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Verhaltenssucht. Die Illusion der Freiheit
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Verhaltenssucht. Die Illusion der Freiheit

Язык: Русский
Год издания: 2025
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Anastasia Egorova

Verhaltenssucht. Die Illusion der Freiheit

Anastasia Egorova

Verhaltenssucht. Die Illusion der Freiheit


– Ich finde, du solltest zum Arzt gehen. Du bist computersüchtig.


– Schatz, das ist keine Sucht, das ist mein Beruf!


Aus einer wahren Begebenheit

Einleitung

Ich schlage ein Experiment vor.

Bevor Sie dieses Buch lesen, legen Sie Ihr Smartphone und Ihren Laptop beiseite und beobachten Sie, wie lange Sie durchhalten. Verzichten Sie einmal auf mobile Geräte und das Internet.

Wenn Sie es länger als vierundzwanzig Stunden ohne Handy und das World Wide Web ausgehalten haben, ohne den Drang verspürt zu haben, zum Telefon zu greifen, um soziale Netzwerke und Messenger zu checken – dann ist bei Ihnen alles in Ordnung.

Wenn Sie ein paar Mal an Ihr Telefon und soziale Netzwerke gedacht haben, könnte bei Ihnen womöglich eine gewisse Abhängigkeit von sozialen Medien und dem Internet bestehen. Aber Sie können diese aus eigener Kraft überwinden.

Wenn Sie Ihr Telefon zur Seite gelegt haben und nun Gereiztheit oder Aggression verspüren und versuchen, auf Alkohol, Drogen oder Sport auszuweichen oder Ihren Stress mit Essen zu kompensieren – dann sind Sie abhängig und benötigen die Hilfe eines Fachmanns.

Wenn Sie das Telefon überhaupt nicht weglegen können und genau wissen, dass es kein Leben außerhalb des Internets gibt, oder dass es grau und trist ist – dann herzlichen Glückwunsch: Sie haben tatsächlich ernsthafte Probleme mit einer Verhaltenssucht, und Sie müssen etwas unternehmen, denn aus eigener Kraft werden Sie sie nicht los.

Ein paradoxer Aspekt von Verhaltenssüchten ist, dass sie von den Betroffenen oft als Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit wahrgenommen werden. Der Mensch meint, er wähle selbst, wie viel Zeit er am Computer verbringt, welche Einkäufe er tätigt oder wie intensiv er arbeitet. In Wirklichkeit jedoch werden diese Handlungen zwanghaft und unkontrollierbar, was zum Verlust der wahren Wahlfreiheit führt.

Zudem kann eine Verhaltenssucht ein trügerisches Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben vermitteln. Ein an Kaufsucht Leidender mag beispielsweise glauben, der Erwerb eines neuen Gegenstandes werde ihm helfen, mit Stress fertigzuwerden oder seine Stimmung zu verbessern. Tatsächlich ist dies jedoch nur eine vorübergehende Erleichterung, auf die das Problem mit unverminderter Stärke zurückkehrt.

Verhaltenssüchte stellen eine ernste Gefahr für die psychische und physische Gesundheit des Menschen dar. Sie erzeugen eine Illusion von Freiheit, die in Wirklichkeit eine Form der Knechtschaft ist. Zur Bewältigung dieses Problems sind umfassende Maßnahmen erforderlich, die sowohl die Einzelarbeit mit Psychologen als auch Veränderungen im sozialen Umfeld einschließen. Nur auf diese Weise kann man dem Menschen die wahre Freiheit und die Kontrolle über sein Leben zurückgeben.

Das Phänomen der Verhaltenssucht gehört zu den drängendsten Fragen der modernen Psychologie und Soziologie. Im Zuge der rasanten Entwicklung von Technologien und der Informationsumwelt werden Verhaltenssüchte zu einer immer weiter verbreiteten Erscheinung.

Das Ziel dieses Buches ist die Analyse der modernen Erscheinungsformen von Verhaltenssucht. Die nichtstoffliche Abhängigkeit – ebenso wie die Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen – geht mit einem Kontrollverlust einher. Das Suchtgefüge speist sich aus der Unbezwingbarkeit des Verlangens und dem Motiv, intensive positive Gefühle zu erleben. Und wer von uns liebt sie nicht, die positiven Gefühle?

