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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Er langte wie ein Wahnsinniger nach dem Kopf und hielt den Leib, als ob er Schmerzen hätte. Josi graute es bei diesen Selbstgesprächen des Kaplans, schrecklicher war es ihm aber, wenn Johannes ihn zu peinigen begann.
Immer wieder kam er auf jenen Kuß zu sprechen, den er im Teufelsgarten Binia gegeben.
Ob er sie noch liebe? Ob er begehre, sie wieder zu küssen? Ob er sie einmal nackend sehen wolle? Er könne ihm mit einem Alräunchen dazu helfen. Er wisse, wo ein Alraun wachse, wie man die Wurzel ziehe und schneide, daß daraus ein kleines wunderthätiges Männchen werde.
Schamlos redete der Kaplan.
Josi schoß dann das Blut in die Wangen und er preßte die Fäuste an die Ohren – o, es war schön gewesen hoch oben in der Einsamkeit des Gebirges, das Gift dieses Elenden war entsetzlicher als sie.
»Wann zündest du den Bären an? – Du mußt es thun, solange keine Gäste da sind, die Sünde wäre sonst zu groß. Heute ist eine so finstere Nacht, willst du denen in St. Peter nicht etwas hell machen?«
»Ihr seid ein Teufel, Johannes!« Da lachte der Kaplan widerwärtig: »Ich glaube manchmal selbst, daß ich der Satan bin, aber dich habe ich lieb, bleicher Knabe. Komm an mein Herz, Söhnchen!«
Oft schien die Rede des Kaplans nicht nur Hohn, sondern als hange er mit der ganzen Seele an Josi, denn gerade wenn ihr Vorrat am kleinsten war, nötigte er ihn zu tapferem Essen und litt selber Hunger.
»Im Sommer aber mußt du mir wieder Krystalle suchen, du mußt mein treuer Sohn sein, du gehörst jetzt zu mir, nicht zu denen von St. Peter – aber – aber – Knabe, wenn du mich verraten würdest, ich tötete dich.« Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und murmelte mit seiner hohlen Stimme lateinische Verwünschungen.
»Nur noch einmal die sonnige Vroni mit dem fliegenden Goldhaar sehen, nur noch einmal sie mit ihrer Glockenstimme reden hören.« Müde und traurig war Josi und ihn ekelte vor dem Kaplan.
Aber er hatte den Mut nicht, zu Vroni zu gehen.
Oft froren er und Johannes in der schlechtgeschützten Ruine. Der Wind, der durch die Mauern blies, verjagte die Wärme des offenen Feuers, und wahrscheinlich wäre Josi, der nie wie der Pfaffe in warme Bauernstuben kam, vor Langeweile, Abscheu und Elend gestorben, hätte er nicht auf den Rat des Kaplans, der darin Schätze vermutete, das alte Bergwerk zu durchforschen angefangen.
Die Entdeckungswanderungen gaben seinem Trübsinn eine Ableitung und die Tiefen des Bergwerks schützten besser vor der Kälte als jedes Herdfeuer.
Josi lächelte zwar zu den Hoffnungen des Kaplans, daß er Silbererz finden werde, ungläubig, aber er wühlte sich mit großem Eifer durch das Gewirre von Gängen, Gesenken, Stollen und Weitungen. Eine mühsame Arbeit! Viele Gänge waren eingestürzt, in anderen tropfte das Wasser und bildete kleine Teiche, die Luft war dumpf und feucht. Oft löschte ein Tropfen seine Kerze aus, dann hatte er Arbeit genug, sich in Stunden beklemmender Angst wieder durch die Finsternis ans Tageslicht zu tappen. Wenn er wenigstens Erz gefunden hätte! Aber die Stollen waren wüst und leer. Nein, endlich entdeckte er einen Schacht mit zuckerkörnigem Bleiglanz, der nach den Ueberlieferungen von St. Peter am meisten Silber enthielt. Ein alter Venediger hatte dabei seinen Schlegel und sein Brecheisen stehen lassen. Damit machte er das Erz los und hatte reiche Ernte. Er häufte den Reichtum für Kaplan Johannes, der wie er selbst den Silbergehalt des Erzes weit überschätzte, und über dem Tagewerk im Dunkel des Berges verfloß die Zeit.
