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Aus meinem Leben. Erster Teil
Mein nächstes Ziel war Frankfurt a.M. Von Langgöns aus benutzte ich die Bahn und kam so noch an demselben Tage den Abend in Frankfurt an, wo ich in der Herberge zum Prinz Karl einkehrte. Arbeit wollte ich noch nicht nehmen, so fuhr ich zwei Tage später mit der Bahn nach Heidelberg. Der Zug, auf dem ich fuhr, hatte statt Glasfenster Vorhänge aus Barchent, die zugezogen werden konnten. Damals bestand noch der Paßzwang, das heißt es bestand für die Handwerksburschen die Verpflichtung, ein Wanderbuch zu führen, in das die Strecken, die sie durchwandern wollten, polizeilich eingetragen – visiert – wurden. Wer kein Visum hatte, wurde bestraft. In vielen Städten, darunter auch in Heidelberg, bestand weiter zu jener Zeit die Vorschrift, daß die Handwerksburschen morgens zwischen 8 und 9 Uhr auf das Polizeiamt kommen mußten, um sich ärztlich, namentlich auf ansteckende Hautkrankheiten, untersuchen zu lassen. Wer die Stunde für diese Visitation übersah, mußte mit der Abreise bis zum nächsten Tage warten, er bekam kein Visum. So erging es mir, weil ich die Vorschrift nicht kannte und auf das Polizeiamt zu spät kam. Von Heidelberg wanderte ich zu Fuß nach Mannheim und von dort nach Speier, woselbst ich Arbeit fand. Die Behandlung war gut und das Essen ebenfalls und reichlich, schlafen mußte ich dagegen in der Werkstatt, in der in einer Ecke ein Bett aufgeschlagen war. Das geschah mir später auch in Freiburg i.B. In jener Zeit bestand im Handwerk noch allgemein die Sitte, daß die Gesellen beim Meister in Kost und Wohnung waren, und diese letztere war häufig erbärmlich. Der Lohn war auch niedrig, er betrug in Speier pro Woche 1 Gulden 6 Kreuzer, etwa 2 Mark. Als ich mich darüber beklagte, meinte der Meister: er habe in seiner ersten Arbeitsstelle in der Fremde auch nicht mehr erhalten. Das mochte fünfzehn Jahre früher gewesen sein. Sobald das Frühjahr kam, litt es mich nicht mehr in der Werkstätte. Anfang April ging ich wieder auf die Walze, wie der Kunstausdruck für das Wandern lautet. Ich marschierte durch die Pfalz über Landau nach Germersheim und über den Rhein zurück nach Karlsruhe und landaufwärts über Baden-Baden, Offenburg, Lahr nach Freiburg i.B., woselbst ich wieder Arbeit nahm. In jenem Frühjahr war die Nachfrage nach Schneidergehilfen ungemein stark; und da ich sehr flott marschierte und im Aeußern der Vorstellung, die man sich von einem Schneidergesellen machte, durchaus entsprach, wurde ich auf dieser Reise öfter schon vor den Toren der Städte von Schneidermeistern angesprochen, die in mir ein Objekt für ihre Ausbeutung zu sehen glaubten. Mehrere wollten nicht glauben, daß ich kein Schneider sei, andere wieder entschuldigten sich, daß sie mich für einen solchen gehalten, „weil ich ganz wie ein Schneider aussähe“.
In Freiburg i.B. verlebte ich einen sehr angenehmen Sommer. Freiburg ist nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands; seine Wälder sind bezaubernd, der Schloßberg ist ein herrliches Stückchen Erde, und zu Ausflügen in die Umgegend locken Dutzende prächtig gelegener Orte. Aber was mir fehlte, war entsprechender Anschluß an gleichgesinnte junge Leute. Ein Zusammenhang mit Fachgenossen bestand zu jener Zeit nicht. Die Zunft war aufgehoben, und neue Gewerksorganisationen gab es noch nicht. Politische Vereine, denen man als Arbeiter hätte beitreten können, existierten ebenfalls nicht. Noch herrschte überall in Deutschland die Reaktion. Für reine Vergnügungsvereine hatte ich aber keinen Sinn und auch kein Geld. Da hörte ich von der Existenz des katholischen Gesellenvereins, der am Karlsplatz sein eigenes Vereinshaus hatte. Nachdem ich mich vergewissert, daß auch Andersgläubige Aufnahme fänden, trat ich, obgleich ich damals Protestant war, demselben bei.
