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Die Weltensegler. Drei Jahre auf dem Mars.
„Was ist los, um des Himmels willen, was hat sich ereignet?“ Diese Fragen kamen über die Lippen von mehreren der erregten Gelehrten.
„Zunächst nur Ruhe, keine Aufregung, die ja doch zu nichts führen würde, liebe Freunde!“ besänftigte Professor Stiller seine erschrockenen Gefährten. „Es scheint, daß wir in den breiten elektrischen Anziehungsstrom des Mondes gelangt sind, auf den der Weltensegler mit seiner eigenen elektrischen Strömung sofort reagiert hat, daher sein plötzliches Erzittern,“ fuhr Herr Stiller fort. „Nun seht, er beruhigt sich und treibt wieder und zwar bedeutend schneller vorwärts, ein Beweis für die Richtigkeit meiner Vermutungen.“ Mit diesen Worten trat Stiller von seinem Beobachtungsposten zurück, um ihn aber bald nachher wieder einzunehmen.
Von der Geschwindigkeit der rasenden Vorwärtsbewegung spürten die Insassen der Gondel nichts oder nur sehr wenig. Mit größter Aufmerksamkeit beobachtete Professor Stiller wieder den Geschwindigkeitsmesser. Nach einer Stunde konstatierte der Gelehrte kopfschüttelnd eine zurückgelegte Strecke von 4500 Kilometern.
„Warum schütteln Sie den Kopf, Stiller?“ fragte Professor Piller den Kollegen.
„Es geht langsamer vorwärts, als ich mir vorstellte und nach meinen Berechnungen erwartet hatte.“
„Nanu, ich denke, 4500 Kilometer in einer Stunde fliegend zurückzulegen, macht uns so leicht niemand nach. Eine solche Geschwindigkeit übersteigt alles, selbst die kühnste Rechnung,“ warf Brummhuber ein.
„Sie übersehen dabei die ungeheuren Entfernungen, die wir zurückzulegen haben, um unser Ziel zu erreichen,“ entgegnete Professor Stiller. „Doch ich hoffe, daß es in diesem Tempo nicht weitergehen wird; wir kämen sonst,“ fügte er etwas gezwungen lächelnd hinzu, „mit allzu großer Verspätung auf dem Mars an.“
„Ein paar Tage mehr oder weniger spielen bei unserer Reise keine Rolle,“ antwortete Thudium.
Doch Herr Stiller gab keine Antwort mehr. Ernste Gedanken zogen in sein Gehirn und begannen ihn zu quälen. Diese Gedanken wollte er einstweilen für sich behalten. Wozu die Ruhe, das Vertrauen der Gefährten schon jetzt erschüttern? Die Zeit brachte von selbst Rat und vielleicht auch – Hilfe.
So verstrichen der zweite und der dritte Tag der Reise.
Am Ende des letzteren betrug die zurückgelegte Entfernung 324000 Kilometer. Die Geschwindigkeit des Weltenseglers hatte also doch etwas zugenommen, dank der von ihm aus seinen Apparaten nach außen hin abgegebenen elektrischen Kraft, die von Professor Stiller im Vereine mit Piller und Hämmerle einer sorgfältigen Messung unterlag. So vergingen die Stunden. Keiner der Herren vermochte zu schlafen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach mußte der Weltensegler noch diese Nacht in die unmittelbare Nähe des Mondes gelangen.
Eine plötzliche, von außen her in die Gondel dringende Helle ließ sofort Professor Stiller den elektrischen Strom schließen. Das Luftschiff begann langsamer zu fahren und stoppte endlich. Die Herren stürzten nach den Fenstern der Gondel, um den ganz unbegreiflichen Stillstand zu ergründen. Staunende Bewunderung über das, was sich ihren Augen bot, wirkte im ersten Augenblick so lähmend auf die Insassen der Gondel, daß sie minutenlang wie gebannt in stummem Entzücken dastanden. Dann aber brach sich eine laute Begeisterung Bahn.