Als aber der Schnee zu schmelzen begann, der Frühling an den sonnigen Berglehnen die ersten Blüten hervorlockte, war Josi so elend zu Mut, daß der Gedanke, eines Tages aufgegriffen zu werden, alle Schrecken verlor. Die Lust, auf die Berge zu steigen, war ihm vergangen. Er war wund am Herzen und an den Füßen.
Oft saß er im Teufelsgarten, kaum verborgen vor denen, die des Weges gingen, ließ die Sonne auf den Rücken scheinen und horchte auf das einförmige Klappern an den Weißen Brettern.
Er dachte an seinen Vater, an das große Unglück, aber er hatte gegen niemand einen Groll mehr, kaum gegen den Presi, ihm war alles gleichgültig.
Warum hatten ihn die Leute nicht in die Glotter springen lassen?
Einmal schlief er an der warmen Sonne ein; da war ihm, er rieche Veilchen, nein, eine Mücke krieche ihm durch den Flaum der Oberlippe, er wollte die Hand erheben, aber sie sank ihm bleiern zurück.
Schon eine Weile betrachtete Binia, die wie einst dem Vater entgegengeritten war, den Schläfer. Zuerst mit mächtigem Erschrecken. Auch sie hatte geglaubt, Josi sei tot. Aber der Sitzende, wenn er auch bleich wie ein Toter war, atmete tief und ruhig. Wie namenlos arm war er in seinen Lumpen und Fetzen, durch die der bloße Körper schimmerte. Zwischen dem Filz der langen Haare floß das wässerige Blut offener Wunden und die Frostbeulen an den bloßen Füßen schwärten. Sie schluchzte vor Mitleid. Aber die Freude, daß sie den toten Josi lebendig fand, war stärker als die Trauer über sein Elend. Als sie ein paar Läuse lustig durch sein Haar spazieren sah, stutzte sie, dann kam mitten aus dem tiefsten Mitleid der Schalk zum Durchbruch, sie strich ihm mit dem Veilchensträußchen, das sie sich gesucht hatte, leicht unter der Nase hin und lächelte, als seine Hand sich regte, aber wieder sank.
Noch einmal wiederholte sie das Spiel. Da schoß er taumelnd auf. Er that einen Schrei: »Binia!« Dann aber maß er sie mit einem finsteren, verächtlichen Blick und wollte gehen.
»Schau mich doch nicht so böse an, Josi,« bettelte sie mit feinem, sanftem Stimmchen, indem sie bis in die dunklen Haare errötete und den Blick wie eine Schuldige senkte.
»Was willst du? Ich habe nichts mit dir zu thun,« erwiderte er mit dunklem Groll.
»O, ich freue mich, daß du noch am Leben bist, Josi, gewiß freue ich mich.«
Das tönte so lieb, so hingebend, daß er nun doch aufhorchte. Er erhob sich und setzte sich in einiger Entfernung von Binia auf einen Stein.
Zu nahe bei ihr wollte er nicht sein. Wie war sie schön geworden in den paar Monaten, da er sie nicht gesehen! Wie ein Engel, dachte er. Die Röte der Hagrose prangte duftig auf ihren Wangen, die großen, dunklen Augen hatten die gleiche Lebhaftigkeit wie früher, und doch war noch etwas hinzugekommen, was früher nicht darin war. Etwas Sanftes, etwas unsäglich Liebes, Trauliches. Wie barmherzig sie ihn ansah. Sein letzter Trotz zerschmolz wie Schnee an der Sonne. Und alles, was Kaplan Johannes Häßliches gesagt hatte, war vor ihrer Reinheit und Schönheit aus seinem Gedächtnis entschwunden. Aber er schämte sich wegen seines Aussehens, er war ganz scheu.
Sie fanden den ungezwungenen Ton von ehemals nicht wieder. »Wie groß ist Josi geworden,« dachte Binia, »er ist ja beinahe ein junger Mann,« und beide sahen sich verlegen an.
»Wie geht es Vroni?« stotterte Josi.