Ich habe nachmals, solange ich in Süddeutschland und Oesterreich zubrachte, in Freiburg und Salzburg dem katholischen Gesellenverein als Mitglied angehört und habe es nicht bereut. Der Kulturkampf bestand zum Glück zu jener Zeit noch nicht. In diesen Vereinen herrschte daher auch damals gegen Andersgläubige volle Toleranz. Der Präses des Vereins war stets ein Pfarrer. Der Präses des Freiburger Vereins war der später im Kulturkampf sehr bekannt gewordene Professor Alban Stolz. Die Mitgliedschaft wurde durch den von den Mitgliedern gewählten Altgesellen repräsentiert, der nach dem Präses die wichtigste Person war. Es wurden zeitweilig Vorträge gehalten und Unterricht in verschiedenen Fächern erteilt, so zum Beispiel im Französischen. Die Vereine waren also eine Art Bildungsvereine; wie diese Gesellenvereine später sich gestaltet haben, darüber vermag ich nichts zu sagen. In dem Vereinszimmer fand man eine Anzahl allerdings nur katholischer Zeitungen, aus denen man aber doch erfahren konnte, was in der Welt vorging. Das war für mich, der schon am Ende der Schuljahre und nachher in den Lehrjahren, als der Krimkrieg entbrannt war, sich lebhaft um Politik bekümmerte, eine Hauptsache.
Auch das Bedürfnis nach Umgang mit gleichaltrigen und strebsamen jungen Leuten fand hier seine Befriedigung. Ein eigenartiges Element im Verein waren die Kapläne, die, jung und lebenslustig, froh waren, daß sie gleichaltrigen Elementen sich anschließen konnten. Ich habe einige Male mit solchen jungen Kaplänen die vergnügtesten Abende verlebt. Einen solchen Abend verlebte ich unter anderen in München, indem ich das Gesellenvereinshaus auf der Rückreise von Salzburg besuchte und darin wohnte, und zwar Anfang März 1860. Verließ das Gesellenvereinsmitglied den Ort, so bekam er ein Wanderbuch mit, das ihn in den Gesellenvereinen und bei den Pfarrherren, falls er bei diesen um Unterstützung vorsprechen wollte, legitimierte. Ich bin noch heute Besitzer eines solchen Buches, in dem auf der ersten Seite der heilige Josef mit dem Christkindlein auf dem Arme abgebildet ist. Der heilige Josef ist der Schutzpatron der Gesellenvereine. Den Gründer derselben, Pfarrer Kolping, damals in Köln, der, irre ich nicht, selbst in seiner Jugend Schuhmachergeselle war, lernte ich in Freiburg im Breisgau kennen, woselbst er eines Tages einen Vortrag hielt.
Im September drängte es mich, weiterzuwandern. Ich verließ Freiburg und marschierte bei herrlichstem Wetter durch das Höllental über den Schwarzwald nach Neustadt, Donaueschingen und Schaffhausen. Ein wunderbarer Anblick war es in jenen Tagen, schon am Nachmittag am Firmament einen gewaltigen Kometen – den Donatischen – zu beobachten, der in seltenem Glanze strahlte und einen Schweif von ungewöhnlicher Länge besaß. Zu jener Zeit stand der Schwarzwald noch in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Jahrzehnte später haben die Axt und die Säge große Strecken des prächtigsten Waldes gefällt und gelichtet. Die moderne Entwicklung forderte es. In der Schweiz durfte ich nicht bleiben. Der Aufenthalt in der Schweiz war damals den preußischen Handwerksburschen von ihrer Regierung verboten. War doch der Neuenburger Streit das Jahr zuvor erst zuungunsten der preußischen Regierung beendet worden. Außerdem hätten die Handwerksburschen republikanische Ideen in sich aufnehmen können, und das mußte im Interesse der staatlichen Ordnung verhütet werden. Als ich im Frühjahr 1858 auf der preußischen Gesandtschaft in Karlsruhe um die Erlaubnis zum Aufenthalt in der Schweiz anfragte, wurde mir diese mit Hinweis auf das bestehende Verbot verweigert.