„Großartig! Einzig schön! Allein die Reise wert! Ein Bild ohnegleichen! Der Mond, der Mond!“ so kam es über die Lippen der Beschauer. Unmittelbar unter ihnen zeigten sich, hell beschienen von der Sonne, gewaltige, oft zerrissene, wild zerklüftete, trotzig emporstrebende Berge, die Schatten von wunderbarer, ungekannter Schärfe warfen. Zwischen ihnen gähnten Tausende von Metern tiefe Abgründe, und eine Unmasse ausgebrannter Krater schob sich zwischen die Abgründe und die Felsenmauern. Ziemlich ebene Landschaften waren wiederum von wallartigen Ringen ehemaliger gewaltiger Vulkane umkränzt. Dieses so umschlossene Land lag bedeutend höher als das außerhalb der Wälle sichtbare, aus dem sich wiederum da und dort kegelförmige Berge, die Reste einstiger Vulkane, scharf abhoben. Die merkwürdige Beleuchtung mit ihren einzig schönen Schattenbildern, überhaupt der ganze Eindruck war so eigenartig, in dieser Form so völlig verschieden von dem, was die Herren von der Erde her kannten, daß sie einen Vergleich damit gar nicht zu ziehen vermochten.
Wohin sie auch ihre Blicke richteten, nirgends, aber auch nirgends konnten sie Spuren von Pflanzenwuchs oder Wasser entdecken. Kein See, kein Strom, kein wogender Ozean, kein grünender Rasen, Strauch oder Baum, nichts, rein nichts zeigte sich. Das stumme, ergreifende Bild des starren Todes, das sich hier den Reisenden offenbarte, verfehlte auf diese seine Wirkung nicht. Die erste laute Begeisterung war rasch einer großen Stille gewichen, dem tiefen Ernste, den der Tod bei jedem denkenden und empfindenden Menschen hervorbringt. Nur kurze Zeit hatte man sich der Betrachtung desjenigen Teiles des Mondes hingeben können, der von der Gondel aus sichtbar war. Der Weltensegler fing an langsam zu fallen.
„Auf dem Monde können wir uns weder braten lassen, noch wollen wir auf ihm erfrieren,“ rief Professor Stiller. „Wir müssen also schleunigst aus seiner wegen der Anziehung für uns gefährlichen Nähe weg und wieder hinaus in den Weltäther.“
Rasch wurde die elektrische Kraft wieder in Tätigkeit gebracht; die Flügel der Schraube drehten sich, und der Weltensegler entfernte sich schneller und immer schneller vom toten Kinde der noch lebendigen Mutter Erde.
Die Berechnungen von Professor Stiller gingen dahin, daß nach Kreuzung der Mondbahn und glücklicher Überwindung der Anziehungskraft des Mondes der Weltensegler bald selbst in die eigentliche Anziehungssphäre des Mars gelangen müsse, als desjenigen großen Gestirns, das sich augenblicklich der Erde noch am meisten genähert hatte. Diese Erdnähe mußte begreiflicherweise die natürliche, auf elektromagnetischen Strömungen beruhende Gravitation zwischen Mars und Erde ganz bedeutend beeinflussen. Daraus folgte, daß, wenn ein den Gesetzen der Anziehungskraft unterworfener Körper, wie ihn beispielsweise der Weltensegler darstellte, in den Bereich dieser Anziehung gelangte, er in dem Maße vom Mars angezogen wurde, als er ihm näher stand als der Erde.
Von der Erde war nun der Weltensegler jetzt genau – nach Passage der Mondbahn – 386492 Kilometer entfernt. Es konnte daher keinem Zweifel unterliegen, daß der Weltensegler bereits unter der Anziehungskraft des Mars stand, die Stillersche Rechnung somit stimmte, denn das Luftschiff flog mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und in derselben steten östlichen Richtung weiter. Die anfänglich gefürchtete Einwirkung der Anziehungskraft der Sonne konnte nun endgültig ausgeschaltet werden. Der Weltensegler befand sich auf dem richtigen und unmittelbaren Wege zu seinem Ziele.
Schon längst war es wieder dunkle Nacht außerhalb der Gondel, und die furchtbare Kälte des Weltraumes umgab den Ballon. Trotz des hermetischen Abschlusses und der dicken Pelzlager der Gondel vermochten sich die Reisenden gegen die Kälte nur durch elektrische Beleuchtung und Heizung zu schützen.
