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Die Weltensegler. Drei Jahre auf dem Mars.
„Ich vermutete schon unten auf unserm Planeten, daß wir hier oben Wesen von hoher Vollkommenheit antreffen würden, ich gestehe aber, daß meine Erwartungen in jeder Richtung weit übertroffen worden sind,“ antwortete Stiller.
„Freilich, bieten können wir den Menschen hier nichts, aber auch rein gar nichts. Und das drückt mich persönlich schwer,“ warf Thudium ein.
„Was sollten wir ihnen auch bieten? Vielleicht von unserm Pessimismus, von der widerlichen Selbstsucht, von der unser Leben vergiftenden Unwahrheit? Alles Kennzeichen unserer Zivilisation!“ rief in ehrlicher Entrüstung Professor Piller.
„Sie haben recht, Piller, leider nur zu recht,“ bestätigte Professor Stiller. „Mars bietet entschieden heute schon das, was den Geschlechtern auf der Erde vielleicht erst im Laufe der kommenden Jahrhunderte zuteil werden wird.“
„Ob es wohl je dazu kommen wird?“ seufzte Frommherz.
„Daran ist nicht zu zweifeln,“ entgegnete Hämmerle. „Mars hat ohne Zweifel einst dieselben oder wenigstens ähnliche Stufen in seiner zivilisatorischen Entwicklung durchgemacht wie die Völker der Erde. Seine Kultur ist nur bedeutend älter.“
„Jawohl, um Tausende und Abertausende von Jahren. Die Frage ist nur die, ob wir überhaupt die Fähigkeit haben, bei der Entartung unserer Rassen – ich betone das Wort Entartung nochmals ganz besonders! – die Höhe der Marskultur zu erklimmen. Ich möchte es bezweifeln!“ schrie Piller und suchte seine zornige Erregung durch einen Schluck Wein zu besänftigen.
„Piller, Sie sind ja selbst Pessimist und ungerecht wie immer,“ tadelte Dubelmeier.
„Ich Pessimist? Und ungerecht? Was verstehen Sie denn darunter?“
„Darüber lasse ich mich mit Ihnen in keine Aussprache ein!“
„Oho! Also beleidigen wollen Sie mich, wie es scheint?“
„Fällt mir gar nicht ein; dazu sind Sie mir viel zu lieb und wert, Sie alter Alkoholikus! Aber ungerecht und pessimistisch ist es meines Erachtens, wenn Sie so schroff unsern Völkern auf der Erde die Fähigkeit einer gesunden Weiterentwicklung absprechen.“
„Ich möchte Freund Dubelmeier beistimmen,“ warf hier Stiller ein. „Piller, nehmen Sie doch uns zum Beispiel als Modelle an!“
„Schöne Modelle, fürwahr!“ brummte Piller, sichtlich besänftigt durch den genommenen Schluck Wein.
„Freilich, Modelle von Erdensöhnen, wie ich ohne allzu große Selbstüberhebung sagen darf; vertreten wir doch bis zu einem gewissen Grade die Zukunft. Was wir heute auf dem Gebiete der allgemeinen Bildung und der Entwicklung des moralischen Gefühles vertreten, wird später mehr und mehr das Gemeingut der Massen der Kulturvölker auf unserer Erde.“
„Wer’s glauben mag!“
„Es ist nicht allein mein Glaube, nein, es ist, auch meine felsenfeste Überzeugung, gestützt auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit.“
„Stiller, ich will Ihnen nicht widersprechen, denn ich möchte mich nicht noch mehr ärgern, sondern im Gegenteil froh darüber sein, daß ich hier oben in dem reizenden Lumata sitzen darf.“
„Ein vernünftiger Ausspruch, der aller Ehren wert ist. Und nun Friede, meine lieben Freunde!“ rief Frommherz.
„Einverstanden!“ fügte Brummhuber bei.