So wanderte ich auf der Schweizer Seite nach Konstanz, fuhr zu Schiff über den Bodensee nach Friedrichshafen, wobei ich infolge eines Sturmes seekrank wurde. Von Friedrichshafen ging der Marsch zu Fuß über Ravensburg, Biberach, Ulm, Augsburg nach München. In Württemberg bestand zu jener Zeit in den Städten die Einrichtung, daß die reisenden Handwerksburschen ein sogenanntes Stadtgeschenk in Empfang nehmen konnten, das in der Regel 6 Kreuzer betrug, um sie vom Fechten abzuhalten. Ich habe dieses Geschenk überall gewissenhaft kassiert. Von Ulm aus schloß sich mir ein stämmiger Tiroler an, der wie ein Fleischer aussah, aber ein Schneider war. Statt eines Berliners trug er einen Militärtornister auf dem Rücken, was ihm, da er auch eine leinene Bluse trug, ein seltsames Aussehen gab. Da unser Geld knapp war und Fechten zu keiner Zeit als Schande für einen Handwerksburschen galt, klopften wir ziemlich häufig die Dörfer ab, die wir passierten. Eines Mittags hatten wir wieder in einem Dorfe einen strategischen Plan entworfen. „Du nimmst die rechte Seite, ich die linke!“ hieß es. Als ich in ein Haus kam und ansprach, erhielt ich von der Tochter mit dem Geschenk zugleich die Warnung, mich in acht zu nehmen, der Gendarm sei in der Nähe. Das ließ ich mir gesagt sein und sprach nicht mehr an. Als ich aber außen vor dem Dorfe ein stattliches Haus stehen sah, allerdings auf der anderen Seite, das aber aussah, als könnten seine Bewohner zwei Handwerksburschen unterstützen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und marschierte drauflos. Glücklicherweise betrachtete ich das Haus mir nochmals von außen, ehe ich die sechs oder sieben Steinstufen hinaufstieg, und da entdeckte ich zu meiner Ueberraschung über der Tür ein Schild mit dem Inhalt: Königlich bayerische Gendarmeriestation. Hier ging ich mit Andacht vorbei und legte mich außerhalb des Dorfes im herrlichsten Sonnenschein auf eine Wiese, um meinen Reisegenossen zu erwarten. Dieser kam endlich angetrappt und marschierte direkt auf das Haus los, das ja auf der ihm zugeteilten Seite lag. Ohne es von außen anzusehen, stieg er die Treppe hinauf und ging hinein. Ich gestehe, daß ich in diesem Augenblick von einem wahren Lachkrampf befallen wurde. Nach einigen Sekunden kam aber der Tiroler zum Hause herausgeschossen, sprang mit einem mächtigen Satze über sämtliche Treppenstufen und rannte, was ihn die Beine tragen konnten, davon. Als ich ihn lachend frug, was denn passiert sei, erzählte er: er sei direkt nach der Kuchel (Küche) gegangen, aus der es sehr gut gerochen habe, dort aber habe ein Gendarm in Hemdärmeln gestanden und ihn angeschnauzt, was er wolle. Er habe natürlich die Situation sofort erkannt und sei spornstreichs zum Hause hinaus.
Anderen Nachmittags kamen wir nach Dachau. Hier machte mein Reisekollege den Vorschlag, wir sollten beide bei den Schneidermeistern Umschau halten, was ich ganz gut könnte, da jeder mich für einen Schneider halte. Es sei hier bemerkt, bei einer Umschau bei den Meistern des Gewerbes fielen die Geschenke wesentlich reichlicher aus, als wenn man focht. Gedacht, getan. Vorsichtshalber ließ ich aber dem Tiroler den Vortritt. Daß dieses klug gehandelt war, zeigte sich sofort. Wir stiegen in einem Hause die Treppe hinauf und läuteten den Meister heraus. Sobald der Tiroler sagte: Zwei zugereiste Schneider bitten um ein Geschenk, antwortete der Meister: Sehr erfreut, ich kann Sie beide gut brauchen, geben Sie mir Ihre Wanderbücher. Hatte er das Wanderbuch in der Hand, so war die Sklavenkette geschmiedet, denn alsdann mußte man zu arbeiten anfangen. Während nun der Tiroler zögernd sein Wanderbuch aus der Rocktasche zog, machte ich rechtsumkehrt und sprang in großen Sätzen die Treppe hinunter und zum Städtchen hinaus. Daß ich den Tiroler als Reisegefährten verlor, bedauerte ich, er war ein guter Kamerad und angenehmer Gesellschafter gewesen.