Ein Tag verging so nach dem andern. Aus der ersten Woche wurde die zweite, aus der zweiten die dritte, aus der dritten die vierte, und noch immer wollte der Flug des Weltenseglers kein Ende nehmen.
Eines Tages – es war in der vierten Woche der Reise – begann die Stille des Gondelinnern ein eigenartiges Geräusch zu unterbrechen.
„Was ist denn los?“ fragten die Gelehrten erstaunt Professor Stiller.
„Ich kann es mir nicht erklären,“ entgegnete dieser. „Weder unsere Uhren noch der Geschwindigkeitsmesser können die Ursache dieses auffallenden Rasselns sein. Und doch muß diese hier innen zu suchen sein, da der Weltäther bekanntlich keine Schallwellen vermittelt.“
Während Herr Stiller so sprach, forschte er nach der Ursache des sich mehr und mehr verstärkenden Lärmes.
„Ich kann wirklich nichts finden. Alle unsere Apparate für Luft und elektrische Kraft sind in Ordnung und funktionieren ruhig und tadellos. Aber halt, da fällt mir ein, es ist ja die Luft in unserer Gondel selbst, die den Schall überträgt, dessen Ursache draußen im Weltenraume liegen muß.“
„Dann ist es vielleicht irgendein Weltkörper, in dessen Nähe wir gelangt sind,“ warf Professor Hämmerle besorgt ein.
In der Gondel surrte und schwirrte es nachgerade wie in einem Uhrmacherladen. Es schien, als ob Hunderte von Weckern losgegangen wären.
„Das ist ja ein Höllenlärm, bei dem einem Hören und Sehen vergeht!“ brüllte Professor Thudium wütend. Aber in dem allgemeinen, betäubenden Rasseln erstarb seine Stimme.
Da erschreckte eine plötzliche Helligkeit, loderndem Feuer gleich, die sieben Insassen der Gondel. Eine Verständigung war des Lärmes wegen unmöglich geworden. Vor dem blitzenden Lichte, das durch die Fenster drang, schlossen die Reisenden unwillkürlich die schmerzenden Augen. Jeder Versuch, sie zu öffnen, erhöhte das fürchterliche Schmerzgefühl. In diesem kritischen Augenblick erinnerte sich Professor Dubelmeier glücklicherweise seiner Gletscherbrille, die er als leidenschaftlicher Bergsteiger in den Universitätsferien stets bei sich trug, und die er wohlverpackt in einem Futterale mitgenommen und in irgendeine Tasche seines Rockes gesteckt haben mußte. Vorsichtig tastete er den Rock von außen ab. Richtig, da fühlte er einen länglichen Gegenstand in der oberen rechten Seitentasche. Es war die Brille, dem Himmel sei Dank! Endlich hatte er sie auf die Nase gebracht. Geschützt durch die dunklen Gläser, vermochte er nun seine Augen zu öffnen. Zunächst ließ er seine Blicke in der Gondel herumwandern. Stumm, mit geschlossenen Augen lagen seine Gefährten da. Der Ausdruck ihrer Gesichter trug den Stempel in ihr unabwendbares Schicksal ergebener Männer.
Mit zitternden Knien und klopfendem Herzen schlich sich Professor Dubelmeier zu dem ihm zunächst liegenden Glimmerfenster. Er wollte den Versuch machen, die Schutzvorrichtung an ihm herabzulassen, an die in dem wahnsinnigen Lärm merkwürdigerweise keiner der Herren bis jetzt gedacht hatte. Behutsam spähte er dabei hinaus in den unermeßlichen Weltraum. Aber welch überwältigendes Schauspiel bot sich ihm hier! Vor Aufregung hierüber vergaß er die Schutzvorrichtung. Sein Sinnen und Denken war von dem Naturschauspiele da draußen völlig gefangengenommen.
