurz über seine leutselige Seele und seinen dicken Bauch gespannt hatte und vom Viehhändlerverkehr her etwas Deutsch radebrechte. Er fragte ihn, ob die Klosterschülerinnen in die Stadt zur Kirche kämen.
Nein, antwortete der Gastwirt, sie hätten eine eigene Kirche, die Klosterfrauen kämen nur an hohen Festen in die Stadt, aber sie besuchen mit den naschhaften Mädchen oft den Markt. Morgen sei es Donnerstag, ja, da kämen sie wahrscheinlich. Er möge um acht Uhr dort sein, wenn er die Verwandte sehen wolle, aber ansprechen dürfe er sie nicht, dazu müsse er sich schon im Kloster selbst anmelden.
»Die Verwandte!« Josi lächelte ein wenig über die Vorstellung des Wirtes.
Am Morgen war er früh auf dem Markt. Als es acht Uhr schlug, entdeckte er die kleine Klosterschule, einige Nonnen führten die Schar Mädchen, die mit braunen und blonden Zöpfen einherwandelten und ihre Blicke neugierig über die Menge der auf dem Markt gehäuften Früchte warfen.
Binia war die Zierlichste und Schönste unter ihnen – so schön, daß er sie kaum ansehen durfte. Sie errötete, sie fuhr ein wenig zusammen, als sie ihn bemerkte, dann schaute sie auf die andere Seite und hielt sich dicht an die Schar der übrigen. Sie sandte keinen Blick zurück.
»Jetzt sieht sie mich nicht einmal an,« dachte Josi, und schämte sich, daß er sich so fest eingebildet hatte, Binia liebe ihn sterblich.
Er war enttäuscht, er wagte es nicht, der dutzendköpfigen Gesellschaft, die sich in eine Gasse verlor, zu folgen. Unruhig und verlegen schaute er in das bunte fremde Gewühl der Käufer und Verkäufer. Sollte er bleiben, sollte er gehen? Eine Viertelstunde, da drückte ihm ein blasser Junge, der einen Bündel Schuhe über die Schultern gehängt hatte, einen Papierstreifen in die Hand. Der Knabe erwartete ein Trinkgeld und ging erbost über Josi, der vor lauter Neugier das Geben vergaß, mit einem »Brutto Tedesco« davon.
»Um elf Uhr vor der kleinen Pforte am See. Binia.« Josi hatte genug Arbeit, die paar Worte zu entziffern, das Blatt zitterte in seinen Händen. »Wohl, wohl sie liebt mich,« jauchzte es in ihm.
Wie lange es nicht elf Uhr wurde!
Pochenden Herzens stand er vor dem Pförtchen unter einem Kastanienbaum, der seine Aeste in die Flut senkte. Da bimmelte das Glöcklein im Kloster; während es noch tönte, ging die kleine Thür in der Epheumauer auf.
Im hellen Sommergewand, im Bergerehut, gerade so leicht und flüchtig wie einst, huschte Binia hervor, eine Gärtnerin hob warnend den Finger auf und rief ihr etwas wie eine Mahnung nach, dann schloß sich das Pförtchen wieder.
Man sah, wie Binia das Herzchen flog, »Josi, wie kommst du auch da her?« rief sie.
Eine ziemlich verlegene Begegnung. Ihm glüht der Kopf, er weiß nichts zu sagen.
Binia ist so schön, daß er es kaum wagt, ihr die Hand zu geben, und wie er die weichen Finger in den seinen hält, da ist ihm, er halte einen jungen Vogel, dessen Brust er schlagen fühlt.
Auch Binia ist verlegen. Sie verdeckt es, indem sie hastig erzählt, sie sei vom Markt, ehe es eine Aufseherin bemerkte, unter dem, Vorwand, sie bedürfe neuer Schuhe, in eine Werkstätte geschlüpft, habe dort die Zeile geschrieben und nach der Heimkehr die Gärtnerin bestochen.
Nun lachte sie schelmisch auf, faßte Josi bei der Hand und zog den Willenlosen von der Klostermauer hinweg unter den Bäumen hindurch, bis sie an eine kleine stille Bucht kamen, wo eine Quelle in den See lief. Dort stand sie mit ihm still.
»Gelt, das ist schön hier, Josi,« sagte sie, »der See und die weißen Segel und der Duft um die Berge, aber im Kloster ist's häßlich!«
Traurig erwiderte Josi: »O Binia, ich gehe jetzt in die weite Welt – ich gehe nach Indien. Noch einmal aber habe ich dich sehen wollen. – Grad wie ein Engel bist du ja gegen mich gewesen im Teufelsgarten und weißt nicht, wie du mir dort in meiner unsäglichen Schmach wohlgethan hast! – Also lebe wohl, Bineli – ich wünsche dir tausendmal Glück und alles Gute!«
Er streckte ihr die Hand entgegen.
