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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
»Ich mag aber nicht der Narr sein im Spiel,« stöhnte der Presi in wehem Zorn, – »ich will nicht, daß mein Kind nur so über mich hinwegschreitet. – Das verzeihe ich Bini nie!«
»O Presi, das Verzeihen werdet Ihr schon lernen. Ich an Eurer Stelle würde auf ein schönes Alter denken. Wenn Ihr aber den Kopf zu stark setzt, so seht zu! Dann kommt der Tag, wo Ihr auf den Knieen zur Lieben Frau an der Brücke rutschen würdet, wenn Ihr Bini nur Josi geben könntet und sie friedlich wüßtet. Gönnt ihnen beizeiten ein grünes Plätzchen zum Glück, sonst steigen auch sie auf die Berge und halten dort oben wie der Knappe und das Fräulein Hochzeit als schuldige Seelen.«
»Ihr meint an den Weißen Brettern!«
Der Presi sprach es mit stieren Augen. Er zitterte und sein Gesicht hatte sich verzerrt.
»Was sagt Ihr?« fragte der Garde überrascht.
»O Garde – es ist nur ein schrecklicher Traum, aber er ängstigt mich. Ich habe Binia mit blutendem Haupt neben dem jungen Blatter an den Weißen Brettern gesehen.«
»Herrgott im Himmel, was sagt Ihr, Presi? Das herrliche Kind, wie nicht alle hundert Jahre eins im Berglande wächst, stand blutend an den Weißen Brettern?«
»Ja, mein Kind, meine Bini, die ich so unendlich liebe und dies mich so elend macht.«
Und die Wehmut überwog den Zorn.
»Presi! Träume sind Schäume, sagt man, der Traum aber kommt aus dem Gewissen – es steht böse darin – macht Ordnung – an Seppi Blatter, an Fränzi habt Ihr es verbrochen – macht es am Sohn gut – spürt Ihr nicht, wie das Schicksal Josis und Binias Zug um Zug über Euch ist. – Merkt Ihr es nicht, Presi? – Macht Ordnung!«
Wie Hammerschläge fallen die Worte des Garden auf die Brust des Presi. Er bebt, er schwitzt.
»Wohl, ich merk' es – ich merk' es, Garde, sonst hätte mir das meine Binia nicht angethan – ich hätte den Josi Blatter nicht nach Indien gehen lassen sollen. – O Garde! – Mir ist, ich könnte ihn lieb haben.«
Wie aus gebrochenem Leib stöhnte es der Presi.
Schon glaubte der Garde ihn gewonnen zu haben. Da trat Frau Cresenz in die Stube und wischte die Scheiben des zerschmetterten Glases zusammen. Ohne daß sie recht wußte, was vorgefallen war, jammerte sie: »Das Kind ist halt ganz der Vater, das kann man nicht ändern, das sind zwei harte Köpfe.« Und dann wandte sie sich an den Presi und tröstete ihn mit fraulicher Milde, aber mit Worten, die nicht tief geholt waren und nicht tief gingen.
Der Garde hätte viel darum gegeben, die Frau wäre nicht gekommen oder wenigstens rasch wieder gegangen, als sie aber blieb, da wurde er über die Störung wild und ging selbst.
»Sie ist eine wohlmeinende und rechtschaffene Frau, aber das Weib, die Mutter von unergründlich tiefem Herzen, das an diesen Posten gehört, ist sie nicht.«
So knurrte er, als er über die steinerne Treppe hinunterschritt.
Als er am anderen Tag mit dem Presi reden wollte, war dieser hart wie Glas, die beiden gewaltigen Männer, die sich sonst so gut verstanden hatten, überwarfen sich und der Verkehr von Haus zu Haus hörte auf. Nur Vroni und Binia sahen sich noch zuweilen.
»Bini ist eine Spinnerin geworden!«
So sagten die Leute von St. Peter und streckten dabei den Zeigefinger gegen die Stirn. Man munkelte, sie sei im Kloster Madonna del Lago mißhandelt worden. Um den bösen Segen, den sie und Josi von Kaplan Johannes empfangen haben, zu vertreiben, hätten ihr die Nonnen jede Nacht unter Gebet so viel Wasser, Tropfen um Tropfen, auf das Haupt gespritzt, daß mit dem bösen Segen auch ein Stück guter Seele von ihr gewichen sei. Und das suche und suche sie in Gedanken.
