Полная версия
Aus meinem Leben. Erster Teil
Nach einigen Jahren wurde die Armenschule mit der Bürgerschule verschmolzen, wir hießen jetzt Freischüler; die Mädchen erhielten das Deutsche Haus als Schulhaus angewiesen.
Mit der Schule und den Lehrern fand ich mich im ganzen sehr gut ab, nur mit dem Kantor nicht, der mir nicht hold war. Ich gehörte zu den besten Schülern, was namentlich unseren Lehrer der Geometrie, ein kleiner prächtiger Mann, veranlaßte, mich mit noch zwei Kameraden extra vorzunehmen und uns in die Geheimnisse der Mathematik einzuweihen. Wir lernten mit Logarithmen rechnen. Neben Rechnen und Geometrie waren meine Lieblingsfächer Geschichte und Geographie. Religion, für die ich keinen Sinn hatte – und meine Mutter, eine aufgeklärte und freidenkende Frau, quälte uns zu Hause nicht damit —, lernte ich nur, weil ich mußte. Ich war zwar auch hier mit an der ersten Stelle, aber das verhinderte nicht, daß ich namentlich in der Katechumenenstunde dem Oberpfarrer einigemal Antworten gab, die gar nicht ins Schema paßten und mir kleine Strafpredigten eintrugen.
Im übrigen war unser Oberpfarrer ein sehr ehrenwerter Mann und durchaus kein Frömmling, was aber, nebenbei bemerkt, nicht verhinderte, daß man ihm eines Tages, richtiger in einer Nacht, einen losen Streich spielte. In Wetzlar bestand zu jener Zeit die Sitte, sie besteht vielleicht auch heute noch, die im Spätherbst oder Winter geschlachteten Gänse eine Nacht der Durchfrierung auszusetzen, das soll dem Geschmack des Bratens förderlich sein. Die Gans wurde also in respektvoller Höhe, in der Regel vor das Fenster gehängt. So auch bei Oberpfarrers. Aber am nächsten Morgen war die Gans verschwunden. Dagegen hing am darauffolgenden Morgen das fein säuberlich abgenagte Gerippe der Gans am Glockenzug der Haustür und daran befestigt ein Zettel, auf dem das schöne Verslein stand:
Guten Morgen, Herr Schwager!Gestern war ich fett und heut bin ich mager!Ganz Wetzlar lachte, denn in einer kleinen Stadt sprechen sich derartige Vorkommnisse rasch herum. Ich nehme an, auch der Oberpfarrer lachte.
Wenn ich aber fleißig lernte und überall im Können mit an der Spitze stand, so stand ich auch an der Spitze der meisten losen Streiche, die nun einmal bei Jungen, die ein größeres Maß Bewegungsfreiheit haben, unausbleiblich, ja selbstverständlich sind. Das brachte mich in „sittlicher“ Beziehung in einen üblen Ruf. Namentlich genoß ich diesen bei unserem Kantor, der das Departement des Aeußern zu vertreten hatte, das heißt, der all die bösen Streiche, die der Schule gemeldet wurden, an den Attentätern zu bestrafen hatte. Wieso er, statt des Rektors, zu dieser Rolle kam, weiß ich nicht. Vielleicht daß sein Dienstalter oder seine Körperfülle oder ein Gewohnheitsrecht ihn dazu prädestinierte. Auch wußte er mit unnachahmlicher Grazie und sehr wirksam den Bakel zu schwingen. Weniger schmerzte es, wenn er mit seinen kleinen fetten Händen uns rechts und links ins Gesicht fuhr, daß es nur so klatschte. Aber auch in einem solchen Moment konnte ich nicht unterlassen, die kleinen fetten Hände zu bewundern.
Unsere Haupttummelplätze waren die nächste Umgebung des Domes, das alte Reichskammergerichtsgebäude, dessen große Räume jahrelang als Lagerplatz einem Gastwirt dienten, die große Burgruine Kalsmunt vor der Stadt, die Felsenpartien an der Garbenheimer Chaussee – der Ort Garbenheim besitzt ebenfalls Erinnerungen an Goethe —, auf deren Felsplatten wir unsere „Festungen“ errichteten, die alte Stadtmauer und vor allem die auf einem Hochplateau gelegene Garbenheimer Warte, von der aus wir im Herbste unsere Raubzüge in die Kartoffelfelder unternahmen, um Kartoffeln zum Braten zu holen. Eines Tages mußten wir dafür eine mehrstündige Belagerung durch eine Bauernfamilie aushalten, die wir aber siegreich abschlugen. Die Streifereien durch Wald und Flur, namentlich während der Ferien, waren zahllos.