Einige Tage waren seit dieser Unterhaltung verflossen. Da erschien Eran, der Patriarch aus dem Stamme der Alten, wieder einmal im Heim seiner Gäste und lud die Herren ein, mit ihm für kurze Zeit nach Angola zu reisen. Freudig stimmten die Herren bei. Diesmal wurden in Angola Schwabens würdige Söhne von dem Stamme der Weisen förmlich empfangen. Vollzählig hatten sie sich hier versammelt, um nebenbei auch noch über eine Reihe wichtiger innerer Fragen zu entscheiden. Gleichzeitig tagte auch noch der Stamm der Ernsten, um in einer Versammlung, wie sie von Zeit zu Zeit stattfand, Gedanken und Beobachtungen wissenschaftlicher Art untereinander auszutauschen.
Die Aufnahme der Erdensöhne in Angola ließ an Herzlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ihre so wunderbare und schnelle Fahrt von der Erde her durch den ungeheuren Weltraum nach dem „Lichtentsprossenen“, wie die Marsiten ihren schönen Planeten nannten, war begreiflicherweise zuerst der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung und des lebhaftesten Interesses.
Bei der ersten Sitzung des Stammes der Ernsten, die in einem großartig ausgestatteten Saale eines Marmorpalastes stattfand, erklärte Professor Stiller die verschiedenen Umstände, die ihn zur Konstruktion des Weltenseglers und zu der kühnen, mit so großem Erfolge gekrönten Fahrt bestimmt hätten. Er erzählte ihnen ferner von seiner engeren und weiteren Heimat, von den Völkern Europas und von der Erde überhaupt. Letztere war den Ernsten wohl bekannt. Die Begriffe, die sie sich von ihr dank ihren außerordentlich scharfen Instrumenten und ihrer Vorstellungskraft zu machen verstanden, kamen der Wirklichkeit verblüffend nahe. So wußten die Marsgelehrten, daß das dritte Kind des Lichtes (als Kinder des Lichtes bezeichneten die Marsiten alle Planeten), die Erde, Eismassen an ihren Polen führe, die einen ansehnlichen Bruchteil des Meerwassers in feste Bande geschlagen haben, und daß die Oberfläche der Erde von über siebzig Prozent Meerwasser bedeckt sei. Auch daß die Erdatmosphäre reich an Wasserdampf sein müsse, schlossen sie aus dem Verhältnis des Festlandes zu den Meeren. Die Dichtigkeit der Erde war ihnen genau bekannt, ebenso ihr Polar- und Äquatorialdurchmesser, ferner die Geschwindigkeit ihrer Bewegung um sich selbst wie um das „ewige Licht“, die Sonne, und dergleichen mehr.
Ja, auch von den einzelnen Erdteilen hatten sie richtige Vorstellungen, und diese gingen sogar so weit, daß sie eine Reihe einzelner größerer Länder oder Gebiete zu unterscheiden vermochten. Um so weniger schwer war es daher den gelehrten Fremden, die Marsiten gewissermaßen, auf der Erde spazierenzuführen, von der sie bereits so achtungswerte Kenntnisse besaßen. Und so entwarfen sie ihnen ein genaues Bild ihres Vaterlandes und berichteten von dem Ort am Neckar, von dem sie nach dem Mars abgefahren waren.
Allen diesen Schilderungen brachten die Weisen sowie die Ernsten das lebhafteste Interesse entgegen. Dieses Interesse steigerte sich noch, als sie vernahmen, daß die sieben Schwaben ebenfalls zu einer Art Stamm der Ernsten unten auf der Erde gehörten. Die Herren wurden daher eingeladen, vor der versammelten Elite der Marsiten ihre Berufsarten näher zu beleuchten, das heißt die Zustände zu schildern, unter denen sie auf der Erde und bei ihrem Volke ausgeübt würden. Gleichzeitig wurde der allgemeine Wunsch ausgedrückt, die Fremden möchten ein genaues Bild von dem Leben und Treiben der Bewohner der Erde entwerfen, das dann zu einem Vergleiche mit den bestehenden Verhältnissen auf dem Mars herangezogen werden sollte.