Der Mensch ist abhängig von vielen Dingen, die ihm natürlich erscheinen. So lieben wir es, in Bildern und kurzen Unterhaltungsvideos auf unseren Geräten zu versinken, in Messengern zu plaudern, Sport zu treiben und dabei Genuss zu empfinden, Süßigkeiten oder Orangen zu essen, unsere Lieblingsserie zu schauen, und das am Stück. Der moderne Mensch tut sich schwer damit, sich von verschiedenen schädlichen und weniger schädlichen Gewohnheiten zu lösen. Jede Abhängigkeit verfolgt das Ziel, unmittelbare Befriedigung, eine kurzfristige Belohnung zu erhalten. Doch wir wissen beide, dass der Mensch für diese kurzfristige Belohnung langfristige Kosten und negative Folgen in Kauf nehmen muss.

Eine Verhaltenssucht ist ein zerstörerisches Verhalten, das sich dann ausbildet, wenn ein Mensch versucht, der Realität zu entfliehen und sich einer unangenehmen Lebenssituation oder -phase zu entziehen, indem er seinen psychischen Zustand verändert.

Der russische Psychiater A. O. Buchanowski definiert Suchtverhalten als eine psychische Störung chronischer Natur, die eine Deformierung bzw. eine pathologische Entwicklung der Persönlichkeit darstellt. Dabei stellt A. O. Buchanowski fest, dass die Beweggründe für das Handeln im Moment einer rationalen Analyse nicht zugänglich sind und oft Schmerz sowie Schaden für die abhängige Person und ihre Familie verursachen. Der durch die Abhängigkeit entstehende Schaden kann unterschiedlicher Art sein: medizinischer, psychischer, materieller und oft sogar rechtlicher Natur.

Der Autor wissenschaftlicher Werke auf dem Gebiet der Klinischen Psychologie und Psychiatrie, W. D. Mendelewitsch, vertritt die Auffassung, dass der klassischen russischen Suchtmedizin eine irrtümliche Paradigme zugrunde liege, nämlich die der psychologischen Pathologisierung süchtiger Störungen. Indes wäre die Bezeichnung „addiktives Verlangen“ aus wissenschaftlicher Sicht – sowohl für die stoffgebundene als auch für die Verhaltenssucht – heute durchaus angemessen.

W. D. Mendelewitsch weist darauf hin, dass das Hauptkriterium für die Diagnose einer Abhängigkeit, ob stofflicher oder nichtstofflicher Art, das Vorliegen eines veränderten Bewusstseinszustandes sei. Es ist jedoch bekannt, dass der stoffgebundenen Sucht der Konsum psychoaktiver Substanzen zugrunde liegt, wohingegen eine Verhaltenssucht als eine Abhängigkeit definiert wird, deren Grundlage nicht die Einnahme einer psychoaktiven Substanz, sondern ein bestimmtes Verhaltensmuster, das heißt ein bestimmter Verhaltensstereotyp, ist, der sich negativ auf die Lebensqualität auswirkt.

Obgleich die Verhaltenssüchte außerhalb des Fokus der Psychiater und Suchtmediziner unseres Landes stehen, existieren sie nicht nur theoretisch in Lehrbüchern, sondern begegnen auch häufig in der Praxis der Klinischen Psychologen.

Eine Verhaltenssucht mag in ihren Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit weniger schwerwiegend sein, doch kann sie den Betroffenen finanziell, sozial und psychisch erheblich zu schaffen machen. Derartige Abhängigkeiten treten häufig im Rahmen des familiären Zusammenlebens auf. Die Familie ist einer der Hauptfaktoren für die Entstehung einer Verhaltenssucht, weshalb sich in der Praxis die Familientherapie als optimale Wahl für die Behandlung solcher Störungen erweist.