Auch war das Obststrippen, wie wir es nannten, eine Lieblingsbeschäftigung im Sommer und Herbste, denn die Umgebung Wetzlars ist sehr obstreich. Die Lahn, ein ganz respektabler Fluß, gab im Sommer die gewünschte Badegelegenheit und im Winter die Möglichkeit zum Schlittschuhsport. Bei einer solchen Gelegenheit passierte es, daß mein Bruder hart neben mir in ein leicht zugefrorenes Loch einbrach und unzweifelhaft unter das Eis geraten und ertrunken wäre, breitete er nicht unwillkürlich die Arme aus, die ihn oben hielten. Ein Kamerad und ich zogen ihn aus dem Wasser und brachten ihn auf eine Felsplatte an der Garbenheimer Chaussee. Hier mußte er sich entkleiden, wir borgten ihm einzelne Kleidungsstücke von uns und rangen dann seine Kleider aus, die wir in der ungewöhnlich warmen Februarsonne trockneten. Die Mutter erfuhr erst nach Monaten den Unfall ihres Zweiten, was dadurch ermöglicht wurde, daß wir unsere Kleider selbst reinigten, auch, so gut es ging, selbst flickten, um die Risse dem Auge der Mutter zu verbergen.
Das Jahr darauf half ich einem meiner Vettern, der einige Jahre älter war als ich, bei ähnlicher Gelegenheit das Leben retten. Dieser, ein vorzüglicher Schlittschuhfahrer, kam eines Tages in sausender Fahrt die Lahn herunter und fuhr auf ein Wehr zu, wobei er infolge der spiegelblanken Eisfläche nicht sah, daß vor dem Wehr ein breiter Streifen offenes Wasser war. Voll Schrecken schrie ich ihm zu, umzukehren. Er gehorchte auch. Aber es war zu spät. Als er den Ausweichbogen beschrieb, brach er ein. Krampfhaft hielt er sich am Eis fest, sobald er aber den Versuch machte, ein Bein auf dasselbe zu bringen, brach es von neuem. Rasch riß ich jetzt einen langen gestrickten wollenen Schal, wie sie damals allgemein getragen wurden, vom Hals, nahm einen zweiten von einem neben mir stehenden Kameraden, knüpfte beide zusammen und warf das eine Ende meinem Vetter zu, das er glücklich erhaschte. Jetzt zogen wir ihn langsam auf festes Eis. Er war gerettet.
Mein schlimmer Ruf bei unserem Kantor war allmählich so fest begründet, daß er es als selbstverständlich voraussetzte, daß ich bei jeder Teufelei, die vorkam, beteiligt sei. Versuchte ich einmal einen Kameraden vor ungerechter Strafe zu schützen, indem ich mich für diesen ins Mittel legte, so wurde ich ohne Gnade als Beteiligter angesehen und mitbestraft, auch wenn ich gänzlich unbeteiligt war. Später hat man mir in der Partei die Eigenschaft, um jeden Preis gerecht sein zu wollen, scherzweise als Gerechtigkeitsmeierei angekreidet. Oft genug hatte allerdings unser Kantor berechtigte Ursache, mit mir ins Gericht zu gehen. So als ich eines Tages, dem dunklen Triebe nach „Berühmtheit“ folgend, in die roten Sandsteinstufen zum Eingang in den Dom in lapidaren Buchstaben meinen vollen Namen, Geburtsort und Geburtstag eingemeißelt hatte. Ein starker Nagel als Meißel und ein Stein als Hammer bildeten die Werkzeuge, die ich dazu benutzte. Natürlich wurde die böse Tat am nächsten Sonntag beim Kirchgang allseitig entdeckt, auch von dem Kantor. Endresultat: etwelche Ohrfeigen und dreimal über Mittag bleiben. Das bedeutete, daß ich vom Schluß der Schule am Vormittag bis zum Beginn derselben am Nachmittag im „Karzer“ zubringen mußte, also erst nach dem zweiten Schulschluß nach Hause kam und so mein Mittagessen einbüßte. Zum Glück aber hatte der Kantor eine weichmütige Tochter. Diese beobachtete mich an der Seite ihres Bräutigams, als ich am zweiten Mittag am Karzerfenster stand und philosophische Betrachtungen über die Freiheit der Spatzen anstellte, die auf dem Schulhof in Scharen lärmten. Von meinem Schicksal gerührt, erwirkte sie mir bei ihrem Vater sofort eine vollständige Amnestie und kam selbst, um mir die Freiheit anzukündigen und mich aus der Haft zu entlassen. Es war die erste und einzige Begnadigung, die mir in meinem Leben zuteil geworden ist. Hätte das Ewigweibliche öfter über mein Geschick zu entscheiden gehabt, ich glaube, ich wäre manchmal besser davongekommen.