Es wurde ausgemacht, daß jeder der Professoren an einem bestimmten Tage abwechselnd zwei Vorträge halten solle, den einen fachlich und den andern über das allgemein interessierende Thema der Erdbewohner und deren kulturelle Zustände. Die Professoren entledigten sich ihrer Aufgabe in meisterhafter Weise. Sie erzählten von dem derzeitigen Stande der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in den Kulturländern der Erde, besonders in Deutschland, beleuchteten ehrlich und rückhaltlos offen die politischen und sozialen Gegensätze unter den wenigen um die führende Rolle im Leben der übrigen Völker kämpfenden Nationen. Sie schilderten all die Mittel der List, der Gewalt und Verschlagenheit, die dabei angewendet würden, und erklärten den Marsiten, was unten auf der Erde unter der Bezeichnung „Diplomatie“ alles verstanden werde.
Sie verschwiegen auch die trüben Erscheinungen nicht, die der mehr und mehr sich zuspitzende Kampf um das Dasein, der Wettstreit bei der Beschaffung der notwendigsten Lebensbedürfnisse für die große Mehrzahl der Menschen, sowohl der einfachen als auch der gebildeten Erdbewohner, mit sich bringe. Unumwunden räumten sie ein, daß dem Fortschrittsdrange der Kulturvölker leider überall auf der Erde alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt würden durch allerlei einengende Einrichtungen und kleinliche Bestimmungen, daß die Massen der sogenannten gebildeten Völker trotz gewaltiger Fortschritte in der Technik und in den Naturwissenschaften immer noch weit entfernt von dem Ideale einer reinen Weltanschauung seien.
Letztere werde nur von einem verhältnismäßig kleinen Bruchteile der wirklich Hochgebildeten vertreten, und auch diese kleine Schar der Auserlesenen sei mit geringen Ausnahmen von der schwersten und schlimmsten Krankheit der Zeit angesteckt: der Feigheit. Man wage unten auf der Erde bei den Kulturnationen – von den weniger zivilisierten Völkern ganz zu schweigen – nicht, offen und klar das zu sagen, was man denke, aus Furcht, bei mächtigeren Personen anzustoßen und dadurch seine Existenz zu gefährden. Die Empfindungen würden daher auch selten mit den Handlungen in Einklang gebracht. Infolgedessen herrsche überall ein mehr oder weniger großer Mangel an Mut und Ehrlichkeit der Überzeugung, und die aus der Heuchelei geborene Lüge hindere den Sieg der Wahrheit und lasse immer noch sehr viele auf die Dauer doch als völlig unhaltbar erkannte Einrichtungen, ungesunde, unvernünftige, der reinen Weltanschauung und dem Volkswohle geradezu feindlich gegenüberstehende Zustände weiter bestehen.
Mit freudigem Staunen hätten sie auf dem Mars Verhältnisse angetroffen, die dem Ideal des Lebens und des reinen Menschentums, das sie sich gebildet, und dessen Verwirklichung von den Besten der Nationen unten auf der Erde so heiß angestrebt werde, in der schönsten Weise entsprächen.
In dieser Art äußerte sich mehr oder weniger jeder der Herren. Frommherz fügte diesen Berichten noch einige Bemerkungen über die religiösen Anschauungen und die kirchlichen Einrichtungen Deutschlands hinzu.
Voll Aufmerksamkeit hatten die Weisen und die Ernsten diese Auseinandersetzungen der Erdensöhne angehört. Die wissenschaftlichen Darlegungen der Fremden brachten den Marsiten nichts Neues, die sozialen und übrigen Bilder, die ihnen von ihren Gästen so lebhaft vor Augen geführt worden waren, hatten ihr Interesse am meisten erregt. Mit keinem Laute waren die langen Vorträge unterbrochen worden.
Als Stiller den Schluß der Vorträge verkündet hatte, zogen sich die Weisen und die Ernsten zu einer gemeinsamen Beratung zurück, von der die sieben Schwaben ausgeschlossen waren. Das Ergebnis dieser Beratung aber sollte ihnen später bekannt gegeben werden.
„Was die nur vorhaben?“ fragte besorgt Frommherz.
„Nun, ich denke, sie werden scharfe Kritik an unsern Schilderungen üben, wozu sie ja auch vollkommen berechtigt sind,“ antwortete Stiller.
„Und uns dann den Laufpaß geben, passen Sie auf,“ fügte Brummhuber bei.