Im Jahr 2015 wiesen T. Robins und L. Clark in ihrer Forschung darauf hin, dass stoffgebundene Süchte und Verhaltenssüchte auf gemeinsamen biologischen Mechanismen beruhen. Eine solche Aussage bedeutet, dass einige Verhaltenssüchte auf therapeutische Interventionen ansprechen könnten, die auch bei der Behandlung von stoffgebundenen Abhängigkeiten zur Anwendung kommen.

Eine Verhaltenssucht kennzeichnet sich durch eine schnelle Belohnung, langfristige körperliche Kosten und erhebliche Risiken verschiedenster Art. So kann ein Mensch beispielsweise auf das Ansehen bestimmter, spezifischer Videoinhalte zurückgreifen, um einen Zustand der Angst, Gereiztheit oder Schwermut zu lindern und sich so eine kurzfristige Euphorie zu verschaffen. Eine entscheidende Rolle bei Verhaltenssüchten spielt das Fehlen von Fähigkeiten zur Emotionsregulation, die das Verhalten des Menschen hätten korrigieren und seine Handlungen in für ihn nützlichere Bahnen lenken können. Menschen, die an Spielsucht, Kaufsucht oder Essstörungen leiden, bemerken, dass das Maß an positiven Gefühlen mit der Zeit abnimmt. Wenn sie ein und dieselbe, ihnen Genuss verschaffende Handlung wiederholen, verflüchtigt sich der Effekt der Neuheit.

Da die Intensität der positiven Emotionen nachlässt, ist der abhängige Mensch gezwungen, nicht nur dieselben Handlungen zu wiederholen, sondern auch seinen Energieaufwand zu erhöhen, um den gewünschten emotionalen Effekt zu erzielen. So bemerken Männer beispielsweise beim Anschauen bestimmter, spezifischer Videoinhalte, dass sie nach einiger Zeit kein Vergnügen mehr an ein und demselben Video empfinden. Das Ausbleiben der positiven Wirkung veranlasst sie dann nicht nur zu endlosem Herumstöbern im Internet, sondern auch zur Suche nach Inhalten, die gesellschaftlich nicht akzeptabel sind.

Wie wird heutzutage die Norm von der Abweichung unterschieden?


      Stellen Sie sich vor, Sie beobachten eine Kolonie von Kaiserpinguinen. Sie alle sind groß, schlank, schwarz und schön, mit gelben Federn über den Augen, die Sie – wären Pinguine Menschen – als „vorzügliche Augenbrauen“ bezeichnen würden. Und mitten in dieser gleichförmigen Schar gerät ein kleiner, gänzlich weißer, unbeholfener Albino-Pinguin in Ihren Blick. Und Sie ertappen sich bei dem Gedanken: „Oh, das sollte nicht sein. Das ist doch aus der Sicht der Idealvorstellung von Kaiserpinguinen vollkommen inakzeptabel!“


      Nun, die heutige Norm ist das Ideal, das von der Mehrheit der Menschen, von der gesamten Gesellschaft, anerkannt wird. Die Pornosucht beispielsweise entspricht nicht ganz der heutigen Norm. Beim Menschen gibt es viele weitere suchtartige, nichtstoffliche Zustände, doch mit dem Problem der Pornosucht beschäftigen sich gegenwärtig nur wenige. Männer, die unter dieser Verhaltenssucht leiden und in einem psychotherapeutischen Prozess versuchen, sich das systematische Anschauen von Pornographie abzugewöhnen, berichten, dass sie, wenn sie sich nach dem Prinzip „Schluss damit, ich werde mir diese schrecklichen Videos nie wieder ansehen“ abrupt enthalten müssen, im Nachhinein einen Zustand beschreiben, der dem Entzugssyndrom nach dem Absetzen psychoaktiver Substanzen gleicht. Allerdings hat ein solcher Entzug keine ernsthaften medizinischen Folgen.

Während eines Entzugssyndroms bei einer Verhaltenssucht fehlt gänzlich das Symptom einer hypertensiven Krise, und zudem gibt es, nebenbei bemerkt, keine nennenswerten physiologischen Veränderungen. Wohl aber kann es, wenn man sich abrupt entschließt, mit Videospielen, dem Herumstöbern im Internet oder dem Versinken in elektronischen Geräten aufzuhören, beim Betroffenen nicht nur zu gedrückter Stimmung, sondern auch zu Aggression, Wut und Gereiztheit kommen, die sich nur schwer kontrollieren lassen.