Indes kam auch für mich der Tag der Erkenntnis, an dem ich mir sagte, jetzt mußt du doch anfangen, ein ordentlicher Kerl zu werden. Dieser Akt vollzog sich also. Der Sohn des Majors des in Wetzlar garnisonierenden Jägerbataillons, Moritz v.G., war mein Kumpan bei vielen losen Streichen gewesen. Da kam das Schulexamen. Der einzige Mensch, der von der Bevölkerung demselben als Zuhörer beiwohnte, war Major v.G., ein Hüne an Gestalt. Die Prüfung war zu Ende, und es wurden die Zensuren verlesen. Merkwürdigerweise wurden diese ausschließlich auf das sittliche Verhalten hin erteilt. Alle Schüler der Klasse hatten bereits ihre Zensur erhalten, nur Moritz v.G. und ich waren übrig. Wir allein erhielten die Zensur fünf, also die schlechteste, die es gab. Der Vater Major verzog keine Miene, aber ich habe Grund, anzunehmen, daß es zu Hause für Moritz nicht glimpflich abging. Ich sah ihn seit jenem Tage nie wieder, er kam unmittelbar nach jenem Vorgang auf die Kadettenschule. In den neunziger Jahren erfuhr ich, daß er in K. eine hohe militärische Stellung bekleidete. Ihm hatte also seine böse Bubennatur so wenig geschadet wie mir. Von jener Stunde an wurde ich ordentlich, das heißt ich tat nichts mehr, was mir Strafen eintrug. So erhielt ich im nächsten Examen die Zensur drei und bei der folgenden und letzten Prüfung, an der ich teilnahm, die Eins. Wäre es damals auf die Stimmung der Klasse angekommen, ich hätte auch eine der beiden zur Verteilung gelangten Prämien erhalten. Als der Rektor den Namen des zweiten Ausgezeichneten nennen wollte, rief die ganze Klasse meinen Namen. Der Rektor aber meinte, ich hätte mich zwar sehr gebessert, aber doch nicht in dem Maße, um mir eine Prämie zu geben. So trat ich prämienlos ins Leben.
* * * * *Unsere materiellen Verhältnisse konnten sich in Wetzlar nicht bessern. An Pension konnte meine Mutter keinen Anspruch erheben. Die einzige Unterstützung, die sie später vom Staat erhielt, bestand in 15 Silbergroschen pro Monat und Kopf von uns zwei Jungen. Diese waren ihr gewährt worden, weil sie trotz des Abratens ihres ersten Ehemannes uns beide als Kandidaten für das Militärwaisenhaus in Potsdam angemeldet hatte. Es war die Not, die sie dazu zwang; sie hatte zwar von ihrer mittlerweile gestorbenen Mutter fünf bis sechs Parzellen Land geerbt, die in den verschiedensten Gemarkungen um Wetzlar herum zerstreut lagen. Und sie hatte, der Not gehorchend, auch mehrere davon bereits verkauft, um leben zu können. Aber dieser Verkauf fiel ihr herzlich schwer. Ihr ganzes Dichten und Trachten war darauf gerichtet, uns den noch vorhandenen Besitz zu erhalten, damit wir nicht gänzlich mittellos in der Welt stünden. Was eine Mutter für ihre Kinder opfern kann, habe ich an der eigenen erfahren. Einige Jahre lang hatte meine Mutter für ihren Schwager – einen Handschuhmacher – weiße Militärlederhandschuhe genäht, das Paar für 6 Kreuzer, ungefähr 20 Pfennig. Mehr als ein Paar im Tag konnte sie aber nicht fertigen. Dieser Verdienst war zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Aber auch diese Arbeit mußte sie nach einigen Jahren aufgeben, denn auch sie war mittlerweile von der Schwindsucht ergriffen worden, die ihr in den letzten Lebensjahren jede Arbeit unmöglich