Von Dachau führte zu jener Zeit eine schnurgerade Straße, die rechts und links mit breitgewachsenen Pappeln besetzt war, nach München. Das Bild der Straße wurde abgeschlossen durch die Türme der Münchener Frauenkirche, den Heinrich Heineschen „Stiefelknecht“, die am Ende der meilenlangen Straße zu stehen schienen. Ich wanderte mißmutig meinen Weg, als hinter mir ein Bauer mit einem Korbwagen erschien, der offenbar nach München fuhr. Ueber den Inhalt des Wagens war eine große Plane gedeckt. Der Weg war noch weit und der Spätnachmittag herangekommen. Ich frug höflich an, ob mir das Aufsitzen gestattet sei. Der Bauer antwortete in seinem bayerischen Deutsch, das ich damals noch nicht verstand, aber seine Worte legte ich als Zustimmung aus. Ich stieg also auf den Wagen und rückte mich behaglich auf der Plane zurecht. Der Bauer sah wiederholt hinter sich und rief mir einiges zu, was ich aber ebenfalls nicht verstand. Endlich zogen wir in München ein. Der Wagen hielt am Karlstor vor einem Kaufmannsladen. Ich sprang ab, zog den Hut und dankte höflich für die Freifahrt. In demselben Augenblick hatte der Bauer die Plane zurückgezogen, an der jetzt ein mehrere Pfund schwerer Butterklumpen klebte. Ich hatte, ohne es zu wissen, mit den Stiefelabsätzen in einem nur mit der Plane bedeckten Butterfaß herumgearbeitet. Sobald ich das angerichtete Unheil sah, wurde ich blutrot, bat um Verzeihung und erklärte mich bereit, den Schaden zu ersetzen. In demselben Augenblick erfolgte eine Lachsalve zweier junger Mädchen, die aus einem Fenster der ersten Etage sahen und das Schauspiel beobachtet hatten. Das machte mich noch verlegener. Der Bauer aber half mir rasch aus der Verlegenheit, indem er auf mein Angebot, Schadenersatz zu leisten, grob antwortete: „Mach', daß du fortkommst, du hast a nix!“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; in wenigen Sätzen war ich um die Ecke in der Neuhauser Straße. So oft ich nach München ans Karlstor komme, fällt mir dieser Vorgang wieder ein.
In München war ich am Tage nach Schluß der siebenhundertjährigen Feier der Gründung der Stadt angekommen, eine Feier, die eine ganze Woche gewährt hatte und an die sich unmittelbar das Oktoberfest anschloß. Die ganze Bevölkerung war noch in dulci jubilo, und auf der Herberge in der Rosengasse, auf der zu jener Zeit noch stark zünftlerische Sitten herrschten, ging es hoch her. Ich wurde freundlich begrüßt und blieb eine volle Woche in München, in dem es mir ausnehmend gefiel. Aber so sehr ich und meine Kollegen sich bemühten, mir Arbeit zu verschaffen, es war vergeblich. Alle Stellen waren besetzt. Keiner wich. So entschloß ich mich, nach Regensburg zu wandern. Mit noch einem Reisegefährten, der ebenfalls nach dort wollte, begab ich mich an die Isar, um zu sehen, ob wir mit einem Floß bis Landshut fahren könnten. Man hatte uns gesagt, daß wenn wir uns auf dem Floß zum Rudern bereit erklärten, wir gratis mitfahren könnten und auch Verpflegung erhielten. Das erste war richtig, das zweite nicht. Die Isar war um jene Zeit wasserarm und hatte zahlreiche Krümmungen. Mein Reisegefährte – ein Trierer —, der vorne steuerte und ich hinten, machte überdies seine Sache sehr ungeschickt, und so fuhren wir einigemal auf den Sand, was den Flößer in Zorn versetzte, wobei es Schimpfworte regnete. Während einer Ablösung ließ ich mich mit den Passagieren, Bauersleuten und einem Pfarrer, in ein politisches Gespräch ein, das von meiner Seite so hitzig geführt wurde, daß der Flößer drohte, „den verdammten Preiß“ in die Isar zu werfen, wenn er nicht aufhöre, zu disputieren. Ich schwieg, denn mit dem Wasser der Isar im Oktober Bekanntschaft zu machen, hatte ich keine Lust. Als wir in Mosburg, einige Stunden vor Landshut, gegen Abend landeten, schlugen wir uns seitwärts in die Büsche. Wir hatten von der Fahrt genug.