Aus Millionen von Leuchtkugeln, die ähnlich der Milchstraße am nächtlichen Himmel einen breiten Strahlengürtel bildeten, funkelte und blitzte es in märchenhafter Pracht herüber aus der Ferne. Was mochte das wohl sein? Da mußte sofort Kollege Stiller gefragt werden, denn möglicherweise konnte durch ihn noch eine dem Weltensegler drohende Gefahr abgewendet werden. Professor Dubelmeier ließ zunächst die Schutzvorrichtung an den Fenstern herab, trat dann auf Stiller zu, stülpte ihm die Schutzbrille auf die Nase und rüttelte ihn aus seiner Betäubung wach. Erstaunt über sein so plötzlich wiedergekehrtes Sehvermögen erhob sich Professor Stiller mit der Brille seines Freundes und folgte dessen stummer Gebärde. Er zog die Schutzvorrichtung des Fensters weg und blickte hinaus. Gebannt von dem sich ihm bietenden Schauspiel blieb auch er einige Minuten am Fenster stehen, versunken in den Zauber des Anblicks. Nun war ihm die Ursache des tollen Rasselns, der Erscheinung überhaupt, klar. Der Weltensegler war auf seiner Bahn nach dem Mars in die Nähe eines durch den Weltäther dahinsausenden Kometen gekommen, der eben diese Bahn kreuzte. Eine unmittelbare Gefahr für den Weltensegler war bei der immerhin noch großen Entfernung und der ungeheuren Geschwindigkeit der Kometenbewegung nicht vorhanden, wenigstens nicht für die nächsten Stunden. Beruhigt, aber doch halb berauscht von der einzigartigen Erscheinung, verließ Herr Stiller das Fenster.
Wie es Professor Dubelmeier mit ihm gemacht, so machte es Stiller mit seinem Kollegen Piller, dieser wiederum mit Hämmerle und so weiter, so daß jeder der Reisenden sich das großartige Schauspiel ohne Gefahr für sein Sehvermögen betrachten konnte. Zu einer Aussprache aber kam es erst nach einigen Stunden, als das Geräusch des vorbeiziehenden Kometen nach und nach abzunehmen begann.
Dann erklärte Professor Stiller seinen Gefährten die Ursache der Erscheinung und pries laut Dubelmeiers Schutzbrille.
„An so vieles dachte ich bei der Auswahl der mitzunehmenden Sachen, und ich glaubte auch, wirklich nichts vergessen zu haben. Ich gestehe aber, daß ich auf den praktischen, so naheliegenden Gedanken einer Schutzbrille nicht gekommen bin. Da sieht man wieder die eigene Unzulänglichkeit, den Mangel an Verlaß auf sich selbst. Freund Dubelmeiers Sorgfalt hat uns einen großen Dienst geleistet.“
„Na, nun aber sagen Sie, Mann, wie kamen denn gerade Sie auf den Einfall, eine Gletscherbrille in das Luftschiff mitzunehmen?“ fragte Professor Piller neugierig.
Dubelmeier wurde verlegen und wollte zuerst nicht recht mit der Sprache heraus. Auf allseitiges Fragen und Drängen hin gestand er endlich, daß er sich nicht hätte mit dem Gedanken befreunden können, jahrelang seinen geliebten Bergtouren zu entsagen. Da habe er, in der stillen Hoffnung, solche auch auf dem Mars ausführen zu können, wenigstens seine Gletscherbrille eingesteckt.
„Und wo steckt denn Ihr Eispickel und die sonstige Ausrüstung? Davon sehe ich nichts,“ forschte Professor Brummhuber.
„Mit Ausnahme meiner genagelten Schuhe habe ich alles andere seufzend in Tübingen gelassen,“ antwortete Herr Dubelmeier.
„Ein weises Verfahren, fürwahr, denn für die Mitnahme derartigen Gepäckes wäre das Innere unserer Gondel doch etwas ungeeignet,“ lachte Professor Stiller. „Aber Ihre Brille in Ehren, die hat uns gute Dienste geleistet.“
Der Durchgang des Kometen durch die Anziehungssphäre des Mars hatte aber auf die Vorwärtsbewegung des Weltenseglers selbst ungünstig eingewirkt. Bei genauer Kontrolle des Geschwindigkeitsmessers bemerkte Professor Stiller mit Schrecken, daß sich der Ballon in den soeben verflossenen ernsten Stunden nur mit dem zehnten Teil der bisherigen Schnelligkeit nach dem Mars zu bewegt habe. Erst nach und nach schien der Weltensegler wieder in die frühere Geschwindigkeit übergehen zu wollen. Das aber bedeutete eine unliebsame Verlängerung der an sich schon so mühseligen Reise, die unter Umständen noch recht unangenehme Nachwirkungen haben konnte.