»Ihr geht es gut. Hast du sie nicht am Sonntag hier vorbeireiten sehen?« fragte Binia. »Der Garde, die Gardin, Eusebi und Vroni sind zu einer Taufe nach Hospel geritten. Sie trug die Tracht, das Hütchen mit den langen Seidenbändern und ein buntes, seidenes Brusttuch, dazu Geschmeide wie eine Bauerntochter. Wie unsäglich glücklich wird sie sein, wenn sie hört, daß du lebst!«
»Wie eine Bauerntochter,« dachte Josi. Er aber war arm wie jener Lazarus, von dem einmal der Pfarrer gesprochen hatte.
»Was sprechen die Leute von mir. – Sagen sie, ich sei ein Halunke?« Er lächelte bitter.
Binia schwieg purpurrot.
»O, sage es nur, ich weiß es schon – aber weißt, wer mich dazu gemacht hat?«
Binia senkte den zierlichen Kopf. Nach einer langen Pause hauchte sie kaum hörbar und in zitternder Scham: »Mein Vater.« »Ja, dein Vater!« bestätigte Josi vorwurfsvoll.
Ihr stürzten die Thränen aus den Augen, mit einer raschen Wendung kniete sie vor ihm.
»O Josi! – Josi! – Ich weiß, daß ich an allem schuld bin. Aber – o Josi – wenn du keinen Fetzen auf dem Leib hättest und noch zehnmal mehr Läuse auf dem Kopf, ich liebte dich doch!«
Ihre molligen kleinen Hände umspannten seine ausgemergelten Finger, sie sah ihn so rührend demütig an und ihre Stimme bebte wie ein Glöckchen: »Ich habe ohne Absicht über dich gelogen – ich war so krank – aber ich will gewiß alles an dir gut machen, Josi!«
Ihre Lippen berührten seine Hände, ihre Thränen liefen durch seine Finger, er wollte reden, aber er schluchzte nur: »Bini – Bini, wie lieb bist du mit mir.« Der wunderbare erste Gruß aus einer Welt, die er verloren hatte, ging über seine Kräfte.
Da verzerrte sich Binias Gesicht: »Va –«
Ein Peitschenhieb sauste durch die Luft – das Blut strömte über die Wangen Josis.
Vor den beiden stand furchtbar der Presi. Sie hatten das Kommen seines Wagens überhört, er hatte das Vorspanntier ohne Hüterin getroffen und Binia gesucht.
Einen Augenblick waltete die Ruhe grenzenloser Ueberraschung.
Binia starrte entgeistert auf das blutüberströmte Haupt Josis. Da riß sie der Presi hinweg.
Kapitel Zehn
Was man in St. Peter erlebte!
Vor einigen Tagen war es gewesen. Da hatte der Pfarrer, der zwischen Tag und Nacht von Hospel kam, im Teufelsgarten ein unheimliches Stöhnen gehört. Er war ihm als Diener des Herrn, der den Satan nicht zu fürchten hat, nachgegangen und hatte Josi Blatter, den Rebellen, gefunden, den man verhungert und erfroren glaubte. Er hatte Anzeige beim Garden, dem Vormund des Burschen, gemacht, und dieser den schwerkranken, blutrünstigen Jungen, der vor Entkräftung nicht mehr gehen konnte, mit einem Wägelchen in seine Wohnung geholt.
Und gestern war ein neues Ereignis gekommen. Der Presi hatte, ohne daß er vorher mit einem Menschen davon gesprochen hätte, fast heimlich und über Nacht Binia aus dem Dorf fortgeschafft. Wohin? – Die Bärenwirtin erzählte den Dörflern, die es hören wollten, sie sei in eine Erziehungsanstalt verreist, wo sie die fremden Sprachen lerne, die man im Verkehr mit den Sommerfrischlern brauche.
»Es ist aber doch seltsam,« sagten die Leute, und sie ergingen sich in allerlei Mutmaßungen, doch ohne die Ursache der plötzlichen Reise zu ergründen. Und heute hatte der Gemeinderat einstimmig beschlossen, daß Kaplan Johannes den Gemeindebann verlassen müsse, da er einem minderjährigen jungen Menschen Unterschlauf gegeben und in der Auflehnung gegen die Behörden unterstützt habe.