Die thörichten Leute! Binia war allerdings, nachdem sie aus dem Kloster gekommen, eine Weile blaß und wankte wie ein Schatten einher, aber nicht die Nonnen hatten sie, den lustigen Wildling von ehemals, zu der Schweigerin gemacht, die, wieviel in ihr lebte, der Welt nichts als die großen dunklen Augen wies.
Ein einziges, gräßliches Wort des Vaters!
Und jetzt warb er nicht um sie wie einst – er setzte sich nicht an ihr Bett, er flüsterte nicht: »Meine Maus – mein Gemslein.« Er sagte nicht: »Du lieber, lieber Vogel.« Jetzt war auch keine Fränzi mehr da, die ihr zu mitternächtiger Stunde das wirre Köpfchen zurechtsetzte.
Droben in ihrem Kämmerlein schluchzte sie: »Mutter – liebe tote Mutter: Es ist schrecklich – wie mich der Vater verachtet. – Und er ist doch so ein herrlicher Mann. – Und Josi muß ich halt lieben.«
Manchmal wußte sie nicht, war es die Empörung gegen den Vater, war es die Liebe zu ihm, die stärker in ihr wüteten. Ein Blick – ein herzliches Wort – sie wäre jubelnd an seine Brust geeilt. Aber sein Ton blieb kalt wie das Eis der Gletscher, sein sonnenhelles Auge wurde, sobald er sie erblickte, lauernd und mißgünstig. Und das entsetzliche Wort, das er ihr entgegengeschleudert – das saß!
Allein es ist nun wunderbar! In einem jungen Herzen kann die Hoffnung nie sterben. Dazu muß der Mensch alt sein – alt – alt! Mißhandelt ein junges Herz, zerbrecht es. Ein Sonnenstrahl, und lächelnd liest es seine Scherben auf, streicht mit zitternder Hand darüber, und es ist fast das feurige Herz von zuvor.
Wie ein Tännling ist die Jugend. Ein Stein saust aus der Höhe und schlägt ihm die Kerze ab, die er so lustig in das Spiel der Winde erhob. Was thut der arme Tännling? – Er richtet ein Zweiglein gerade auf, das wächst emsig Tag und Nacht und wird zur Kerze, und kaum der Forstmann erkennt noch, daß der Tanne einmal die Krone abgeschlagen war. Aber eine junge, kerngesunde Tanne muß es sein, sonst bringt sie das Wunder nicht zu stande.
Binia war eine junge, kerngesunde Tanne.
Sie wurde die stille Wohlthäterin des Dorfes und übte ihren Herzensberuf mit der Frische und Wärme der Jugend. Sie guckte mit einem guten Lächeln in die Hütten, wo ein Weib, wo Kinder krank lagen, und plauderte Liebes mit ihnen. Sie gewann die Herzen und versöhnte. Wenn sie fort war, lag eine Blume auf dem Bett oder es klang ein Wort nach, das Glück verbreitete – und ihre größte Kunst – sie wußte jedem das, was er bedurfte, so zu geben, daß es kein Almosen war.
»Redet einmal mit Binia, die weiß schon Rat,« sprach man im Dorf, »sie hat noch das bessere Herz als die selige Beth.«
Und seltsam! Der Presi ließ sie gewähren. Wie der Name Josi Blatter, so schwand auch die tolle Besprechungsgeschichte aus den Gesprächen der Leute von St. Peter, sie sagten nur:
»Wie ein Engel geht sie durchs Thal.«
Unter den Gästen war niemand, der sie nicht liebte. Manche junge vornehme Töchter stellten sich wie Schwestern zu ihr: »Binia, Sie liebes gescheites Bergkind, wenn wir Sie nur mit in die Stadt nehmen könnten, man bekommt ja ein heißes Heimweh nach Ihnen.«
Einer aber verging fast vor Eifersucht, wenn ein junger Herr der alpigen Rose ein Röslein schenkte.
Thöni Grieg!
Die schmähliche Versteigung an der Krone, die ihn dem Gelächter des Dorfes preisgegeben hatte, war der Anlaß, daß er nacheinander die Bubenschuhe, zuerst den einen, dann den anderen, ausgezogen hatte. Und nach dem großen Donnerwetter von damals stellte sich der Presi besser als je zu ihm.