„Dies zu tun, sind unsere Wirte viel zu anständig,“ entgegnete Piller, „obwohl ich nicht bestreiten will, daß die Marsiten zu einer Einladung, unsere Abreise endlich einmal in den Kreis unserer Überlegung zu ziehen, ein gewisses Recht hätten.“
„Warten wir ab, was kommt!“ entschied Dubelmeier.
„Bleibt uns auch nichts anderes übrig,“ seufzte Frommherz, der seiner religiös-kirchlichen Darstellungen wegen ein etwas bedrücktes Gewissen hatte.
Aber es war doch eine gewisse Unruhe, die die Erdensöhne beherrschte, als sie miteinander durch die paradiesisch schönen Parkanlagen von Angola spazierten, während die Beratung der Marsiten stattfand.
Am nächsten Tage, dem zehnten ihres Aufenthaltes in Angola, wurden die Schwaben wiederum in feierlicher Weise in den großen Sitzungssaal geführt, in dem sie ihre Vorträge gehalten hatten. Der Älteste unter den Alten, eine Hüne von Gestalt, Anan mit Namen, erhob sich und begrüßte zunächst wieder in herzlichen Worten die Eingeführten.
„Meine lieben Freunde!“ sprach er weiter zu ihnen. „Wir alle haben gestern mit lebhaftester Teilnahme eure Schilderungen vernommen, die ihr von den allgemeinen und besonderen Verhältnissen eures Weltkörpers entworfen habt. Diese Schilderungen haben in uns merkwürdige Gefühle und Empfindungen ausgelöst, so daß wir uns über sie zuerst in aller Ruhe klar werden wollten, bevor wir euch mit unserem schuldigen Danke zugleich auch eine Antwort auf das Gehörte geben. Dies war der Grund, warum wir uns zu einer Beratung unter uns zurückgezogen haben. Vor allem danken wir euch für die anerkennenswerte Offenheit, mit der ihr uns das Leben eurer Kulturvölker geschildert habt. Uns muteten eure Berichte im ersten Augenblicke wie Märchen an. Wir würden sie auch als solche auffassen, wären wir nicht von dem Ernste eurer Lebensauffassung, von eurer Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit vollkommen überzeugt. Nicht vergeblich haben wir euer Leben in Lumata beobachtet. Das Ergebnis dieser Beobachtung war unsere Einladung hieher, das Zeichen unserer Achtung und unseres Vertrauens. Und nun wende ich mich zu euren Auseinandersetzungen. Umsonst haben wir in der Geschichte unserer Vergangenheit geblättert; solch barbarische, von der Unwahrheit beherrschte Zustände im Leben der einzelnen wie der Völker, wie sie bei euch noch bestehen, haben wir in diesem Umfange glücklicherweise nie gekannt. Gewiß, es fehlte auch uns nicht an inneren Kämpfen, an schweren Enttäuschungen aller Art, bis wir uns endlich im Laufe der Zeit zu den Lebensverhältnissen und Lebensauffassungen durchgerungen haben, die ihr bei uns heute bewundert. Aber unsere Entwicklung vollzog sich weniger mühselig, weniger schmerzhaft als die eure. Schon vor Urzeiten hatte sich bei uns in der breiten Masse des Volkes die Erkenntnis durchgerungen, daß unsere erste Aufgabe unsere Erhebung, nicht aber das Verharren in unserer Niedrigkeit sei, aus der wir hervorgegangen sind. Diese unsere Erhebung und Entwicklung zur reinen Freiheit konnte nur durch eine vernünftige, naturgemäße Aufklärung kommen, die uns für das hehre Licht der Wahrheit empfänglich machte.
Ihr, liebe Freunde, habt während eures längeren Aufenthaltes bei uns nach und nach die Wege kennengelernt, die wir eingeschlagen haben, um dieses hohe Ziel zu erreichen, Wege, die wir, weil sie sich bewährt haben, auch heute noch wandeln und fernerhin wandeln werden. Darüber will ich kein Wort mehr verlieren. Gerne wollen wir auch zugeben, daß wir es mit unserem Entwicklungsgange ungleich leichter gehabt haben, als ihr es in dieser Beziehung unten auf der Erde noch habt. Hier bei uns haben wir ein ziemlich gleichmäßiges, in Sprache, Denken und Empfinden übereinstimmendes Volk, während dies auf eurem Planeten nicht der Fall ist. Wir konnten uns daher mit viel weniger Schwierigkeiten und ohne den von euch geschilderten furchtbaren Massenmord, Krieg genannt, zu der Höhe unserer Kultur erheben, die eurem Ideale nahe kommt. Wir hatten also diese entsetzlichen Verwirrungen nicht zu überwinden, die eurem Glücke und Fortschritte so fürchterlich hemmend entgegentraten und noch drohend entgegenstehen.