Der Pfaffe schlug ein lautes Gejammer an und eilte in alle Häuser, wo er auf Gehör rechnen konnte. »O, der meineidige Rebell. Wem als mir hat es St. Peter zu danken, daß das Dorf noch steht. Ich schwöre es, er hat es an allen vier Ecken anzünden wollen, nur mit den höchsten Formeln habe ich ihm die Hände binden können. Aber wißt, wißt: Durch den Rebellen Josi Blatter wird früher oder später ein Unglück, wie noch keines erlebt worden ist, über das Glotterthal kommen. Ein Alraun hat es mir im Spiegel gezeigt: Die Kirchhofkreuze hat man in St. Peter ausgerissen und die ganze Gemeinde hat geschrieen: ›Laßt uns den Uebelthäter erschlagen!‹ Und der Bären lag in Schutt und Asche.«
Die Zähne der Weiber klapperten, doch die gruseligen Erzählungen retteten den Kaplan nicht. Gerade die ruhigeren Bürger drangen darauf, daß er jetzt mit fester Hand aus dem Thal vertrieben würde: »Er macht das Dorf verrückt,« sagten sie, »denn die Weiber glauben ihm.« Der Presi, der sich selber zürnte, daß er Johannes zu lange hatte gewähren lassen, schickte kurzerhand ein paar Mann nach dem Schmelzwerk, die das Gerümpel des Kaplans aus der Ruine warfen und sie so weit abbrachen, daß sie sich nicht mehr zur bescheidensten Wohnstätte eignete.
Dafür war besonders der Pfarrer dem Presi dankbar – jetzt, in alten Tagen, konnte er ungestört das Wort Gottes säen, der böse Feind, der immer das Unkraut des Aberglaubens dazwischen gestreut hatte, war vertrieben. Zum Dank dafür richtete der alte Priester, der es sonst für klüger hielt, sich nicht unmittelbar in die Angelegenheit der Bauern zu mischen, am Sonntag ein kräftiges Wort an seine Herde und bat darin, daß man sich des wiedergefundenen Josi Blatter, der in aller Verirrung nichts Böses gethan, in Liebe erbarme.
Die einen hingen nun an Kaplan Johannes, die anderen am Pfarrer.
Inzwischen genas Josi.
Eines Tages spürte er das Gesicht Vronis über sich und er hatte einen wunderschönen Traum: Er, Vroni, die Mutter und Binia saßen auf dem Felsen über dem Haus, sie sangen: »Du armer Knabe, schlaf am Meere,« und die goldenen Schwingen der Abendluft brachten ein leises Echo von den Bergen zurück. Plötzlich aber fing es an zu regnen, die heiße Erde kühlte sich, die Blumen erhoben die Häupter, die ganze Welt trank das köstliche Naß. Der Regen kam aber nicht vom Himmel, es waren Thränen Vronis!
Ja, sie fielen auf seine Wange. Er erwachte, sah Vroni, lächelte, dann fielen ihm die Augen müde wieder zu und er träumte weiter.
Als ein wackerer Mann hatte sich der Garde des verlorenen Sohnes erbarmt, der wiedergefunden war. Er schlachtete zwar kein Kalb zu seinen Ehren, aber er beruhigte die Gardin, die über den unerwarteten Familienzuwachs ungehalten war.
»Hätte Fränzi zehn Kinder gehabt, ich glaube, du würdest mir alle zehn an den Tisch bringen – sind wir eigentlich das Waisenhaus von St. Peter?«
Sie war kein unbarmherziges, sondern ein zu Wohlthaten für andere geneigtes Weib, das keinen Vorwurf der Härte auf sich kommen ließ, aber Josi litt sie nicht wohl. Seit man ihn gereinigt und ihm das Haar geschnitten hatte, war er in aller Verelendung, mit seinem blutroten vernarbenden Riß über die Wange, der hübschere Bursche als Eusebi. Und doch hätte sie auf der Welt nichts Lieberes gehabt als einen eigenen schönen Sohn, als ein ganzes Haus voll schmucker Kinder, Knaben und Mädchen. Heimlich neidete sie nicht nur alle Frauen, die hübsche Kinder besaßen, sondern auch der Anblick fremder schöner Jugend bereitete ihr Herzeleid.
»Aber Frau, siehst du nicht, wie Eusebi wächst und erwacht? Nimm den Segen nicht mit unchristlicher Rede von ihm. Ich habe eine Hoffnung, die ist so groß, daß ich sie nicht verraten darf,« mahnte der Garde.