Thöni besorgt die Post, die im Sommer wichtig genug war, gewissenhaft, ebenso die Zufuhr der Lebensmittel von Hospel und war den Fremden im Haus durch sein fröhliches Temperament ein angenehmer Gesellschafter.
Mit Binia aber zankte er sich immer noch. Und wie!
»Mache ein anderes Gesicht gegen mich, du Wildkatze mit den Teufelsaugen!«
»Thöni, schäme dich doch, dich hat man ja von den Kronenplanken holen müssen.«
»Ich würde schweigen, wenn ich wegen einem Rebellen in Santa Maria del Lago versorgt gewesen wäre.«
Wütend lief Binia davon. Sie wußte wohl, daß ihr der Vater mit Santa Maria del Lago einen Schimpf angethan hatte – einen Schimpf, den sie erst verdient hatte, als sie mit Josi in die prangende herbstliche Welt hinausgelaufen war. Aber sonderbar, der Tag glänzte wie ein Stern in ihren Gedanken, sie lächelte jedesmal verträumt, wenn sie seiner gedachte.
Doch wenn sie dann vor sich hin staunte, so fuhr Thöni wie ein wildes Tier dazwischen.
»Jetzt denkst du schon wieder an den lausigen Rebellen, Ich töte ihn, wenn er je wieder nach St. Peter kommt. Binia, jetzt gieb mir einmal ein gutes Wort – oder – oder –«
Ein verzehrender Blick traf sie. Eines Tages wußte sie es: Hinter seinen Beleidigungen stand die wütende Eifersucht.
Sie fürchtete Thöni und er merkte es.
»O, ich thue dir nichts,« sagte er vorwurfsvoll, »aber wenn du nicht anders zu mir wirst, so stelle ich an mir selbst ein Unglück an.«
»Thöni,« erwiderte sie kühl, »wenn du das nur über die Lippen bringst, so ist es kein Schade für dich. Du machst ja jetzt Bälzis Kind den Hof.«
»O, nur aus Verzweiflung, daß du, statt mit mir lieb zu sein, mich kratzen möchtest.«
»Dann wollt' ich aber sie nicht sein!« spottete Binia.
Sie gab ihm kein gutes Wort.
Zwischen Thöni und Bälzis Aeltester, die im Bären Magd geworden war, kam es so weit, daß Frau Cresenz, um den Unwillen der Gäste gegen die Liebeleien zu beschwichtigen, das sonst anstellige Mädchen mitten im Sommer entlassen mußte. Jeden Abend, oft noch sehr spät, lief er aus dem Haus, man munkelte, zu ihr.
Es geschah aber heimlich und hinter dem Rücken des Presi, und Frau Cresenz schwieg, sie fürchtete die Händel.
So ging der Sommer.
Da machte Binia in den letzten Tagen zufällig eine merkwürdige Erfahrung. Ein alter ehrbarer Schweizermann, der ihr sehr streng geschienen hatte, den sie aber doch liebte, sagte Abschied nehmend zum Vater: »Schön ist's im Glotterthal – und einMeitli habt Ihr schon, Herr Präsident, daß man noch einmal jung werden möchte!«
Nun horchte sie mit pochender Brust auf die Antwort des Vaters.
»Ja, meint Ihr, ich habe den Vogel nicht auch lieb? – Für wen rackere ich mich denn? Ich hätte den Mut für das Vielerlei des Geschäftes nicht ohne das sonnige Kind!«
Das sagte der Vater, der ihr nie ein warmes Wort, einen vollen rückhaltslosen Blick gab.
Sie mußte an sich halten, daß sie nicht laut aufjauchzte, sie rannte und sprang wie ein Reh und die Gäste fragten: »Haben Sie denn Sonntag in den Augen, Binia?«
»Ja freilich, das Leben ist halt schön!« lachte sie und fort war das Reh.
»Ist das eine liebe Hexe – eine herzbezwingende Gestalt,« redeten die Gäste hinter ihr.
