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Ndura. Sohn Des Urwalds
Ndura. Sohn Des Urwalds

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Ndura. Sohn Des Urwalds

Язык: Немецкий
Год издания: 2021
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Nach einer kurzen Suche fand ich einen Baum, den ich für geeignet hielt und kletterte mit beiden Rucksäcken auf dem Rücken hinauf. Sie schienen mir höllisch schwer zu sein und mein Knie flehte um eine Pause. Als ich hoch genug war, um mich sicher zu fühlen, aber noch nicht so hoch, dass ich mich bei einem Sturz in der Nacht schwer verletzt oder umgebracht hätte, machte ich es mir so gut es ging zwischen zwei dicken fast parallel verlaufenden Ästen bequem. Ich deckte mich mit einer der kleinen Decken, die ich aus dem Flugzeug mitgebracht hatte etwas zu und benutzte eine andere als Kopfkissen. Am Himmel konnte ich eine unglaubliche Menge von großen dunkelbraunen Fledermäusen ausmachen. Sie schlugen auf diese für sie typische Weise mit den Flügeln, was wie ein herumirrendes Geflatter wirkte und bewegten sich wie durch Impulse5. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie hätte zählen sollen, aber es waren bestimmt tausende, die vor allem die Palmen anflogen, um deren Früchte zu fressen, so dachte ich, oder um die Insekten zu jagen, die die Früchte fraßen.

Ich hatte vielleicht zwei Stunden in kleinen Intervallen von fünfzehn oder zwanzig Minuten geschlafen. Die Geräusche setzten mir von allen Seiten zu. Ich hörte nur noch Schritte, Stimmen, Schreie, Krächzen, schrilles Gekreische, Gesumme, Geraune, ein andauerndes Gewisper, das unaufhörlich an- und abschwoll. Ich meinte sogar mehrmals den Todesschrei eines Kindes zu hören und das Trompeten von Elefanten. Ich wusste nicht, ob es sich nur so anhörte oder ob es wirklich so war. Ab und an war ein sehr beunruhigendes Brüllen zu hören, das mich an ein wildes Raubtier denken ließ, das mich im Schlaf fressen würde. Zeitweise nahm mir die Angst den Atem und drückte mir derart aufs Herz, das es fast wehtat. Jeder Laut, jede Bewegung, alles, was sich in meiner Umgebung abspielte war eine Qual, erzeugte ein erdrückendes, erstickendes Gefühl. Sobald es mir gelang einzuschlafen, war da wieder irgendetwas, so dass ich erneut erschrocken aus dem Schlaf hochfuhr. Manchmal sah ich in der unheimlichen Nacht Augen leuchten. Um mir Mut zuzusprechen, sagte ich mir, dass es nur ein einfacher Uhu war oder sein nächster in diesen Gefilden heimischer Verwandter. Aber diese Versuche, eine positive Einstellung zu behalten, waren nur von kurzer Dauer und am Ende sah ich immer Raubkatzen mit rücksichtslosen Absichten oder gefährliche Schlangen auf der Jagd. Dann wieder glaubte ich, in der Nähe Schüsse zu hören, wiederkehrende Gewehrsalven, aber wenn ich aufmerksam lauschte konnte ich nichts hören.

“Javier”, hörte ich Alex rufen.

“Ja, wo bist du?“, sagte ich, während ich aus dem Schlaf hochschreckte.

”Javier”, hörte ich wieder.

Ich guckte in alle Richtungen, ängstlich, erwartungsvoll, begierig meinen Freund zu sehen. Bis mir klar wurde, dass Alex tot war, und dass ich mich allein und ohne Hilfe inmitten des Urwalds befand. Das war es, was mich erschreckte: dass ich mit niemandem rechnen konnte, der mir zu Hilfe kommen würde, dass da niemand war, mit dem ich den Schmerz dieses Momentes, meine Verzweiflung teilen konnte. Ich durfte nicht in Panik geraten, ich musste die negativen Gedanken aus meinem Kopf verbannen, um zu überleben. Aber ich konnte es nicht. Ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit führte dazu, dass ich in meine Ängste abtauchte.