machte. Ich als Aeltester mußte die Ordnung des kleinen Hauswesens, Stube und Kammer, übernehmen. Ich hatte Kaffee zu kochen, Stube und Kammer zu reinigen und sie samstäglich zu scheuern; ich mußte das Zinn- und Blechgeschirr putzen, unser Bett machen usw., eine Tätigkeit, die mir nachher als Handwerksbursche und politischer Gefangener sehr zustatten kam. Da es meiner Mutter später aber auch unmöglich wurde, zu kochen, ging jeder von uns beiden zu einer Tante zu Mittagessen, die sich zu diesem Liebesdienst bereit erklärten. Für die Mutter selbst holten wir abwechselnd bei verschiedenen bessersituierten Familien das bißchen Essen, dessen sie benötigte. Um unsere Lage etwas zu verbessern, beschloß ich, als Kegeljunge tätig zu sein. Nach Schluß der Schule ging ich zum Kegelaufsetzen auf die Kegelbahn in einer Gartenwirtschaft. Von dort kam ich in der Regel erst abends gegen zehn Uhr nach Hause, am Sonntag weit später. Aber das fortgesetzte Bücken verursachte mir so heftige Rückenschmerzen, daß ich jeden Abend stöhnend nach Hause kam. Ich mußte diese Beschäftigung einstellen. Eine andere Beschäftigung, an der wir Jungen beide teilnahmen, war im Herbst das Kartoffellesen bei der Ernte auf den Aeckern einer unserer Tanten. Es war, wenn es neblig, naß und kalt war, keine angenehme Beschäftigung, von früh sieben bis zum Dunkelwerden auf den Kartoffelfeldern zu arbeiten, aber es winkte uns als Lohn ein großer Sack Kartoffeln für den Winter, außerdem erhielten wir jeden Morgen, wenn wir mit aufs Feld gingen, zur Anregung ein großes Stück Zwetschgenkuchen, den wir beide leidenschaftlich liebten.
Als ich im dreizehnten und mein Bruder im zwölften Lebensjahr stand, kam vom Militärwaisenhaus die Nachricht, mein Bruder könne einrücken. Ich war auf Grund ärztlicher Untersuchung als körperlich zu schwach dazu erklärt worden. Jetzt sank aber meiner Mutter der Mut; sie fühlte ihr Ende nahen, und so glaubte sie es nicht verantworten zu können, daß mein Bruder für zwei Jahre Militärerziehung nachher zu neun Jahren Militärdienstzeit verpflichtet werde. „Wollt ihr Soldat werden, so geht später freiwillig, ich verantworte es nicht,“ äußerte sie zu uns. So unterblieb der Eintritt meines Bruders in das Militärwaisenhaus, der für mich damals zu meinem Bedauern nicht in Frage kam.
Mein lebhaftes kindliches Interesse weckten die Bewegungsjahre 1848 und 1849. Die Mehrzahl der Wetzlarer Einwohner war entsprechend der Traditionen der Stadt republikanisch gesinnt. Diese Gesinnung übertrug sich auch auf die Schuljugend. Bei einer Disputation über unsere politischen Ansichten, wie sie unter Schuljungen vorzukommen pflegt, stellte sich heraus, daß nur ein Kamerad und ich monarchisch gesinnt waren. Dafür wurden wir beide mit einer Tracht Prügel bedacht. Wenn sich also meine politischen Gegner über meine „antipatriotische“ Gesinnung entrüsten, weil nach ihrer Meinung Monarchie und Vaterland ein und dasselbe sind, so ersehen sie aus der vermeldeten Tatsache, vielleicht zu ihrer Genugtuung, daß ich schon fürs Vaterland gelitten habe, als ihre Väter und Großväter noch in ihrer Maienblüte Unschuld zu den Antipatrioten gehörten. Im Rheinland war wenigstens zu jener Zeit der größere Teil der Bevölkerung republikanisch gesinnt.