Es war im Herbst, der Vater zählte mehrere Rollen Silber und Gold – er schmunzelte, er lachte, er trank Hospeler dazu. Dann redete er irgend etwas mit Frau Cresenz, die ihn bald wieder verließ, und plötzlich sah Binia, wie er vor sich hin faustete: »Sie ist ein Affe – sie ist ein verdammter Affe. – Die selige Beth hat doch nicht immer Ja gesagt,« hörte sie ihn murmeln.
Binia kannte den Vater genau. Er konnte den Widerspruch nicht leiden, aber wenn ihm von Zeit zu Zeit niemand ernsthaft widersprach, so war es ihm auch nicht wohl. Und daß er der toten Mutter ehrenvoll gedachte, freute sie tausendmal.
Heute war der Vater entschieden verstimmt über Frau Cresenz. »Der Affe! Niemand hat man, mit dem man ein vernünftiges Wort reden kann, als Thöni.«
»Als Thöni!« Binia glühten die Wangen vor Eifersucht, sie hob sich auf die Zehenspitzen und von rückwärts, so daß der Vater sie nicht sehen konnte, lief sie auf ihn zu, schlang die leichten Arme um ihn und drückte ihren frischen roten Mund mit süßem Kuß auf seinen Mund. »Kind! – Binia! – Was willst?« – Der Presi war ganz erschrocken.
Sie lächelte ihn an, fröhlich und schmerzlich zugleich, flehentlich und hoffnungsvoll.
»Kehre mir das Herz nicht um mit deinem Lachen – ich ertrage es nicht.« Der Presi sagte es unsicher.
»Wohl, wohl, umkehren möcht' ich's dir, Vater, ich möchte die Liebe darin sehen! Vater – ich halte es auch nicht mehr aus, ohne daß du ein bißchen lieb mit mir bist.«
Da war der harte Presi überwunden, es ging ein glückliches Lächeln über sein eben noch finsteres Gesicht. Und er nahm ihre beiden Hände: »Ja, Vogel, ich muß mit dir reden. – Du bist ja jetzt in einem Alter, wo man keinen Tag sicher ist, wenn ein junger Mann den fröhlichen Finken einfangen will. – Kind, ich habe nur dich und wünsche, daß du glücklich werdest. Ich gebe dir die Wahl frei und will dir nicht einreden, wen du heiraten sollst, das ist ganz deine Angelegenheit.«
Mit rotem Köpfchen saß Binia da – sie schluckte, als wollte sie etwas sagen.
Ein mißtrauischer Blick des Vaters, dann sagte er streng: »Es giebt einen Namen, der in unserem Haus nicht mehr ausgesprochen wird. Verstehst du! – Im übrigen habe ich dir die Jugendthorheit verziehen.« – –
Binia steht sinnend in ihrer Kammer.
Zwei Jahre noch – dann kommt Josi – er kommt wie ein Held – er tritt mit einer That vor das Volk, so gewaltig, wie noch keine im Bergland geschehen ist – er erlöst St. Peter von der Blutfron an den Weißen Brettern und alle jubeln: »Josi Blatter ist größer als Matthys Jul.«
Und er besiegt den Vater.
So lang will sie tapfer kämpfen, den Vater nicht reizen, aber Josi treu sein im Herzen.
Und unter Thränen lächelnd küßte sie den Tautropfen, den er ihr gegeben hat.
Kapitel Dreizehn
»Pate! – Ein Brief von Josi! Er ist gesund, es geht ihm gut.« Mit strahlendem Gesicht jubelt es die sonst zur Stille geneigte Vroni und hält den in großen ungefügen Buchstaben gemalten Brief in zitternden Händen. »Hört, wie er lautet:
»Liebes Schwesterlein! Ich will Dir auch wieder einmal berichten, wie's mir geht. Es geht mir gut und George Lemmy ist recht mit mir, aber scharf und vom Schaffen klöpft mir schier der Rücken. Das ist gesund. Wir sind jetzt an einem Berg, der heißt Himalaja. Die Stadt heißt Srinigar, aber wir sind nicht darin. Wir machen eine Straße. Liebes Vroneli, Du wirst denken, ich schreibe nicht schön. Das kommt vom Felsensprengen und Du mußt nicht lachen. Thue dich gar nicht kümmern wegen mir. Bet und denk an die Mutter selig. – Und an den Vater selig, was ich auch thue. Es ist dann noch etwas wegen der Binia, aber sie hat es Dir gewiß schon erzählt. Und wenn ich in der Nacht zwei Sternlein beisammen sehe, so sage ich: ›Du liebes Bineli – du liebes Vroneli‹. Ich muß manchmal in den Hemdärmel beißen, sonst würde ich brüllen. Der Indergand vertreibt mir etwa das Heimweh. Das Papier ist aus. Ich lasse das Bineli tausendmal grüßen. Dich auch, den Eusebi und alle. Und ich komme dann schon wieder heim. Schreibe mir recht bald. Dein treuer Bruder Josi. Die Adresse steht auf dem Umschlag.«
Noch am gleichen Tag schrieb Vroni einen viel größeren Brief, als sie empfangen, an Josi. Wie in ihrer Hand die Feder gut lief!