An die Stelle der früheren Lebhaftigkeit der Unterhaltung, des körperlichen und geistigen Wohlbefindens war nach und nach eine gewisse Mattigkeit, eine mehr oder weniger große Abspannung getreten, die die Kometenerscheinung nur vorübergehend zu unterbrechen vermocht hatte. Bei diesem und jenem der Herren erschien bereits als drohendes Gespenst die beginnende Langeweile, der Anfang zur Lethargie. Die Reise in dem verhältnismäßig doch engen, eingeschlossenen Raume fing an, zu lange zu dauern. Dazu kam auch noch der Mangel körperlicher Bewegung und der gewohnten geistigen Beschäftigung.
Alle allgemein wie im besonderen interessierenden wissenschaftlichen Fragen, die Einzelheiten des bisherigen Verlaufes der Reise waren schon so vielseitig und so oft besprochen worden, daß sie längst ihren Reiz verloren hatten. Still, stumm, fast apathisch saßen oder lagen jetzt, in ihre Pelzmäntel gewickelt, die meisten Herren, die bis vor kurzem noch so heiter und lebensfroh gewesen waren, in der Gondel herum. Nur nicht zum zweitenmal eine so entsetzlich lange Fahrt mehr machen, die nicht einmal einen guten, warmen Imbiß oder freie Bewegung der nahezu steif gewordenen Gliedmaßen gestattete! Und war man denn so sicher, das Ziel zu erreichen? Wenn nicht, was dann? Ja, was dann? Das waren die Gedanken und die bangen Fragen, die die Herren bewegten, die sie in ihrem Gehirn, das zu schmerzen anfing, herumwälzten.
Diese verdammte Marsreise! Wie verlockend, geradezu verführerisch, ja berauschend, die gesunden, klaren Sinne umnebelnd, war sie ihnen zuerst erschienen! Wie sehr hatte man diese lange Kerkerhaft in dem engen, schmalen Raume, die lange Entbehrung des natürlichen Lichtes der Sonne in ihrer Wirkung unterschätzt! Professor Piller schimpfte wohl in der ersten Zeit der Reise über eintretende Blutarmut, Störungen im Stoffwechsel trotz ausgezeichneter Eßlust und dergleichen, jetzt aber lag auch er halb stumpfsinnig in einer Ecke der Gondel, verwünschte im stillen sich, seine Genossen, den Weltensegler, das ganze Universum, besonders aber den Verführer Mars. So empfanden und dachten auch mehr oder weniger die übrigen Herren. Und erinnerten sie sich daran, wie bequem und angenehm sie einst in Tübingens Mauern gelebt, wie sie jeden Abend nach getaner Arbeit an ihrem Stammtisch in anregender Gesellschaft und bei kühlem, frischem Trunke gesessen, so erfüllte sie aufrichtiges Bedauern, diese verrückte Reise überhaupt unternommen zu haben.
„Hol’ der Teufel den Mars!“ kam es einmal laut über die Lippen von Professor Piller. Es war genau das, was er soeben gedacht hatte.
„Das wollen wir nicht wünschen,“ erwiderte in etwas herbem Tone Herr Stiller. „Daß die Expedition mit allerlei Gefahren und auch materiellen Entbehrungen verschiedenster Art zu rechnen haben würde, war von vornherein für jeden von uns klar. Wir können uns also hinterher nicht beschweren. Solche Beschwerden sind unser nicht würdig. Schweig und dulde! heißt es für uns.“
„Wahr gesprochen!“ bestätigte Bombastus Brummhuber. „Aber schließlich muß auch das Schweigen und Dulden ein Ende nehmen.“
„So warten Sie doch erst ab, was kommt!“ rief Professor Stiller zornig.