Für meine Mutter brachte jene Zeit in ihr tägliches Einerlei insofern eine kurze Abwechslung, als, ich glaube bei dem Rückmarsch aus dem badischen Feldzug, das Bataillon des 25. Infanterieregiments, bei dem mein Vater gedient hatte, kurze Zeit in Wetzlar verblieb. In demselben standen noch eine Anzahl Unteroffiziere, die meine Mutter von früher kannten. Diese besuchten uns jetzt. Auf ihr Drängen ließ sich meine Mutter herbei, einen Mittagstisch für sie einzurichten. Profitiert hat sie wohl nichts. Ich hörte eines Tages, daß zwei der Gäste auf der Treppe beim Fortgehen sich unterhielten und das Essen sehr lobten, sich aber auch wunderten, daß es meine Mutter für so billigen Preis liefern könne.
Sehr amüsant für uns Jungen waren die Bauernrevolten, die sich in jenen Jahren im Wetzlarer Kreise abspielten. Die Bauern mußten damals noch allerlei aus der Feudalzeit übernommene Verpflichtungen erfüllen. Da alles für Freiheit und Gleichheit schwärmte, wollten sie jetzt diese Lasten auch los sein; sie rotteten sich also zu Tausenden zusammen und zogen nach Braunfels vor das Schloß des Fürsten von Solms-Braunfels. An der Spitze des Zuges wurde in der Regel eine große schwarzweiße Fahne getragen, zum Zeichen, daß man allenfalls preußisch, aber nicht braunfelsisch sein wolle. Ein Teil des Haufens trug Flinten vermiedenen Kalibers, die große Mehrzahl aber Sensen, Mist- und Heugabeln, Aexte usw. Hinter dem Zug, der sich mehrfach wiederholte und stets unblutig verlief, marschierte in der Regel die Wetzlarer Garnison, um den Fürsten zu schützen, wenn sie nicht schon vorher ausgerückt war. Ueber die Begegnung der Bauernführer mit dem Fürsten kursierten in Wetzlar sehr amüsante Erzählungen. Die Wetzlarer blieben noch lange in ihrer oppositionellen Stimmung. Als im Jahre 1849 oder 1850 der Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm I., in Begleitung des Generals v. Hirschfeld, der damals das 8. rheinische Armeekorps kommandierte, auf seiner Inspektionsreise auch nach Wetzlar kam, wurde sein Wagen vor dem Tore mit Schmutz beworfen. Ein Verwandter von mir, der sich bei einer Gelegenheit zum Sturmläuten hatte fortreißen lassen, wurde mit drei Jahren Zuchthaus bestraft. Für die Bürgerwehr, die in den Bewegungsjahren auch in Wetzlar bestand, hatte ich nur ein Gefühl der Geringschätzung, obgleich mehrere meiner Verwandten zu ihr gehörten, und zwar wegen der mangelnden militärischen Haltung, mit der sie ihre Uebungen vornahm. Mit der wiederkehrenden Reaktion verschwand sie.
* * * * *Das Jahr 1853 machte meinen Bruder und mich zu Waisen. Anfang Juni starb meine Mutter. Sie sah ihrem Tode mit Heroismus entgegen. Als sie am Nachmittag ihres Todestags ihr letztes Stündlein herannahen fühlte, beauftragte sie uns, ihre Schwestern zu rufen. Einen Grund dafür gab sie nicht an. Als die Schwestern kamen, wurden wir aus der Stube geschickt. In trübseliger Stimmung saßen wir stundenlang auf der Treppe und warteten, was kommen werde. Endlich gegen sieben Uhr traten die Schwestern aus der Stube und teilten uns mit, daß soeben unsere Mutter gestorben sei. Noch an demselben Abend mußten wir unsere Habseligkeiten packen und den Tanten folgen, ohne daß wir die tote Mutter noch zu sehen bekamen. Die Aermste hatte wenig gute Tage in ihrem Ehe- und Witwenleben gesehen. Und doch war sie immer heiter und guten Mutes. Ihr starben binnen drei Jahren zwei Ehemänner, außerdem zwei Kinder, außer meinem jüngsten Bruder eine Schwester, die vor mir geboren worden war, die ich aber nicht gekannt habe. Mit uns zwei Brüdern hatte sie wiederholt schwere Krankheitsfälle durchzumachen. Ich erkrankte 1848 am Nervenfieber und schwebte mehrere Wochen zwischen Leben und Tod. Einige Jahre danach erkrankte ich an der sogenannten freiwilligen Hinke, kam aber mit graden Gliedern davon. Mein Bruder stürzte, neun Jahre alt, beim Spiel in einer Scheune von der obersten Leiterstufe auf die Tenne herab und trug eine schwere Kopfwunde und eine Gehirnerschütterung davon. Auch er entging nur mit genauer Not dem Tode. Meine Mutter selbst litt mindestens sieben Jahre an der Schwindsucht. Mehr Trübsal und Sorge konnten einer Mutter kaum beschieden sein.