Aber über eine Stelle hinweg wollte sie nicht gehen, auf diese fielen ein paar Tropfen, die den schönen Brief fast verdarben.
Die unglückselige Liebe zu Binia! Sie wollte dem Bruder nichts Betrübliches schreiben, aber sie wußte schon, daß aus dieser Liebe nichts Gutes entstehen konnte. Binia war fast noch die Schlimmere als Josi. Auch jetzt kam sie gelaufen und bat und bettelte, daß sie den Brief lesen dürfe. Als sie ihren Namen darin sah, wurde sie ganz überstellig und tanzte mit Vroni. Und unter den Brief Vronis schrieb sie:
»Tausendmal geliebter Josi! Denke nur immer an die zuckenden Vögel von Santa Maria del Lago und lasse die Hoffnung nicht fahren. Sie haben schon den Tod gesehen, und nun stiegen sie doch über Land und Meer. In herzlicher Liebe und Treue. Dein Bineli.«
Vroni sah den Gruß mit Schmerzen, der trotzige Mut Binias, die doch mehr einer wehrlosen Blume als einer Kämpferin glich, kam ihr wie eine Vermessenheit vor.
Von diesem Kummer abgesehen, ging es Vroni gut.
Wenn sie am Sonntagmorgen mit dem Garden, der Gardin und Eusebi im Glotterhütchen, unter dem die zwei blonden Zöpfe niederhingen, mit blauen lachenden Augen, das hellseidene gefranste Brusttuch über die junge Fülle gekreuzt, das silberbeschlagene Betbuch und den Rosmarinstrauß in den Händen, sittig die Kirchentreppe zum Kirchhof hinaufschritt, so flüsterten die Leute: »Wenn nichts Ungeschicktes dazwischen kommt, so giebt die keine Wildheuerin.«
Am hübschesten aber war die Zwanzigjährige wohl, wenn sie mit Rechen und Gabel frisch und gesund im Morgentau über die Wiesen schritt. Etwas vom stillen Wesen der Gardenfamilie war auf sie übergegangen, ein rasches Vorwärts, ein lautes Thun war nicht ihre Sache, aber was sie in Ruhe that, ging ihr mühelos und anmutig von der Hand. Und wo sie in stillem Frohsinn mitwerkte, lief allen alles leicht, die Knechte sogar sagten es.
Und sie selber wünschte sich nichts Schöneres, als das wandernde Sommerleben der Bauernleute von St. Peter. Für ein paar Tage ritt man, das Notwendigste zum Unterhalt mitnehmend, nach Hospel in die Reben, wo jeder Bauer von St. Peter ein kleines Haus besaß, dann hielt man sich einige Tage auf der Maiensasse auf, um dort das Vieh grasen zu lassen oder zu heuen, wieder etwas später arbeitete man auf dem Acker beim Dorf und am Sonntag ritt die Familie auf die Alpen zu Besuch.
Da saß der ganze Haushalt mit den Knechten vor der Hütte, die Glocken des Viehes klangen friedlich in die tiefe Stille und die Enzianen standen wie im Gebet.
»Vroni, erzähle eine Geschichte,« sagte das eine Mal der Garde, das andere Mal die Gardin, selbst Bonzi, der Viehknecht, war ein dankbarer Zuhörer, und mancher, der des Weges kam, setzte sich auch hinzu, Vronis Glockenspiel hatte bald eine kleine Gemeinde, darunter junge hübsche Burschen, die sich nicht bloß wegen der Geschichten in den Kreis drängten.