„Aber Sie sagten doch, daß die Reise nicht länger als einige Wochen dauern werde,“ warf Frommherz ein, „und nun ist diese Zeit herum und . . .“
„Sie sollten am allerwenigsten die Geduld verlieren, Frommherz,“ unterbrach Stiller den Gefährten. „Im übrigen habe ich niemals eine genaue Angabe darüber gemacht, wie lange die Reise dauern werde, aus dem ganz einfachen Grunde, weil ich dies auch nicht gekonnt hätte. Ich sprach von mehreren Wochen im allergünstigsten Falle. Lassen Sie sich nicht entmutigen dadurch, daß die Reise sich länger hinauszieht, als mir selbst lieb ist. Im Gegenteil, fassen Sie Mut! Wir haben ihn dringend nötig.“
„Was heißt das? Drücken Sie sich klarer aus, Stiller!“ tönte es von verschiedenen Seiten.
„Nun, ich denke, daß es deutlich genug war, was ich mit meinen Worten sagen wollte: wir haben erst einen Bruchteil der Reise hinter uns. Vor uns liegt noch eine riesige Strecke, die an unsern Mut und an unsere Widerstandskraft alle Anforderungen stellt.“
„Wie groß ist die Entfernung noch?“
„Noch etwa dreißig Millionen Kilometer!“
„Dreißig Millionen Kilometer? Kaum die Hälfte! Einfach entsetzlich!“ stöhnte Professor Dubelmeier.
„Wie soll das enden!“ seufzte Frommherz.
„Hoffen wir, gut, sonst würden Sie, lieber Frommherz, eben schneller gen Himmel fahren, als Sie vielleicht wollen,“ spottete Professor Stiller, über den nachgerade eine Art von Galgenhumor kam.
Doch diese Stimmung hielt bei Professor Stiller nicht lange an. Sie wurde nur allzu rasch durch die Sorge um das Wohl und Wehe der Expedition zurückgedrängt. Er war der eigentliche Urheber, der Vater dieses kühnen Unternehmens. Mithin trug auch er allein die volle Verantwortung für das Leben seiner Gefährten, die sich im Vertrauen auf seine Angaben ohne Zögern zur Mitreise entschlossen hatten. Professor Stiller war bei aller nervösen Hast, bei aller Neigung, überall nur das Beste zu sehen und die kühnsten, schwierigsten Probleme mit einer gewissen Leichtigkeit zu behandeln, und trotz seines leicht erregbaren Charakters ein viel zu biederer und ehrlicher Mann, um sein eigenes Tun und Lassen nicht immer wieder einer strengen Selbstkritik zu unterziehen.
Mehr als einmal schon hatte er es im stillen verwünscht, diese Reise nicht allein oder wenigstens nur in Begleitung eines erprobten Dieners unternommen und nicht von vornherein auf die Teilnahme seiner Kollegen verzichtet zu haben. Noch hatte er bis zur Stunde von den Gefährten keine umittelbaren Vorwürfe zu hören bekommen. Die kurze Unterhaltung von vorhin aber, die körperliche und geistige Verfassung seiner Genossen bewiesen ihm nur allzu deutlich, daß das bisherige gute und friedliche Zusammenleben in der Gondel die erste schwere Erschütterung erfahren hatte. Gleich in den ersten Tagen der Reise hatten ihn schon gewisse Zweifel und trübe Gedanken gequält, die er zuerst noch leicht abzuschütteln vermochte, die aber immer wieder und stärker auftauchten und sich nun nicht mehr so rasch bannen ließen wie im Anfange.
Was Professor Stiller am meisten beschäftigte, das war der verhältnismäßig langsame Flug des Weltenseglers. Er hatte ganz bestimmt darauf gerechnet, daß das Luftschiff, kaum in den Anziehungskreis des fernen Weltkörpers gelangt, diesem selbst mit blitzartiger Geschwindigkeit zufliegen werde, und nun mußte er sich eingestehen, daß er sich hierin ganz gehörig getäuscht habe. Zu diesem großen Irrtum gesellten sich zwei weitere: die Vorräte an fester Luft und an elektrischen Energiemengen waren auf eine kürzere Reise, das heißt auf einen rascheren Flug, berechnet gewesen und mußten bereits in wenigen Wochen zu Ende gehen.