Ich kam jetzt zu einer Tante, die eine Wassermühle in Wetzlar in Erbpacht hatte, mein Bruder kam zu einer anderen Tante, deren Mann Bäcker war. Ich mußte jetzt fleißig in der Mühle zugreifen. Besonderes Vergnügen machte es mir, mit den beiden Eseln, die wir besaßen, Mehl aufs Land zu den Bauern zu transportieren und Getreide von ihnen in Empfang zu nehmen. Am liebsten aber war mir, wenn ich nur wenig Getreide zum Rücktransport erhielt, dann konnte ich auf einem der Esel nach der Stadt reiten. Das ließ sich auch unser Schwarzer, der ein geduldiges Tier war, gefallen, aber unser Grauer, der jung und feurig war, dachte anders. Er besaß offenbar so etwas wie Standesbewußtsein, denn außer der gewohnten Last litt er keine fremde auf seinem Rücken. Als ich aber doch eines Tages auf seinem Rücken Platz genommen hatte, setzte er sich sofort in Trab, steckte den Kopf zwischen die Vorderbeine und schlug mit den Hinterbeinen nach Kräften aus. Ehe ich mich's versah, flog ich in einem eleganten Bogen in den Straßengraben. Glücklicherweise ohne mich zu verletzen. Er hatte seinen Zweck erreicht, ich ließ ihn fortan in Ruhe.
Außer den beiden Eseln besaß meine Tante ein Pferd, mehrere Kühe, eine Anzahl Schweine und mehrere Dutzend Hühner. Und da sie auch Landwirtschaft betrieb, fehlte es nicht an Arbeit, obgleich neben ihrem Sohn ein Müllerknecht – wie damals die Gesellen genannt wurden – und eine Magd beschäftigt wurden. Hatte der Knecht keine Zeit, so mußte ich Pferd und Esel putzen und manchmal auch das Pferd in die Schwemme reiten. Die Sorge für den Hühnerhof war mir ganz überlassen. Ich mußte die Fütterung der Hühner besorgen, die Eier aus den Nestern nehmen oder wohin sonst diese gelegt worden waren und den Stall reinigen. Mit diesen Beschäftigungen kam Ostern 1854 heran. Es folgte meine Entlassung aus der Schule, ein Ereignis, dem ich keineswegs freudig entgegensah. Am liebsten wäre ich in der Schule geblieben.
Die Lehr- und Wanderjahre
Was willst du denn werden? war die Frage, die jetzt mein Vormund, ein Onkel von mir, an mich stellte. „Ich möchte das Bergfach studieren!“ „Hast du denn zum Studieren Geld?“ Mit dieser Frage war meine Illusion zu Ende.
Daß ich das Bergfach studieren wollte, war dadurch veranlaßt, daß, nachdem im Anfang der fünfziger Jahre die Lahn bis Wetzlar schiffbar gemacht worden war, in der Wetzlarer Gegend der Eisenerzabbau einen großen Aufschwung genommen hatte. Bis dahin hatten Haufen Eisenerze fast wertlos vor den Stollen gelegen, weil die hohen Transportkosten die Ausnutzung der Erze wenig rentabel machten. Da aus dem Bergstudium nichts werden konnte, entschloß ich mich, Drechsler zu werden. Das Angebot eines Klempnermeisters, bei ihm in die Lehre zu treten, lehnte ich ab, der Mann war mir unsympathisch, auch stand er im Rufe eines Trinkers. Drechsler wurde ich aus dem einfachen Grunde, weil ich annehmen durfte, daß der Mann einer Freundin meiner Mutter, der Drechslermeister war, und der in der Stadt den Ruf eines tüchtigen Mannes genoß, bereit sein werde, mich in die Lehre zu nehmen. Dies geschah auch. Die Begründung, mit der er meine Anfrage bejahte, war wunderlich genug. Er äußerte, seine Frau habe ihm erzählt, ich hätte mein religiöses Examen bei der Konfirmation in der Kirche sehr gut bestanden, er nehme also an, ich sei auch sonst ein brauchbarer Kerl. Nun war ich sicher kein dummer Kerl, aber ich müßte die Unwahrheit sagen, wollte ich behaupten, ich sei in der Drechslerei ein Künstler geworden. Es gab solche, und mein Meister gehörte zu ihnen, aber ich habe es trotz aller Mühe nicht über die Mittelmäßigkeit gebracht, was nicht verhinderte, daß ich drei Jahre später, am Ende meiner Lehrzeit, für mein Gesellenstück die erste Zensur bekam.