In dem Nachtquartier, das wir bei dunkler Nacht, empfangen von wütendem Hundegebell, in einem Dorfwirtshaus fanden, waren alle Räume überfüllt mit Leuten, die am nächsten Morgen zum Jahrmarkt in Landshut sein wollten. Wir mußten in der Scheune Platz nehmen, in der bereits einige Dutzend Männlein und Weiblein durcheinanderliegend Platz genommen hatten. Kaum lagen wir frierend im Halbschlummer, als wir durch Lärm geweckt wurden. Eine der Frauen, die bereits im Stroh lag, war Zeugin, wie ihr Mann der Magd, die ihn mit einer Laterne in der Hand zum Nachtquartier in die Scheune geleitete, mit einigen derben Zärtlichkeiten dankte. Darauf hielt sie ihm eine Strafpredigt im echtesten Bayerisch, die alle Schläfer aufscheuchte und großes Gelächter hervorrief. Morgens, es war noch pechfinster, suchten wir unseren Ausweg aus der Scheune, wobei wir gewahr wurden, daß wir beide, die wir auf der Höhe eines Heuhaufens uns quartiert hatten, während der Nacht auf entgegengesetzten Seiten heruntergerutscht waren.
In Regensburg fand ich mit einem gleichfalls zugereisten Kollegen aus Breslau in der gleichen Werkstatt Arbeit. Man hatte mir abgeraten, dieselbe anzunehmen, der Meister sei in ganz Bayern als der größte Grobian bekannt. Ich ließ mich aber nicht abschrecken.
In Regensburg erlebte ich nicht viel Bemerkenswertes. Im Kreise der Fachgenossen, in dem ich verkehrte, war mit Ausnahme des Breslauers keiner, der höhere geistige Bedürfnisse hatte. Wer am meisten trank, war der Gefeiertste. So gingen wir beide die meisten Sonntagabende ins Theater, in dem wir natürlich auf den Olymp stiegen, auf dem der Platz 9 Kreuzer kostete. Eines Tages wollten wir aber auch in der Woche uns ein bestimmtes Stück ansehen. Das war aber undurchführbar, weil der Schluß unserer Arbeitszeit mit dem Beginn des Theaters zusammenfiel. Wir gaben also unserer Köchin gute Worte, das Abendessen eine halbe Stunde früher anzurichten, wir würden die Uhr in der Stube entsprechend vorrücken. Damals gab es in Süddeutschland und Oesterreich bei den Meistern stets warmes Abendessen. Nach dem Essen kleideten wir uns rasch um und stürmten nach dem Theater. In demselben Augenblick, in dem wir von der einen Seite in dasselbe traten, kam von der anderen Seite der Meister mit seiner Frau, und in demselben Augenblick schlug auch die Uhr auf einer benachbarten Kirche sieben. Jetzt wäre erst unsere Arbeitszeit zu Ende gewesen. Wir waren verraten. Merkwürdigerweise sagte der Meister am nächsten Tage zu uns kein Wort, aber zur Köchin äußerte er: „Hören Sie, Kathi, nehmen Sie sich vor den Preißen in acht, die haben gestern abend die Uhr um eine halbe Stunde vorgerückt.“
Von Regensburg aus stattete ich auch einen Besuch der Walhalla ab, die oberhalb Donaustauf von der Bergeshöhe einen weiten Blick in die Ebene gewährt. Bekanntlich ist Ludwig I. von Bayern, der „Teutsche“, der Erbauer der Walhalla, in der zu jener Zeit unter den aufgestellten Büsten der Berühmtheiten diejenige Luthers fehlte.