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein brüderlicher Gemeinsinn besteht bei uns seit Äonen. Es bildet den fundamentalsten Bestandteil unseres Bewußtseins und die Triebkraft unseres Handelns. Bedauerlicherweise fehlt bei euch dieses mächtige Gefühl der Zusammengehörigkeit oder ist zum mindesten noch nicht in dem Maße vorhanden, als zum Wohle des Ganzen so dringend nötig wäre. Der Grund eures Tiefstandes liegt meines Erachtens nach in dem Mangel an jener einfachen, natürlichen Moral, die unser Leben so vorteilhaft beeinflußt.
Für uns war es schmerzlich zu hören, wie bei euch jeder Fortschritt, auch der kleinste, durch ein Meer von Tränen, von Blut und zertrümmerten Existenzen führt. Und doch, – ihr selbst sagtet es ja – es muß und wird einst besser bei euch auf der Erde werden. Ihr selbst seid dafür die lebendigen Zeugen, denn ihr stellt heute schon das vor, was die Masse bei euch nach eurem eigenen Ausspruche in späterer Zeit sein wird. Wackere, brave Männer von der geistigen Bedeutung wie ihr müssen daher unten auf der Erde wirken, an der Weiterentwicklung ihrer Brüder arbeiten. Wenn auch der einzelne von euch bei dieser schwierigen Arbeit keine volle Befriedigung empfindet, – dies gilt ja von allem Streben nach noch nicht Erreichtem! – so bedenkt, daß die Folgen der Arbeiten an dem Werke der Vervollkommnung eurer Mitmenschen zwar nicht euch, so doch euren Nachkommen zugute kommen werden.
Unser Rat lautet dahin: Kehrt zurück auf eure Erde!“ – „O Himmel, ahnte ich es doch!“ klagte bei diesen Worten Anans Professor Frommherz leise vor sich hin. – „Schweigen Sie, Jammerseele!“ herrschte ihn unsanft Piller an. – „Kehrt zurück in euer Schwabenland, zu dem biedern Volke, aus dessen Mitte ihr stammt, und widmet euch dort wieder dem erhabenen Werke der Vervollkommnungsarbeit. Ferne sei es von uns, euch von hier wegdrängen zu wollen, ihr seid und bleibt uns werte Gäste.“ – „Dem Himmel Dank!“ murmelte hier Frommherz. – „Aber ich gestehe es aufrichtig, und ich spreche hier die Ansicht von allen meinen Brüdern und Schwestern aus: Ihr seid die ersten und zugleich die letzten fremden Wesen, die von einem der fernen Kinder des Lichtes zu uns gelangen durften. Denn dies ist der Hauptpunkt, das Endergebnis unserer Verhandlung. Im Interesse unseres Volkes lehnen wir weiteren Verkehr ab. Nicht mit euch, – ich betone nochmals ausdrücklich, daß ihr uns werte, liebe Gäste und Freunde seid, – nein, überhaupt; denn wir haben keine Gewähr dafür, daß nicht auch einmal Fremde zu uns gelangen könnten, die nicht auf der Höhe der Anschauung stehen wie ihr und deren Benehmen bei längerem Aufenthalte wahrscheinlich dann nur zu unerquicklichen Auseinandersetzungen und schließlich zu einer gewaltsamen Entfernung von hier führen müßte. Das wollen wir uns aber ersparen.