An der Entstehung jeder Abhängigkeit sind Neurotransmittersysteme unseres Organismus beteiligt. Darüber will ich nur ganz kurz sprechen, um meinen Leser nicht zu ermüden. Dabei spielen die erste Geige: Serotonin, von welchem die Hemmung von Verhaltensweisen abhängt, und Dopamin, das für das Belohnungssystem, die Motivation, das Lernen und die Bewertung der Reizbedeutsamkeit verantwortlich zeichnet. Das dopaminerge System spielt eine Schlüsselrolle bei der Ausprägung einer Verhaltenssucht.

Neurowissenschaftliche Untersuchungen haben bei Menschen, die zu stoffgebundenen und Verhaltenssüchten neigen, Funktionsstörungen des präfrontalen Kortex im Gehirn festgestellt. Der präfrontale Kortex bestimmt die Impulsivität von Handlungen und ist für deren Hemmung zuständig. Neben dem präfrontalen Kortex werden während des Glücksspiels, des Kaufs von Lotterielosen, des Herumstöberns im Internet sowie bei Computerspielen die Amygdala und das mesokortikolimbische System aktiviert. Die andauernde Aktivierung dieser Hirnregionen bei gleichzeitiger Unterdrückung der Funktionstätigkeit des präfrontalen Kortex sorgt für ein stabiles Verankern bestimmter suchthafter Verhaltensmuster beim Menschen – und so bildet sich eine Verhaltenssucht heraus.

Der Konsum psychotroper Substanzen oder das Ergriffensein von einer Verhaltenssucht können Ausfluss ein und desselben zugrunde liegenden Prozesses sein. Anhaltende Konflikte in der Familie, Streitigkeiten, Probleme bei der Arbeit und das Verharren in einer Stresssituation bei mangelnden Fähigkeiten zur Selbstregulierung und Stressresilienz sind beispielsweise ein fruchtbarer Nährboden sowohl für die Entwicklung von Alkohol- und Drogensucht als auch für die Herausbildung von Verhaltenssüchten. Erbliche Faktoren spielen hier freilich ebenfalls eine Rolle. So kann, wenn Verwandte ersten Grades (Eltern) eine Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol aufwiesen, unter bestimmten Bedingungen auch ihre Nachkommenschaft eine Neigung zum Drogen- oder Alkoholkonsum oder eine Veranlagung zu Spielsucht, Kleptomanie, Internet- oder Pornosucht entwickeln.

W. D. Mendelewitsch rechnet zum Suchtverhalten auch religiösen, politischen oder sportlichen Fanatismus, wobei er betont, dass jeder Aspekt der menschlichen Lebensführung bei übermäßiger Leidenschaft des Individuums letztlich dem Menschen selbst und seinen Nächsten Schaden zufügt.

Die Forschung hat inzwischen mehrere Klassifikationen für nichtstoffliche Süchte erstellt. Hier sei eine davon angeführt. A. W. Kotljarow schlägt vor, die folgenden Erscheinungen als Verhaltenssucht einzustufen:

– Verhaltenssucht nach Äußerlichkeit (das fanatische Bestreben, Kosmetikdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, das Streben nach einem Idealbild, wie es uns die Trends in sozialen Netzwerken heutzutage vorgeben);


– Verhaltenssucht nach Ideologie (Religions- bis hin zum Fanatismus, Sektenzugehörigkeit, Astrologie, Handlesekunst, esoterische Strömungen);


– Existentielle Verhaltenssucht: die ständige Suche nach dem Sinn des Lebens und die Neigung, in übertriebener Weise über die Frage des Daseinssinns zu philosophieren, unter Vernachlässigung anderer Lebensbereiche (eine Abhängigkeit von Psychotherapie mit metaphysischer Intoxikation);


– Sexuelle Verhaltenssucht (häufiger Wechsel der Geschlechtspartner, Promiskuität, Nymphomanie, Pornosucht und Sucht nach Verliebtsein);