Der Winter von 1858 auf 1859 war ein sehr langer und strenger. Hohe Kälte setzte bereits Mitte November ein. Ein Streit mit dem Meister veranlaßte mich, schon am 1. Februar, trotz Kälte und Schnee, auf die Reise zu gehen. Der Breslauer schloß sich mir an. Wir marschierten zunächst nach München, woselbst wir abermals vergeblich um Arbeit anklopften. Nunmehr marschierten wir weiter über Rosenheim nach Kufstein. Der Eintritt nach Oesterreich machte uns Kopfzerbrechen. Damals wurde an der Grenze von jedem Handwerksburschen, der nach Oesterreich wollte, der Nachweis von fünf Gulden Reisegeld verlangt. Diese hatten wir aber nicht. So verfielen wir auf die Idee, von der letzten bayerischen Station die Bahn nach Kufstein zu benützen. Um möglichst als Gentlemen auszusehen, putzten wir extrafein unsere Stiefel und Kleider und steckten einen weißen Kragen auf. Unsere List hatte den gewünschten Erfolg. Unser sauberes Aussehen und die Tatsache, daß wir mit der Bahn ankamen, täuschte die Grenzbeamten; sie ließen uns unbeanstandet passieren. Bei starker Kälte und meterhohem Schnee ging die Reise zu Fuß durch Tirol. Die Kälte und der Schnee trieben die Gemsen aus dem Gebirge herab, deren Lockrufe wir auf dem Marsch in der Abenddämmerung hörten. Sehr verwundert waren wir, beim Fechten reichlich Geld zu erhalten, und zwar Kupferstücke in der Größe unserer heutigen Zweimarkstücke. Als wir am ersten Abend in das Gasthaus traten, trugen wir schwer an der Last der erfochtenen Münzen. Als wir aber am nächsten Morgen unsere kleine Rechnung beglichen, mußten wir den halben Wirtstisch mit diesen Kupfermünzen bedecken. Es stellte sich heraus, daß dieselben in wenig Wochen wertlos wurden, weil die österreichische Regierung neue Münzen herausgegeben hatte. So löste sich das Rätsel von der großen Freigebigkeit, man war froh, das wertlos werdende Geld los zu sein.
Endlich marschierten wir nach einer Reihe Tage über Reichenhall direkt nach Salzburg, das wir an einem Nachmittag bei wundervollem Sonnenschein erreichten. Wir standen wie gebannt, als wir bei dem Marsch um einen niederen Gebirgsrücken (den Mönchsberg) die Stadt mit ihren vielen Kirchen und der italienischen Bauart, überragt von der Feste Salzburg, vor uns liegen sahen.
Was mir im späteren Leben als ein Rätsel erschien, war, daß ich von all den Märschen, bei denen ich oft bis auf die Haut durchnäßt wurde und jämmerlich fror, nie eine ernste Krankheit davontrug. Meine Kleidung war keineswegs solchen Strapazen angepaßt, wollene Unterwäsche war ein unbekannter Luxus und ein Regenschirm wäre für einen wandernden Handwerksburschen ein Gegenstand des Spottes und Hohnes geworden. Oft bin ich morgens in die noch feuchten Kleider geschlüpft, die am Tage vorher durchnäßt wurden und am nächsten Tage das gleiche Schicksal erfuhren. Jugend überwindet viel.