Eure kühne Reise wird zwar so bald nicht wieder Nachahmer finden. Doch kann man dies nicht wissen, und so haben wir bereits die bestimmte Weisung gegeben, künftig und für alle Zeiten auf unserem Lichtentsprossenen kein Luftschiff mehr landen zu lassen, woher es auch kommen möge, und wäre es auch aus dem uns durch euch so sympathisch gewordenen Schwabenlande. Bleibt bei uns, wenn ihr wollt, oder fliegt über kurz oder lang wieder heimwärts. Wir stellen dies ganz in euer Belieben und sind und bleiben stets eure aufrichtigen, treuen Freunde. Ich bitte euch, liebe Brüder und Schwestern,“ – mit diesen Worten wandte sich Anan an die Marsiten – „ruft mit mir: Glück und Heil den sieben Schwaben, unsern lieben ersten und einzigen Gästen!“
Sechstes Kapitel
Im Reiche der Vergessenen
Mit gemischten Gefühlen kehrten die Herren von Angola nach Lumata zurück. Sollten sie auf dem Mars bleiben oder sollten sie gehen? Das war die ernste, schwerwiegende Frage, die sie in den folgenden Monaten beschäftigte.
„Wenn uns die Marsiten in Angola auch nicht geradezu den Stuhl vor die Tür gesetzt haben, so haben sie uns doch deutlich genug zu verstehen gegeben, daß wir unsere sieben Sachen zusammenpacken sollen,“ äußerte sich eines Tages Piller zu seinem Kollegen Stiller.
„Sie haben recht! Und ich muß Ihnen auch aufrichtig erklären, daß mir dieses unproduktive Leben, diese an uns geübte weitgehende Gastfreundschaft, für die wir uns auch nicht im geringsten erkenntlich zu zeigen vermögen, zuwider zu werden anfängt. Einmal müssen wir doch an das Fortgehen denken, denn bis ans Ende unserer Tage können wir wohl nicht hier oben sitzen bleiben.“
„Hm, hm, gerne gehe ich von Lumata nicht fort; es wird mir wirklich sehr schwer! Denke ich nur an unsere Herreise mit allen ihren Beschwerden, so graut es mir förmlich vor einer Rückkehr. Aber diese muß stattfinden, darüber kann und darf kein Zweifel bestehen. Es handelt sich nur um den Zeitpunkt. Warten wir’s noch ab!“ antwortete Piller.
„In ähnlicher Weise wie Sie sprechen sich auch die andern Freunde aus, lieber Piller. Nur Frommherz macht eine Ausnahme. Der weicht soviel wie möglich jeder Erörterung aus, die die Rückkehr zum Gegenstand hat.“
„Glaub’s wohl!“ lachte Piller laut auf. „Unser lieber Freund Friedolin ist überglücklich, hier oben weilen zu dürfen, und bekommt stets Herzbeklemmungen, wenn wir von einer Heimreise zu reden beginnen. Im Grunde genommen kann ich es ihm nicht verübeln, wenn er dauernd hierbleiben möchte. Aber aufhören muß einmal diese Art von Schlaraffenleben, das ist klar. Darin stimme ich Ihnen also völlig bei, Stiller.“
„So bleiben wir einstweilen noch hier und nützen unsere Zeit möglichst gut aus. Inzwischen sorge ich für die tadellose Ausbesserung unseres Weltenseglers, für Bereitstellung des geeigneten Proviantes usw. Langsam, aber gründlich werde ich die Vorbereitungen zu unserer Abreise treffen.“
„Und vergessen Sie mir nicht den feinen goldenen Tropfen! Nehmen Sie nur gleich, bitte, einen anständigen Vorrat davon mit in die Gondel!“
„Soll geschehen, Sie ewig Durstiger,“ sagte lächelnd Stiller.
In freundlichem, angenehmem Verkehr mit dem liebenswürdigen Marsvolke, in kleinen und größeren Ausflügen und Reisen verfloß die Zeit nur zu rasch. Auf einem ihrer Streifzüge waren sie auch weiter hinaus aus der eigentlichen Bevölkerungszone in die nördliche, kühlere Region des Planeten gelangt. Es mutete die Forscher ordentlich heimatlich an, als sie hier wohlgepflegte Nadel- und Laubholzwaldungen neben saftigen, grünen Wiesen und schönen, dunkelblauen Seen fanden. Hohe Gebirgszüge schoben sich dazwischen, und ihre mit Schnee bedeckten höheren Gipfel verstärkten noch den Eindruck einer alpinen Landschaft.