»Thun wir nicht genug an Vroni?« fragte die Frau.
»Was genug ist, weiß der Herrgott – ich meine, bis er wieder ganz gesund ist, bleibt der arme Bursche da.«
Murrend fügte sich die stolze Gardin.
Vor dem Haus saß Josi auf dem Dengelstein, er sonnte die sich kräftigenden Glieder und ein unsägliches Glück summte in seinem Kopf. Der Garde hatte sehr ernst und väterlich mit ihm geredet. Alles hatte er ihm bekennen müssen, was er das Jahr lang als Rebell erlebt hatte. Dann hatte er ihm in die Hand versprochen, daß er sein Leben lang nie mehr mit Kaplan Johannes verkehre und dem Presi nichts nachtragen wolle.
»Nein – nein,« versicherte Josi, er war ja überglücklich, daß er durch den Streich des Presi wieder unter die rechten Menschen gekommen war.
So viel war der grausame Hieb schon wert.
Da schlarpte der letzköpfige Pfaffe heran und redete dem Burschen, der in einem hübschen Kleid aus einem alten Sonntagsgewand des Garden steckte, schmeichelnd zu: »Du liebes Söhnchen, komme mit mir – bei Fegunden baue ich eine Einsiedelei – du bist es mir für den Winter schuldig, daß du mir sommersüber Krystalle suchst. Im Herbst will ich dich loslassen.«
»Gebt Euch keine Mühe, Johannes, mit Euch bin ich fertig,« erwiderte Josi, den Blick verachtungsvoll von seinem Peiniger wendend.
Da wütete der Schwarze gräßlich: »O du räudiges Schaf – du Lügner – du teuflischer Judas. – Deinetwegen werde ich aus St. Peter vertrieben – Du Satansaas! – du vom Teufel Gezeichneter – du ekliger Dämon! – ich weiß es, du liebst den Balg des Presi noch, aber auf des Teufels Großmutter reite ich, wenn ihr die Hände nacheinander streckt, zwischen euch; meine weiße Seele werfe ich dafür hin, daß ihr nie zusammenkommt.«
Josi lächelte über die Ohnmacht des Tobenden: »Thut, so wüst Ihr wollt, ich glaube nicht an Eure schwarze Kunst.«
Mit entsetzlichen Flüchen ging der Kaplan. Josi lächelte immer noch verträumt in sich hinein. In die Schläfrigkeit der Genesung gaukelten die lieblichsten Bilder: Binia und Vroni! – Vroni und Binia! Es war ihm, als habe die Begegnung mit Binia im Teufelsgarten allen seinen Gedanken eine andere Richtung gegeben, sein Wesen mit Licht übergossen. Wie ein Engel war sie in den dunklen Kreis seines Elends getreten, er schämte sich, daß er sie so viele Jahre in seinem Herzen nie anders als die »Giftkröte« genannt hatte. Er sann allerlei schöne Namen aus für sie. Glich sie nicht jenem leuchtenden Krystall, den man Tautropfen nennt?
»Tautröpfchen, Tautröpfchen, du liebes, wo bist du jetzt?«
In seiner Brust brannte das Mitleid mit der, die seinetwegen aus dem Thale hatte gehen müssen.
Der Garde hatte ihn zwar eindringlich gemahnt, daß er sich jeden Gedanken an Binia aus dem Kopf schlage, das sei überspanntes Zeug, aber ihm klang es immer in den Ohren: »Wenn du keinen Fetzen auf dem Leib hättest und noch zehnmal mehr Läuse auf dem Kopf – o Josi – ich liebte dich doch.« Das rauschte wie Orgelton durch seine Sinne; wenn es auch der Garde nicht ausdrücklich gewünscht hätte, so hätte er es schon um Binia gethan: er sagte keinem Menschen, woher der häßliche rote Strich auf seiner Wange kam.