– Verhaltenssucht nach Einsamkeit und das ständige Verlangen nach Alleinsein, sofern dies die Lebensqualität des Menschen negativ beeinflusst;


– Ko-Abhängigkeit;


– Computerbezogene Verhaltenssüchte: Spielsucht, Herumstöbern im Internet, kriminelle Programmierung (das Verlangen nach Hacking);


– Verhaltenssucht nach Massenmedien, nach Fernsehen, nach Werbevideos und Clips in sozialen Netzwerken, nach Serien;


– Wirtschaftliche Verhaltenssucht (Abhängigkeit von Geld und seiner sozialen Hierarchie, übermäßige Wertschätzung materieller und geldwerter Mittel);


– Verhaltenssucht nach Glücksspielen (Spielsucht);


– Arbeitswut und Arbeit als fixe Idee;


– Kaufsucht und zwanghaftes Einkaufen auf Online-Marktplätzen sowie im Internet;


– Verhaltenssucht nach technischen Geräten (übermäßiger Gebrauch von intelligenten Geräten, Telefonen im Alltag);


– Verhaltenssucht opferhafter Prägung: etwa nach Masochismus, Stockholm-Syndrom, sowie aggressives Verhalten wie Sadismus, das Syndrom des permanenten Kriegszustandes, ständige Erpressung;


– Weitere Verhaltenssüchte: Graphomanie, Verhaltenssucht nach dringenden Aufgaben (äußert sich im Gefühl ständigen Zeitmangels), exzessives Lesen von Büchern, Syndrom des beschwingten Autofahrens, Sportsucht.

In diesem Buch sind nicht alle Verhaltenssüchte aufgeführt, doch einige von ihnen sind in die mehrfachachsige Klassifikation psychischer Störungen aufgenommen worden und treten gemeinsam mit schwerwiegenderen seelischen Erkrankungen wie etwa der Schizophrenie auf.


      Die Herausbildung einer Verhaltenssucht vollzieht sich aufgrund einer bestimmten Reihe von Faktoren: Hierbei spielen nicht nur die familiäre Erziehung und das soziale Umfeld eine Rolle, sondern auch das kulturell-nationale Umfeld im Ganzen, die Mentalität des Menschen, ja des gesamten Volkes, dem die betroffene Person angehört. Die theoretischen und empirischen Erkenntnisse, die das Wesen der Verhaltenssucht offenlegen, bleiben bis heute begrenzt, und diese Tatsache gestattet es nicht, alle Formen davon in die moderne Klassifikation psychischer Krankheiten aufzunehmen. Der Mangel an fundierten Forschungen heizt die Diskussion in Medizin, Biologie und Psychologie an: Sollte man Verhaltenssucht überhaupt als Störung betrachten und nicht vielmehr als eine Entscheidung des Individuums für einen bestimmten Lebensstil?


      Die Frage nach der medizinischen Betreuung bei der Behandlung einer Verhaltenssucht bleibt in der hiesigen Psychiatrie leider aufgrund unzureichender Erforschung dieses Phänomens offen. Nicht weniger aktuell ist heutzutage die Verhaltenssucht bei Kindern und Jugendlichen. An Mitteln, die zu Verhaltenssüchten führen können, herrscht heute mehr als genug: von elektronischen Geräten, Messengerdiensten und Computerspielen bis hin zum Herumstöbern im Internet.

Die Auswertung von Studien zum Verhalten Heranwachsender und von Kindern in der Praxis der Psychotherapie und Klinischen Psychologie lässt die Bedeutung von Computerspielen als beherrschende Beschäftigung für Kinder im Grundschulalter und Jugendliche erkennen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Kindes oder Heranwachsenden werden die schulische Tätigkeit, Hobbys, der Umgang mit Gleichaltrigen, die Literatur und gewöhnliche Spaziergänge unmerklich von Computerspielen verdrängt.