»Sie ist halt grad wie die Fränzi selig, darum hält sie der Garde so in Ehren.«
So sprach man im Dorfe, und niemand war Vroni gram, die Burschen aber waren ihr gut.
»Frau,« sagte der Garde, »wir müssen uns entscheiden. Es geht um das Mädchen wie um frisches Brot. Vor vierzehn Tagen hat der Fenkenälpler gefragt, ob sein Aeltester am Sonntag zum Mittagessen kommen dürfe. Er würde Vroni gern einen Antrag machen. Heute ist der alte Peter Thugi gekommen und hat so eindringlich gebeten, wir möchten sie dem jungen Peter geben, er sei ein so guter und ehrbarer Mann. Ich habe aber beiden abgewinkt.«
»Hättest du doch lieber zugesagt,« schmollte die Gardin, »Vroni setzt sich sonst noch in den Kopf, sie bekomme Eusebi.«
»Geschehe nichts Schlimmeres!« erwiderte der Garde.
»Und ich meine, es wäre jetzt, wo Eusebi im Militärdienst ist, gerade die rechte Gelegenheit, daß wir Vroni aus dem Haus bringen, natürlich in allen Ehren. Ich habe nichts gegen sie – es geht mir nur so stark gegen das Herz, daß unser einziger ein Wildheuermädchen nehmen soll. Hätte ich drei Buben, so könnte einer schon Vroni nehmen – aber der einzige. Wir sollten doch auch auf eine gute Verwandtschaft sehen! Und Eusebi ist so zuweg, daß er überall anfragen darf.«
»Das thätest du deinem Buben zuleide, daß du Vroni in seiner Abwesenheit gehen ließest. – Nein, Gardin, Vroni bleibt da!«
Mit Festigkeit erklärte es der Garde.
Frisch und lebensfroh kam Eusebi vom Dienst zurück. »Vater, ich habe mich furchtbar zusammennehmen müssen, daß ich immer nachgekommen bin, aber es ist gut gegangen.« Das spürte man Eusebi an. Er erzählte seine Erlebnisse so hellauf, wie ihn noch nie jemand gesehen.
»Ja, aber Eusebi,« lachte der Garde, »bei uns giebt's auch Neuigkeiten. Vroni bleibt wohl nicht mehr lang da, die Burschen im Dorf gucken sich fast die Augen aus nach ihr, und zwei, die ich nicht verraten will, haben sich schon als Freier gemeldet.«
Vroni, die dabei stand, als der Garde so redete, glühte wie eine Rose auf: »Ich will aber keinen, ich bleibe bei euch, Garde. Und wer wollte sich auch im Ernst um mich kümmern? Es ist mir am wohlsten, wenn ich ledig bleibe.«
Schön war sie in ihrer tiefen Verlegenheit, wie sie, das Haupt gesenkt, mit zitternden Fingern an den Haften ihres Mieders nestelte.
Eusebi aber riß an seinem Schnurrbärtchen, daß es ihm in den zuckenden Fingern geblieben wäre, wär's nicht so fest angewachsen gewesen. Wie unvorsichtig war es, denn der blonde Schnurrbart machte sein Gesicht beinahe hübsch!
Am Abend überraschte die Gardin ihren Sohn, wie er bei Vroni am Herdfeuer in der Küche stand und das Blondhaar des abwehrenden Mädchens zu streicheln versuchte und immer wiederholte: »Gelt, liebe Vroni, es ist dir doch nicht ernst, daß du ledig bleiben willst?«
Halb freute, halb ärgerte sich die Gardin. Nein, das war nicht mehr der scheue, blöde Eusebi. Mit einem Scheit jagte sie ihn aus der Küche und Vroni hielt sie eine Predigt.
Der erwachende Eusebi warb aber so freimütig um Vroni, daß ihre Stellung zwischen Sohn und Mutter immer schwieriger wurde und sie Mühe hatte, sich in den Augen der Gardin untadelig zu benehmen.
Bald aber überschattete ein trauriges Ereignis das im Hause aufblühende sanfte Liebesspiel.