Hier stießen sie auch auf zerstreute, weit auseinander liegende kleine Kolonien von Marsiten, deren ernstes, wortkarges Wesen und Auftreten merkwürdig von der heiteren und frohen Lebensauffassung ihrer übrigen Brüder abstach. Auf ihr Befragen erfuhren die Gelehrten, daß ähnliche kleine Kolonien auch in der südlichen kühlen Zone des Mars beständen. Die Kolonisten hießen die „Vergessenen“, weil ihre Namen vorübergehend oder auch dauernd von den Tafeln der Marsstämme gestrichen worden seien.
„Dann sind es somit Verbrecher, die, von der Gemeinschaft der übrigen ausgestoßen, hier oben ihre Strafe abzubüßen haben?“ fragte Dubelmeier.
„Wir kennen nur Gesetzesübertreter, keine andern Missetäter,“ wurde dem Frager erklärt.
„Nun, schließlich kommt dies ja auf das gleiche heraus,“ antwortete Dubelmeier. „Worin besteht denn bei euch die Gesetzesübertretung, die die Strafe der Verbannung in diese Gegenden nach sich zieht?“
„In mangelhafter Erfüllung der allgemeinen Pflichten und Obliegenheiten.“
„Da müßte man bei uns auf der Erde neun Zehntel aller Menschen verbannen, und wir kämen des Platzes wegen für diese Menge von Verbannten in die größte Verlegenheit,“ rief Piller voll Erstaunen.
„Wir sind auch nicht auf eurem Planeten,“ antwortete mit überlegenem Lächeln Varan, der Führer der Reisebegleitung.
„Aber es ist doch grausam, kleinerer Verstöße wegen einen Mitmenschen aus seiner ihm trauten und gewohnten Umgebung zu reißen,“ warf Hämmerle ein.
„Über die Art der Verstöße gegen unsere Lebensvorschriften zu richten, sind nur wir allein maßgebend,“ entgegnete Varan ernst.
„Ohne Zweifel!“ gab Stiller zu.
„Aber Verzeihung ist die Krone der Liebe! Verzeiht ihr nicht auch?“ forschte Frommherz.
„Gewiß! Aber es gibt Vergehen, für die niemals Verzeihung gewährt werden kann. Sie sind zwar äußerst selten, diese Fälle, aber sie kommen bei uns doch noch hier und da vor. Die Vergessenen erhalten nach einer gewissen Zeit der Prüfung meist ihre Namen wieder. Es steht ihnen dann die Rückkehr in die engere Heimat und der Wiedereintritt in ihren Stamm frei. Aber nur wenige machen von dieser Erlaubnis Gebrauch. Einmal ausgestoßen, zieht unser Bruder ohne Namen es für gewöhnlich, vor, da zu bleiben, wo er hingebracht wurde, und sein Leben in strenger Arbeit dem Wohle der übrigen zu widmen.“
„Worin besteht diese Arbeit?“ fragten die Herren.
„In tadelloser Instandhaltung der hier ihren Ursprung nehmenden Kanäle: eine ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe, von deren gewissenhafter Erfüllung unsere Gesamtexistenz abhängt.“
„Und wer sorgt für den Unterhalt der Vergessenen?“
„Sie selbst. Sie treiben nebenbei Viehzucht, Ackerbau und dergleichen mehr. Kommt einmal die Zeit, wo es keine Vergessenen mehr bei uns gibt, so müssen wir eben selbst diese Arbeiten ausführen. Darüber liegen bereits genaue Bestimmungen vor, denn unsere Vergessenen vermindern sich mehr und mehr,“ schloß Varan seine Auseinandersetzungen.
„Wunderbar glücklicher Planet, dieser Mars! Sogar die Missetäter hier oben, wenn man sie nach unseren Begriffen so bezeichnen darf, werden wieder Wohltäter durch ihre Leistung für das große Ganze,“ rief Stiller voll Enthusiasmus. „Und doch erfüllt es mich mit einer gewissen, wenn auch höchst bescheidenen, Genugtuung, daß auf dem Mars dieses Lebensbild voll Glanz und Licht einen kleinen Schatten hat, daß es auch nicht rein vollkommen ist.“