Dafür mußte er es freilich dulden, daß ihn jeder, der des Weges ging, mit neugieriger Scheu betrachtete und die Leute von St. Peter es einander zuraunten: »Seht, der Kaplan Johannes hat doch recht, der Teufel hat den Rebellen gezeichnet, damit er ihn kennt, wenn er ihn holen kann.«
Die Geschichte machte dem Garden schwerer als Josi selbst. Mit gelassener Ruhe suchte er für den Burschen bei rechtschaffenen Leuten einen neuen Dienst, erhielt aber überall ausweichenden Bescheid: »Ja, als er zu Bälzi kam, hätten wir ihn auch genommen, aber jetzt – man weiß nicht, was er in dem Jahr aufgelesen hat und einem ins Haus bringen würde. Und hat er nicht St. Peter anzünden wollen?«
Doch forderte wenigstens niemand mehr, daß man ihn ins Gefängnis werfe. Den breiten, schwerfälligen Garden aber hielt das Dorf für einen gutmütigen Narren.
Der obdachlos gewordene Kaplan Johannes ging erst aus der Gemeinde, als man ihn bei knappstem Futter einige Tage eingesperrt hatte. Sein Abschied waren gräßliche Flüche auf den Presi: »Holt der Satan nicht ihn,« schwor er mit rollenden Augen, »so holt er sein Kind.«
Der Presi hatte aber genug Arbeit mit den Fremden, die wieder nach St. Peter kamen und mit fröhlichem Lachen durch das Bergthal schweiften – Schweizer, Deutsche, Franzosen und – der erste Engländer. Auf diesen war er besonders stolz, erst die Engländer gaben seiner Meinung nach einer Sommerfrische die Vornehmheit, die man sich wünschte.
Ein Lord war nun freilich George Lemmy nicht, aber – was fast ebensoviel bedeutete – ein Ingenieur der britischen Regierung in Indien.
Er war bergsteigermäßig gekleidet, trug Nagelschuhe, grünwollene Strümpfe mit gewürfeltem Muster, graue Kniehosen, graue Jacke und grünen Filz. Er war ein Dreißiger mit blondem, kurzgeschnittenem, zugespitztem Bart, gelblichem, ausgemergeltem Gesicht, prachtvollen Zähnen, ein Mann von beinahe schwächlichem Körperbau, aber von überraschender Energie des grauen Auges und der Haltung. Er wußte immer genau, was er wollte, und setzte es mit einer gewissen Schärfe durch. Und als der Presi die wissenschaftlichen Apparate sah, die sich Georg Lemmy nachführen ließ, galt es ihm für ausgemacht, daß er ein Besonderer sei.
»Nun, Herr Bärenwirt, hätte ich gern einen vertrauenswürdigen Mann oder Burschen, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, als Träger und Begleiter.« Der Engländer sprach sein Deutsch gut, wenn auch mit stark englischer Betonung.
Der Presi stellte ihm den lustigen Thöni Grieg zur Verfügung. George Lemmy pfiff eine Melodie vor sich her und maß den Burschen mit einem scharfen Blick: »Well, ich will ihn prüfen!« Aber am dritten Tag kam er wieder: »Ich mag Thöni nicht, er schwatzt mir zu viel, er ist eingebildet wie ein Hahn und schwindelt, daß die ganze Geographie dieser Gegend ins Wanken kommt.«.
Da machte der Presi ein langes Gesicht: Was verstand der frisch angekommene Engländer von der Gegend? Er wagte einige Einwendungen, man sei mit Thöni bis jetzt immer zufrieden gewesen, der Ingenieur aber schlug seine Karten auf und erklärte dem Presi die Aufschneidereien Thönis mit Heftigkeit.
Der Presi stand und that so, als ob er auch etwas von den Karten verstände, und seufzte verlegen.
»Ich will mir selbst einen Mann suchen.« Damit klappte der Ingenieur die Karten zusammen. Er hatte sich beim Presi in einen großen Respekt gesetzt, Thöni aber, der sonst so aufgeblasene junge Herr, schlich herum wie ein gezüchtigter Hund. Er wußte es schon, wie oft er die Fremden mit den tollsten Angaben beschwindelt hatte. Jetzt war er an den Unrechten geraten. Und der Presi sah's kommen: Sein erster Engländer fand in St. Peter keinen, der mit ihm ging – er reiste wieder ab.