Mehr als ein halbes Jahr, nachdem Vroni ihren Brief mit dem Zusatz von Binia an Josi geschickt hatte, mitten im tiefen Winter, kam das Schreiben, mit vielen Stempeln bedeckt, an zwei Stellen etwas durchschnitten, an sie zurück und auf der Rückseite stand: »Addressee died in the cholera-hospital at Srinigar.« Diensteifrig hatte Thöni schon die Übersetzung auf den Umschlag gefügt: »Der Adressat ist im Cholerahospital zu Srinigar gestorben.« Darunter stand irgend ein Stempel.
Vroni hielt die Botschaft noch in den bebenden Händen, da kam schon Binia in aufgeregter Hast dahergeeilt; »Vroni, liebe Vroni, gelt, das ist nicht wahr, er lebt!«
Vroni aber, die, ihrer Sinne nicht mächtig, auf einen Schemel gesunken war, rief immer nur, daß sich die Wände hätten erbarmen mögen: »Es ist halt nach dem Kirchhoflied gegangen, Josi, mein Herzensbruder, ist tot – o, als er ging, habe ich es gewußt, daß er sterben würde!«
Die großen dunklen Augen Binias erweiterten sich schreckhaft.
Das bereitwillige Eingehen auf die Todesbotschaft und der Zusammenbruch Vronis erschütterten sie mehr als die erste Nachricht, um ihren Mund zuckte das Weinen, sie wankte hinaus in die Winterdämmerung. »Es ist nicht wahr! – Diejenigen, die gelobt haben, für die heligen Wasser an die Weißen Bretter zu steigen, können ja nicht krank werden und nicht sterben, bis ihr Gelübde erfüllt ist.«
Im Volksglauben suchte sie Trost.
Zuerst mißtraute auch der Garde und das ganze Dorf der Todesbotschaft. Hatte man Josi Blatter nicht schon einmal für tot gehalten und dann war er doch wieder lebendig zum Vorschein gekommen!
»Hat er sich gemeldet?« fragte man Vroni. »Nein, das nicht – ich habe nichts gesehen und nichts gehört.«
»Dann lebt er, dem nächsten Verwandten muß sich ein Sterbender melden, und ginge sein Weg über das weite Meer. Vor zwei Jahren hat sich in Tremis einer, der in Amerika gestorben ist, seinem Bruder angezeigt.«
Allein die Tröstungen des Volksglaubens hielten nicht stand vor der herben Wirklichkeit. Der Garde nahm den Brief bei der ersten Gelegenheit mit in die Stadt und legte ihn der Post vor. Da versicherte man ihn, die Stempel seien echt, das Schreiben sei durchschnitten, weil es auf der Rückkehr aus dem Choleragebiet geräuchert worden sei, und die Cholera sei eine Krankheit, die den gesundesten Mann in einer Stunde wegblase.
Der Garde erbat sich aus Bräggen die Adresse Indergands; als sie anlangte, schrieb er an den Kameraden Josis, Vroni sandte noch einmal einen Brief an Josis eigene Adresse, es kamen aber keine Antworten, ja nicht einmal mehr die Briefe zurück, auch das große amtliche Schreiben nicht, mit dem sich der Gemeinderat von St. Peter an den schweizerischen Konsul in Kalkutta wandte, und unter Angabe der näheren Umstände um einen Totenschein für Blatter ersuchte.
Unterdessen war man schon wieder in den Sommer gekommen, und Vroni sagte die Totengebete für den Bruder her, und das Schönste deuchte sie immer das Kirchhoflied:
»Du armer Knabe! Schlaf am Meere!
Sieh, Gottes sind so Flut wie Firn,
Sieh, Gottes sind die Sternenheere,
Er schickt ein Tröpfchen, das die Stirn
Mit frischem Gletschergruß umspült
Und dir das heiße Heimweh kühlt!«
Die tiefe Trauer des Mädchens hielt auch im Dorf das Andenken an Josi Blatter noch eine Weile rege.
In einer seltsamen Gewitterbeleuchtung erschien den Dörflern das kurze Leben Josis. Sein Vater war zu Tode gestürzt, durch die Schuld des Presi war der Bursche auf einen bösen Weg gekommen, er hatte zuletzt die armen Seelen beleidigt, aber schlecht war Josi doch eigentlich nie gewesen, großmütig hatte er sogar sich selbst für die fünf Verstiegenen in die Schanze geschlagen.