Meine physische Leistungsfähigkeit wurde durch meine körperliche Schwäche beeinträchtigt. Ich war ein ungemein schwächlicher Junge, wozu wohl auch mangelhafte Ernährung beitrug. So bestand unser Abendessen viele Jahre täglich nur in einem mäßig großen Stück Brot, das mit Butter oder Obstmus dünn bestrichen war. Beschwerten wir uns, und wir klagten täglich, daß wir noch Hunger hätten, so gab die Mutter regelmäßig zur Antwort: Man muß manchmal den Sack zumachen, auch wenn er noch nicht voll ist. Der Knüppel lag eben beim Hunde. Unter sotanen Umständen war es erklärlich, daß wir uns heimlich ein Stück Brot abschnitten, wenn wir konnten. Aber das entdeckte meine Mutter sofort und die Strafe blieb nicht aus. Eines Tages hatte ich wieder dieses Verbrechen begangen. Trotz aller Mühe, die ich mir gegeben hatte, den glatten Schnitt der Mutter nachzuahmen, wurde am Abend die Tat von ihr entdeckt. Ihr Verdacht fiel, ich weiß nicht warum, auf meinen Bruder, der sofort mit der breiten Seite eines langen Bureaulineals, das aus der Väter Nachlaß stammte, ein paar Schläge erhielt. Mein Bruder protestierte, er sei nicht der Täter gewesen. Das sah aber meine Mutter als Lüge an, und so bekam er eine zweite Portion. Jetzt wollte ich mich als Täter melden, aber da fiel mir ein, daß das töricht wäre; mein Bruder hatte die Schläge weg, und ich hätte wahrscheinlich noch mehr als er bekommen. Damit tröstete ich auch meinen Bruder, als dieser nachher mir Vorwürfe machte, daß ich mich nicht als Täter gemeldet hatte. Es ist begreiflich, wenn jahrelang mein Ideal war, mich einmal an Butterbrot tüchtig satt essen zu können.
Meister und Meisterin waren sehr ordentliche und angesehene Leute. Ich hatte ganze Verpflegung im Hause, das Essen war auch gut, nur nicht allzu reichlich. Meine Lehre war eine strenge und die Arbeit lang. Morgens 5 Uhr begann dieselbe und währte bis abends 7 Uhr ohne eine Pause. Aus der Drehbank ging es zum Essen und vom Essen in die Bank. Sobald ich morgens aufgestanden war, mußte ich der Meisterin viermal je zwei Eimer Wasser von dem fünf Minuten entfernten Brunnen holen, eine Arbeit, für die ich wöchentlich 4 Kreuzer gleich 14 Pfennig bekam. Das war das Taschengeld, das ich während der Lehrzeit besaß. Ausgehen durfte ich selten in der Woche, abends fast gar nicht und nicht ohne besondere Erlaubnis. Ebenso wurde es am Sonntag gehalten, an dem unser Hauptverkaufstag war, weil dann die Landleute zur Stadt kamen und ihre Einkäufe an Tabakpfeifen usw. machten und Reparaturen vornehmen ließen. Gegen Abend oder am Abend durfte ich dann zwei oder drei Stunden ausgehen. Ich war in dieser Beziehung wohl der am strengsten gehaltene Lehrling in ganz Wetzlar, und oftmals weinte ich vor Zorn, wenn ich an schönen Sonntagen sah, wie die Freunde und Kameraden spazieren gingen, während ich im Laden stehen und auf Kundschaft warten und den Bauern ihre schmutzigen Pfeifen säubern mußte. Nur am Sonntag vormittag, nachdem ich die Sonntagsschule nicht mehr besuchte, wurde mir gestattet, zur Kirche zu gehen. Dafür schwärmte ich aber nicht. Ich benützte also die Gelegenheit, die Kirche zu schwänzen. Um aber sicher zu gehen und nicht überrumpelt zu werden, erkundigte ich mich stets erst, welches Lied gesungen werde und welcher Pfarrer predige. Eines Sonntags aber ereilte mich mein Geschick. Beim Abendessen frug der Meister, ob ich in der Kirche gewesen sei? Dreist antwortete ich: Ja! Er frug weiter: was für ein Lied gesungen worden sei? Ich gab die Nummer an, entdeckte