In Salzburg fand ich Arbeit, wohingegen mein Reisegefährte, nachdem ich ihm mit dem Rest meines Geldes nach Kräften ausgeholfen, weiter nach Wien reiste. In Salzburg verblieb ich bis Ende Februar 1860. Bekanntlich ist Salzburg nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands, denn damals gehörte es noch zu Deutschland; aber es steht im Rufe, im Sommer sehr viel Regentage zu haben. Eine Ausnahme machte der Sommer 1859, der wunderbar genannt werden mußte. Der Sommer 1859 war aber auch ein Kriegssommer. Der Krieg zwischen Oesterreich auf der einen und Italien und Frankreich auf der anderen Seite war in Norditalien entbrannt. Dadurch wurde das Leben in Salzburg insofern besonders interessant, als Massen Militär aller Waffengattungen und Nationalitäten singend und jubelnd nach Südtirol zogen. Einige Monate später kamen die Armen niedergedrückt als Besiegte zurück, gefolgt von Hunderten von Wagen mit Verwundeten und Maroden. Zunächst aber herrschte siegesfreudige Zuversicht. Ich war über die politischen Ereignisse so aufgeregt, daß ich an Sonntagen, für andere Tage hatte ich weder Zeit noch Geld, nicht aus dem Café Tomaselli ging, bis ich fast alle Zeitungen gelesen hatte. Als Preuße hatte man zu jener Zeit in Oesterreich einen schweren Stand. Daß Preußen zögerte, Oesterreich zu Hilfe zu kommen, sahen die Oesterreicher als Verrat an. Als guter Preuße, der ich damals noch war, suchte ich die preußische Politik zu verteidigen, kam aber damit übel an. Mehr als einmal mußte ich mich vom Wirtschaftstisch entfernen, wollte ich nicht eine Tracht Prügel einheimsen. Als dann aber die freiwilligen Tiroler Jäger aus Wien, Nieder- und Oberösterreich nach Salzburg kamen und auch dort ihr Werbebureau aufschlugen, packte mich die Abenteurerlust. Mit noch einem Kollegen, einem Ulmer, meldeten wir uns als Freiwillige, erhielten aber die Antwort: daß sie Fremde nicht brauchen könnten, nur Tiroler fänden Aufnahme. War es nun hier nichts mit dem Mitdabeisein, so entschloß ich mich, als jetzt verlautete, daß Preußen mobil mache, mich in der Heimat als Freiwilliger zu melden. Ich schrieb sofort an meinen Vormund: er möge mir zu diesem Zwecke einige Taler Reisegeld senden. Nach einiger Zeit kam auch das Geld – sechs Taler – an, aber jetzt bedurfte ich desselben als Reisegeld nicht mehr, denn mittlerweile war der Friede von Villafranca geschlossen worden. Der Krieg war zu Ende. Dagegen leistete mir das Geld gute Dienste, als ich im nächsten Frühjahr nach Wetzlar reiste.
Die Löhne waren auch in Salzburg – wie überall in der Drechslerei – schlechte. Da war sparen schwer. Ich hatte mir im Spätherbst den ersten Winterrock auf Abzahlung gekauft; und als gewissenhafter Mensch sparte ich nicht nur, ich darbte, um die wöchentlichen Raten zahlen zu können. Dabei drückte mich noch eine große Sorge. Die Arbeit war knapp, und ich fürchtete, als Jüngster in der Werkstatt nach Neujahr die Kündigung zu erhalten. Das hatte die Meisterin durch meinen Kollegen erfahren. Als ich nun ihr und dem Meister am Neujahrstag gratulierte, gab sie mir die tröstliche Versicherung, daß ich bis zu meiner Heimreise in Arbeit bleiben könne. Damit fiel mir ein Stein vom Herzen. Unwillkürlich dachte ich an den Neujahrsempfang, den der österreichische Gesandte, Baron von Hübner, das Jahr zuvor bei der Gratulationscour in den Tuilerien gehabt hatte, bei der die Ansprache Napoleons an Hübner als die Einläutung zum italienischen Krieg angesehen wurde.
In Salzburg bestand ein katholischer Gesellenverein mit über 200 Mitgliedern, unter denen sich nicht weniger als 33 Protestanten, fast alle Norddeutsche, befanden. Ich trat ebenfalls dem Verein bei, aus den schon oben angeführten Gründen. Präses des Vereins war ein Dr. Schöpf, Professor am dortigen Priesterseminar. Schöpf war ein junger, bildschöner Mann mit einem äußerst liebenswürdigen und jovialen Wesen. Er soll dem Jesuitenorden angehört haben. Schöpf wußte natürlich, daß eine Anzahl Protestanten seinem Verein angehörten.
In einer Vereinsversammlung erklärte er eines Tages offen, daß ihm die Protestanten die liebsten seien, weil sie zu den fleißigsten Besuchern des Vereins gehörten. Jeden Sonntag abend hielt er einen stets stark besuchten Vortrag, der ein reiner Moralvortrag war, den jeder, wes Glaubens er immer war, ohne Bedenken besuchen konnte. Ich wurde mit Dr. Schöpf bekannt, und auf seine Einladung besuchte ich ihn öfter Sonntag nachmittag in seiner Wohnung, wo wir uns namentlich über die Zustände in Deutschland und Oesterreich unterhielten, und er überraschend freie Anschauungen äußerte.