Nein, nach einer Stunde kehrte der Ingenieur zurück, pfiff vor sich her und lachte befriedigt: »Ich habe ihn schon – habe ihn schon« – und rief Josi Blatter, der etwas zögerte, vor dem Presi zu erscheinen, lustig zu: »Komm, zeige dich, Boy!«
»Teufel auch,« knirschte der Bärenwirt leis, und als er die rote Narbe auf der Wange des Burschen sah, ging ihm doch ein Stich durch die Brust.
»Josi, ist der Garde auch einverstanden, daß Ihr Bergführer werdet?«
Josi war über zweierlei verwundert, über den freundlichen Ton, den der Presi anschlug, und darüber, daß er ihn mit »Ihr« anredete. Er stotterte es beinahe: »Ja, ich finde halt sonst nichts zu thun.«
So war's! Mit schwerem Herzen hatte der Garde, als die Augen des Jungen hoffnungsvoll aufflammten, eingewilligt, daß er mit dem Fremden gehe. Nur aus bitterer Verlegenheit, nur weil sich niemand des Burschen annehmen wollte, weil die Gardin stets über den ungebetenen Kostgänger murrte, obgleich der kaum Wiedergenesene überall tüchtig zugriff, wo er etwas zu thun sah.
»Was denkt das Dorf? – Wohl, er, er, der Garde, helfe mit am Hudligwerden!«
Als der Presi den Bescheid des Garden hörte, lächelte er sonderbar befriedigt, aber Josis Gesicht verfinsterte sich, er erriet, was sein Gegner dachte, und der Engländer mit den stechend klugen Augen merkte, daß die beiden übers Kreuz standen. Lustig sagte er: »Bitte, besorgen Sie meinem Boy ein Nest, er kann, wo er bis jetzt gewohnt hat, nicht bleiben. Haben Sie im Bären einen Schlupf für ihn?«
Das war nun dem Presi doch zu viel. Er ging zu den armen Leuten, die in Josis Vaterhaus wohnten, und mietete dort für den Burschen das Dachkämmerchen, in dem er zu Lebzeiten seiner Eltern geschlafen hatte. Ein saurer Gang, aber der Presi wollte es mit dem Garden, der das Häuschen und den Acker verwaltete, nicht ganz verderben und der grollte ihm wegen Josi schwer.
Als er zurückkam, meinte Thöni eifersüchtig: »Ihr werdet es doch nicht zugeben, daß der Rebell Führer wird!«
Da schnauzte ihn der Presi an: »Ich glaube, daß der eher auf einen grünen Zweig kommt als du.«
Thöni hatte seine Schwächen. Das wußten nicht nur der Bärenwirt und seine Frau, sondern bald auch die Gäste. Die Damen, die in der Sommerfrische waren, trieben häufig ihren heimlichen Ulk mit dem fröhlichen Jungen, indem sie seine kleinstädtische Galanterie herausforderten und dann mit ihrem Spott über ihn fielen.
Das brachte den Wirtsleuten manchen stillen Aerger und oft donnerte der Presi: »Herrgott, Thöni, so ziehe doch einmal die Bubenschuhe aus. Du bist ja der Narr aller.«
Dann stellte sich der schöne Thöni einige Tage beinahe hochmütig gegen die Fremden, aber er erlag ihren Schelmereien immer wieder.
Jetzt merkte er erst, wie wild der Presi über seinen Mißerfolg bei dem Engländer war, und nachdem er zuerst mit dem größten Hohn auf Josi Blatter gesehen, haßte er ihn. Eines nur ließ ihn den Engländer leicht verschmerzen, die Lasten, die er dem Rebellen zu tragen aufbürdete!
Jeden Morgen erwartete Josi seinen Ingenieur und schleppte ihm die Instrumente, insbesondere den photographischen Apparat, nach. George Lemmy photographierte, indem er dazu fortwährend pfiff. Berge, Häuser, Bäume, Viehgruppen, spielende Kinder. Selten aber sprach er ein überflüssiges oder gar ein freundliches Wort zu seinem Gehilfen, doch gab es in seinem Verkehr so viel Neues zu sehen, daß Josi das Leben überaus kurzweilig erschien. Er lernte die Instrumente handhaben und die Furcht, sein Herr würde ihn eines Tages entlassen, verschwand vor dem beglückenden Gefühl, daß er ihm nützlich sei.