Die Persönlichkeit des in der Computerwelt der Spiele „lebenden“ Jugendlichen weist ein hohes Maß an emotionaler und psychischer Unreife auf. Aufgrund seiner infantilen Züge ist ein solcher Heranwachsender in Alltagssituationen unselbständig, hat schwache freundschaftliche Bindungen in der realen Welt und geht wenig nach draußen. Die Internettechnologien verharren nicht auf der Stelle, die moderne Gesellschaft kann sie nicht gänzlich aus ihrem Leben verbannen, doch strenge Verbote und manipulative Maßnahmen der Erwachsenen nach dem Prinzip „Wenn du deine Hausaufgaben nicht machst, nehme ich dir das Telefon weg“ bleiben wirkungslos. Moderne Informationstechnologien spielen eine wichtige Rolle in unserem Leben, da sie sich fest in den Bereichen Handel, Kommunikation, Produktion und Kultur etabliert haben.

Durch das Eintauchen in die Welt der Informationstechnologien, des Sports oder der Arbeit versuchen Menschen, ihren Schwierigkeiten zu entfliehen. Für einen modernen Heranwachsenden, der schüchtern, verletzlich und unfähig ist, seinen Standpunkt unter Freunden und Mitschülern zu vertreten, und der in der Familie unter mangelnder Aufmerksamkeit leidet, wird die „Flucht“ in das Computerspiel oder das Ansehen von Videoinhalten im Internet zu einer Methode, negative Gefühle und Empfindungen im wirklichen Leben zu mildern. Die Wahl eines positiven, in seinen Fähigkeiten „gepowerten“ Computerspielhelden kann für den Jugendlichen auch eine Art Kompensation für die eigene Selbstablehnung darstellen. Zudem wirkt das Belohnungssystem in Computerspielen auf tückische Weise: Was das Kind im realen Leben nicht erreichen kann, die Unmöglichkeit, in Schule, zwischenmenschlichen Beziehungen oder anderen Beschäftigungen „Bonuspunkte zu sammeln“, das erhält es im Computerspiel.

Dies ist eine Methode, sich bedeutsam zu fühlen, wie ein Superheld. Und wenn für das Kind oder den Jugendlichen die Flucht in die irreale Welt mit dem Ausgleich von etwas Wesentlichem verbunden sein mag, so ist für den Erwachsenen das Versinken in einer Verhaltenssucht auch eine Methode, sich der Verantwortung für die Ereignisse des wirklichen Lebens zu entziehen.

Die meisten modernen Computerspielnetzwerke verleihen dem Menschen das Gefühl, wettbewerbsfähig zu sein. L. O. Perezhogin und N. W. Wostroknutow stellen die Vermutung auf, dass die Spielsucht unter Jugendlichen die heutzutage am weitesten verbreitete Form der Verhaltenssucht darstellt.

M. G. Tschuchrowa weist darauf hin, dass Verhaltenssucht in verschiedenen geografischen Regionen unserer Welt unterschiedlich ausgeprägt sein kann. So beträgt beispielsweise die Internetabhängigkeit in Italien 0,8 % der Gesamtbevölkerung des Landes, während in Hongkong bei 26,7 % der Bevölkerung eine solche Abhängigkeit festzustellen ist. Die Entstehung einer Abhängigkeit ist nicht nur von demografischen und sozialökonomischen Faktoren sowie vom inneren Klima des sozialen Umfelds des Menschen abhängig, sondern auch von einer genetischen Prädisposition für Suchtverhalten. Allerdings lässt sich nicht alles auf die Gene zurückführen. An der Herausbildung sowohl stoffgebundener als auch Verhaltenssüchte sind nicht nur „schlechte Gene“, sondern auch pathophysiologische Prozesse und begleitende Störungen bei Kindern und Erwachsenen beteiligt.

Heutzutage haben Kaufsucht, die Leidenschaft für Videospiele und soziale Netzwerke, Arbeitssucht, übermäßige Begeisterung für Sport, Essstörungen, promiskuitives Sexualverhalten und andere Erscheinungsformen von Suchtverhalten negative Konsequenzen für die Gesellschaft. All diese Phänomene sind widersprüchlich; ein Teil von ihnen, wie Arbeitssucht oder Sportsucht, ist in der modernen Gesellschaft sozial anerkannt.