Am das Maß der Sorgen voll zu machen, nahmen auch die Nahrungsmittel überaus schnell ab. Es war zwar ein großer Vorrat an Speisen und Getränken für eine Reisedauer von drei Monaten mitgenommen worden, aber Herr Stiller hatte nicht mit dem gesunden Appetit seiner Gefährten gerechnet. Anfangs hatte er sich über ihre Eßlust gefreut, in dem sichern Bewußtsein, der Weltensegler werde in weniger als der Hälfte der Zeit, für die die Lebensmittel bestimmt waren, sein Ziel erreichen, jetzt aber, als er sich in dieser Erwartung getäuscht sah, kam zu den andern schweren Kümmernissen auch noch die Sorge um die Ernährung.
Wohl oder übel mußte schon jetzt, von heute ab eine Kürzung der täglichen Nahrungsrationen eintreten, wollte man mit den Vorräten noch längere Zeit auskommen. Ganz besonders waren es die Getränke, die stark abgenommen hatten, und der Vorrat an dem so beliebten Göppinger Wasser wies geradezu erschreckende Lücken auf.
So entstand aus dem ersten großen Irrtum eine ganze Reihe unangenehmster, in ihren Wirkungen gar nicht übersehbarer Folgen. Das Gemüt Herrn Stillers verdüsterte sich in dem Maße, als er sich dies alles klar zu machen suchte. Zunächst trat an ihn die Frage heran, wie er es am besten anfangen sollte, seinen Kollegen die Zweckmäßigkeit einer Beschränkung ihrer täglichen Speisen und Getränke vor Augen zu führen. Diese Aufgabe richtig zu lösen, ohne die Gefährten zu verletzen und ihre an sich schon gereizte Stimmung noch schlimmer zu gestalten, erschien Professor Stiller kaum lösbar.
„Wenn doch ein Wunder geschehen und die Geschwindigkeit der Vorwärtsbewegung des Weltenseglers sich verdoppeln möchte, dann wäre ich mit einem Schlage alle diese heillosen Schwierigkeiten los!“ dachte Professor Stiller. Aber kein Wunder geschah. Der Weltensegler bewegte sich gleichmäßig wie bisher weiter, trotz eifrigster Beobachtung des Geschwindigkeitsmessers durch den Professor.
„Ersticken, erfrieren, verhungern, bevor wir den Mars erreichen – wahrhaftig wir haben die Auswahl unter den schlimmsten aller Todesarten! Was nützt es schließlich, meinen Gefährten durch Verringerung ihrer Nahrung das bißchen Freude zu verderben, das ihnen der Genuß von Speise und Trank noch bereitet, wenn uns der Tod sowieso in sicherer Aussicht steht? Am besten ist, ich lasse die Sache beim alten. Punktum!“ Zu diesem Entschluß kämpfte sich nach langem, trübem Sinnen der Professor endlich durch.
Die Woche ging zu Ende. Mit ihr waren die Marsreisenden in das neue Jahr eingetreten. Keiner von ihnen hatte sich um den Jahreswechsel gekümmert, der früher von ihnen unten auf der Erde in lauter Fröhlichkeit begangen worden war. Eine dumpfe Gleichgültigkeit hatte sich der Gesellschaft bemächtigt und benahm ihr auch mehr und mehr die frühere Lust am Essen.
„Gelange ich glücklich aus dieser Gondel heraus auf den Mars und finde dort auch nur einigermaßen annehmbare Lebensbedingungen vor, so haben mich Schwabenland und Erde für immer gesehen. Keine Gewalt des Himmels soll mich dann je wieder zu einer solchen Reise verleiten,“ äußerte sich eines Tages Professor Friedolin Frommherz, und ihm stimmten mehrere der Herren kopfnickend bei.
Professor Stiller entgegnete nichts auf diese Äußerung, die so offen die Empfindung seiner Gefährten wiedergab. Angesichts der außerordentlich kritischen, täglich sich mehr verschärfenden Lage des Weltenseglers erschienen ihm alle diesbezüglichen Meinungsäußerungen seiner Kollegen als höchst überflüssig. Er hüllte sich daher in düsteres Schweigen und begann über die möglichen Mittel und Wege einer Beschleunigung der Reise nachzusinnen.