aber zu meinem Schrecken, daß die beiden Töchter, die mit am Tische saßen, kaum das Lachen verbeißen konnten. Als ich nun auf die dritte Frage: wer von den Pfarrern predigte denn? auch eine falsche Antwort gab, schlugen diese eine laute Lache auf. Ich war hereingefallen. Ich war zu früh an die Kirchtüre gegangen, noch ehe der Küster die neue Liedernummer aufgesteckt hatte, und in bezug auf den Namen des Pfarrers war ich falsch berichtet worden. Der Meister meinte trocken: es scheine, daß ich mir aus dem Kirchenbesuch nichts machte, ich möchte also künftig zu Hause bleiben. So war ein schönes Stück Freiheit verloren. Ich warf mich nun mit um so größerem Eifer auf das Lesen von Büchern, die ich ohne Wahl las, natürlich meistenteils Romane. Ich hatte schon in der Schule meine Vorzugsstellung gegen Kameraden, denen ich beim Lösen der Aufgaben half oder ihnen das Abschreiben derselben erlaubte, dazu benutzt, sie zu veranlassen, mir zur Belohnung Bücher, die sie hatten, zu leihen. Dadurch kam ich zum Beispiel zum Lesen von Robinson Crusoe und Onkel Toms Hütte. Jetzt verwandte ich meine paar Pfennige, um Bücher aus der Leihbibliothek zu holen. Einer meiner Lieblingsschriftsteller war Hackländer, dessen Soldatenleben im Frieden dazu beitrug, meine Begeisterung für das Militärwesen etwas zu dämpfen. Weiter las ich Walter Scott, die historischen Romane von Ferdinand Stolle, Luise Mühlbach usw. Aus der Väter Nachlaß hatten wir einige Geschichtsbücher gerettet. So ein Buch, das einen ganz vortrefflichen Abriß über die Geschichte Griechenlands und Roms enthielt. Den Verfasser habe ich vergessen. Ferner einige Bücher über preußische Geschichte, natürlich offiziell geeicht, deren Inhalt ich so im Kopfe hatte, daß ich alle Daten in bezug auf brandenburgisch-preußische Fürsten, berühmte Generale, Schlachttage usw. am Schnürchen hersagen konnte. Schmerzlich wartete ich auf das Ende der Lehrzeit, ich hatte Sehnsucht, die ganze Welt zu durchstürmen. Aber so schnell, wie ich wünschte, ging es nicht. An demselben Tage, an dem meine Lehrzeit beendet war, starb mein Meister, und zwar ebenfalls an der Schwindsucht, die damals in Wetzlar förmlich grassierte. So kam ich in die seltsame Lage, an demselben Tage, an dem ich Geselle geworden war, auch Geschäftsführer zu werden. Ein anderer Geselle war nicht vorhanden, ein Sohn, der das Geschäft hätte fortführen können, fehlte; so entschloß sich die Meisterin, allmählich auszuverkaufen und das Geschäft aufzugeben. Für die Meisterin, die eine auffallend hübsche und für ihr Alter ungewöhnlich rüstige Frau war, die mich stets gut behandelte, wäre ich durchs Feuer gegangen. Ich zeigte ihr jetzt meine Hingabe dadurch, daß ich über meine Kräfte arbeitete. Von Mai bis in den August stand ich mit der Sonne auf und arbeitete bis abends 9 Uhr und später. Ende Januar 1858 war das Geschäft liquidiert, und ich rüstete mich zur Wanderschaft. Als ich mich von der Meisterin verabschiedete, gab sie mir außer dem fälligen Lohn noch einen Taler Reisegeld. Am 1. Februar trat ich die Reise zu Fuß bei heftigem Schneetreiben an. Mein Bruder, der das Tischlerhandwerk erlernte, begleitete mich ungefähr eine Stunde Weges. Als wir uns verabschiedeten, brach er in heftiges Weinen aus, eine Gefühlsregung, die ich nie an ihm beobachtet hatte. Ich sollte ihn zum letzten Male gesehen haben. Im Sommer 1859 erhielt ich die Nachricht, daß er binnen drei Tagen einem heftigen Gelenkrheumatismus erlegen sei. So war ich der Letzte von der Familie.