Die kontroverse Diskussion unter Psychiatern, klinischen Psychologen, Neurowissenschaftlern und Verhaltenstherapeuten darüber, ob Verhaltenssucht als Störung einzustufen oder lediglich als extreme Verhaltensweise zu betrachten sei, hält in der wissenschaftlichen Welt unvermindert an.

Abhängigkeiten im Tierreich


Von Abhängigkeiten sind nicht nur Menschen betroffen. Auch im Tierreich lassen sich Fälle von Suchtverhalten beobachten. Im Rahmen wissenschaftlicher Experimente erforschen Wissenschaftler weltweit die Entstehung verschiedenster Abhängigkeitszustände bei unseren „kleineren Brüdern“.

So konsumieren nicht nur Haustiere in menschlicher Obhut Alkohol oder andere Substanzen, die Verhaltensmuster verändern können. In manchen Fällen kann der Mensch selbst ein schlechtes Vorbild abgeben, indem er seinem Haustier anbietet, Alkohol zu probieren. Doch auch ohne menschlichen Einfluss, in der Wildnis, nehmen Tiere in unterschiedlichem Maße Ethanol durch Früchte auf, die einen Hauptbestandteil der Ernährung einiger Vögel, Säugetiere und Insekten bilden.

Der Neurowissenschaftler K. Olson von der Oregon Health & Science University analysierte 2014 zusammen mit Kollegen die Gesänge „angeheiterter“ Zebrafinken. Die Wissenschaftler gaben den Vögeln Saft mit einem Alkoholgehalt von 6,5 % zu trinken. Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass Zebrafinken als typische Singvögel ihre einzigartigen Gesänge auf ähnliche Weise erlernen wie Menschen das Sprechen. Im Versuchsverlauf fanden die Neurowissenschaftler heraus, dass die Vögel nicht nur bereitwillig Alkohol konsumieren, sondern sich unter dessen Einfluss auch die Struktur ihres Gesangs veränderte: Sie begannen an manchen Stellen buchstäblich zu „nuscheln“, mit unpräzisem Rhythmus und undeutlichen Melodien. Bei deutlich erhöhtem Ethanolspiegel im Blut sangen die Zebrafinken leiser und mit veränderter akustischer Struktur. Die Forscher beobachteten ausgeprägte Effekte sowohl einer Abnahme der Amplitude als auch eine Zunahme von Unbestimmtheit im Gesang, was auf eine durch den Alkohol bedingte Störung der Aufrechterhaltung des allgemeinen Gesangsrhythmus zurückzuführen ist.

Bemerkenswert ist, dass sich zwar Veränderungen im Gesangsvortrag der gefiederten Sänger zeigten, jedoch keine Koordinationsstörungen im allgemeinen Verhalten der Vögel festzustellen waren. Allgemeine behaviorale Anzeichen für Verhaltensänderungen wurden bei den Zebrafinken nach ihrem „Umtrunk“ nicht gefunden. Sie sangen also „wie betrunken“, benahmen sich aber nüchtern. Diese interessante Studie erlaubte es den Wissenschaftlern, ein tieferes Verständnis dafür zu erlangen, wie Alkohol auf die ausgebildeten neuronalen Schaltkreise im Vogelgehirn einwirkt.

Besonders aufschlussreich an dieser Untersuchung ist auch, dass einige Vögel unter Alkoholeinfluss bemüht waren, die „Silben“ ihrer Gesänge deutlicher zu artikulieren, während andere hingegen in Rhythmik und „Silben“ ihres Gesanges völlig durcheinandergerieten.

Am häufigsten untersuchen Wissenschaftler die Wirkung von Alkohol an Laborratten, Haustieren und Primaten. Hier gibt es jedoch einen wichtigen Aspekt: Primaten und Ratten verfügen nicht über einen dem menschlichen vergleichbaren Sprechapparat, wohingegen der Stimmapparat bei Vögeln und Menschen in ähnlicher Weise funktioniert, sowohl auf der Ebene der neuronalen Steuerung als auch im Hinblick auf komplexe Verhaltensreaktionen.

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