Binia machte ein sehr betrübtes und rührendes Schmollmündchen, das bebte, als wollte es weinen:
»Aber Josi.«
Da hörten sie aus der Ferne nach ihr rufen. Plötzlich blitzte es in ihren Augen auf, sie hob sich auf die Zehenspitzen, sie legte die Handmuschel an den Mund, als wollte sie laut Antwort geben, sie lächelte aber nur: »Ich komme nicht!«
Josi war ganz verwundert: »Binia!«
»O, Euphemia, die alte Gärtnerin, wird sich schon herauslügen, daß ihr nichts geschieht. Du glaubst gar nicht, Josi, wie hinter diesen Mauern alle gut lügen können. Ich allein kann's nicht – ich bin zu ungeschickt dazu.«
Binia machte ein halb lustiges, halb verzweifeltes Gesicht, hielt den Fingerknöchel an die weißen Zähne und schaute den Burschen mit ihren dunklen Lichtern ganz komisch an. – »Josi,« schmeichelte sie, »weil du da bist, mag ich nicht stillsitzen, mir zappeln die Füße, heute wollen mir zusammen durch Luft und Sonne laufen, bis das Abendrot scheint. Ich dürste nach ein bißchen Freiheit. Ich habe einen Brief vom Vater bekommen, daß mich morgen der Kreuzwirt von Hospel abholt, und ich wieder nach St. Peter zurückkehren kann. Da können mir, wenn ich ihnen auswische, die heiligen Frauen nicht mehr viel thun. O glaube mir, Josi, das sind furchtbar grausame Weiber!«
Ein Zittern lief durch Binias schlanke Gestalt.
»Komm, Josi, mir wandern, ich kann jetzt gewiß nicht grad wieder ins Kloster hinein!«
Sie zog ihn mit. – Die Liebe zu Binia und der Trotz gegen den Presi besiegten seine Vorsätze. Still wie Flüchtlinge gingen sie eine Weile durch Bäume und Gesträuch, dann dem See entlang, dann planlos bergauf. Sie entdeckten bald, daß man sie nicht verfolge, auf der Höhe stieß Binia einen Jauchzer aus und sie setzte sich.
»Josi, es ist so schön von dir, daß du gekommen bist. Niemand stört uns in dieser fremden, sonnigen Welt. Ach, wie garstig, man sieht deine Narbe immer noch!«
Mit feiner, liebkosender Hand glitt Binia darüber hin, er sah das Licht rosig durch ihr kleines Ohr schimmern, die Spitzen ihres dunklen Seidenhaares berührten sein Gesicht und der Pfirsichflaum der Wange streifte ihn.
Er verging fast vor Seligkeit, aber die jubelnden Stimmen des Glückes vermochten die Sorge nicht ganz zu übertönen. »Du, Binia,« hob er etwas beklommen wieder an, »es ist mir gar nicht recht.« –
»Was bist du für ein schöner Bursch geworden, Josi,« unterbrach sie ihn, »berichte mir von daheim – ich bin so neugierig.«
Während er erzählte, gingen die feinsten Spiele über ihr Gesicht, es wurde fröhlicher und fröhlicher – als er ihr schilderte, wie er Thöni von der Planke geholt hatte, klatschte sie in die Hände: »Josi, das ist herrlich – ich möchte dir gern etwas Liebes anthun, aber ich weiß nicht was!« Und mit demütiger Stimme: »Ich weiß nicht, warum ich dich so lieb habe, Josi.«
»Sieh, grad so geht es mir mit dir, Bini!«
»Das ist merkwürdig,« erwiderte sie träumerisch und ihre Stimme wurde wieder hoch und fein. »Am Wassertröstungsmorgen, als ich sah, wie deine Mutter wegen meines Vaters litt, da war's, als stände plötzlich in meiner Brust mit feurigen Buchstaben: ›Ich liebe Josi!‹ Und als der Vater mißverstand, was ich im Fieber redete, als er dich haßte, da wurde die Liebe nur größer; als er dich zu Bälzi als Knecht gab, da wuchs sie, als du Rebell wurdest, da starb ich fast, und als dich mein Vater schlug, da wußte ich's wohl: Jetzt rinnt das Blut Josis um mich, jetzt kann ich ihn nicht mehr lassen, selbst um meine Seligkeit nicht! Und so ist's mit mir: Würdest du sagen: ›Steige auf jenen Schneeberg‹, so würde ich steigen, bis ich vor Müdigkeit umsänke, und würdest du befehlen: ›Schwimme über diesen See‹, so würde ich mit meinen Armen rudern, bis – du ziehst so ein finsteres Gesicht, Josi – ich bin ganz unglücklich – du denkst gewiß, es sei schlecht von mir, daß ich mit dir gehe, obgleich es mein Vater nicht gern hat – aber ich habe dich halt so lieb!«