“Javier, Javier.”

Sein steter, fragender und lockender Ruf erklang die ganze Nacht. Ich wäre mit ihm gegangen, wenn ich gewusst hätte wohin.

TAG 2

WIE ICH DIE WUNDER DES URWALDS ENTDECKE

“Nein, nein, tötet ihn nicht!“, schrie ich; während ich wild um mich schlug und deshalb mit einem dumpfen Geräusch vom Baum fiel.

Ich schüttelte mich kräftig, um so meinen eigenen Hirngespinsten zu entfliehen und beachtete dabei die Schmerzen nicht, die der Sturz verursacht hatte. Ich sah mich völlig orientierungslos nach allen Seiten um und verharrte einen Moment lang ganz still, zusammengekauert, stöhnte wie ein schwerverletztes Tier. Während ich mir den angeschlagenen Rücken rieb, wurde mir klar, dass es sich um einen Albtraum gehandelt hatte. Ein sehr realistischer Albtraum, denn ich hatte geträumt, dass ich Juans Tod und den Flugzeugabsturz noch einmal erlebte, und dass ich Alex bewegungslosen Körper noch einmal zwischen meinen Händen spürte. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, meine Hände zitterten. Ich atmete eine Weile lang tief ein und aus und beschloss, mich zu bewegen, ich wollte mich nur noch so weit wie möglich von dem Flugzeug entfernen, in dem ich einen Teil meines Lebens verloren hatte. Meine Vergangenheit war fürchterlich, meine Zukunft trostlos.

Ich hatte starke Rückenschmerzen, vielleicht wegen der Position, die ich auf dem Baum eingenommen hatte oder wegen des Sturzes oder wegen beidem zusammen und ich fröstelte. Voller Selbstmitleid stieg ich wieder auf den Baum, um die Rucksäcke zu holen und stellte fest, dass der mit dem Essen fehlte. Der Schreck, der mich bei dieser Erkenntnis durchfuhr war so heftig, dass ich beinahe wieder vom Baum gefallen wäre. Ohne diesen Rucksack war alles aus. Erschrocken suchte ich zwischen den Ästen und als ich dachte, ich würden ihn nie wiederfinden, sah ich, dass er auf den Boden gefallen war und sein ganzer Inhalt dort verstreut war. Möglicherweise hatte ich ihn bei meinem Sturz selbst mitgerissen oder ihn im Schlaf runtergeworfen. Vorsichtig stieg ich mit dem anderen Rucksack auf der Schulter runter und sammelte alles, was ich finden konnte ein: drei Dosen mit Erfrischungsgetränken, ein mit Wurst belegtes Brötchen, einige angeknabberte und mit Ameisen übersäte Kekse, ein Paket mit Salztütchen, um Salate zu würzen und die zwei Päckchen mit, wie sich jetzt herausstellte, Quittengelee. Der Rest war verschwunden, von Tieren weggeschleppt, wie ich vermutete. Daraus schloss ich, dass er in der Nacht runtergefallen sein musste.

Ich beschloss, eine Bestandsaufnahme von allem, was ich bei mir trug zu machen, um zu sehen, was für mich nützlich sein könnte, und um wegzuschmeißen, was überflüssig war. Es hatte keinen Sinn, unnützes Gewicht mitzuschleppen und ich musste wissen, was mir zur Verfügung stand. Abgesehen vom Essen hatte ich in meinem Rucksack das Taschenmesser, das ich für meinen Vater gekauft hatte, alle Holzfiguren, einen Reiseführer über Zentralafrika, ein Paket Papiertaschentücher, ein Fernglas 8x30, eine kakifarbene Stoffmütze und ein T-Shirt mit der Aufschrift „I love Namibia“. Vom Verbandskasten waren ein halbvolles Paket Aspirin, ein volles Paket Durchfallmedikament, eine Mullbinde, drei Pflaster und einige Tabletten gegen Übelkeit übrig. Und natürlich mein Ausweis. In Juans Rucksack befand sich ebenfalls sein Ausweis und außerdem die drei Decken, ein Kopfkissen aus dem Flugzeug und ein kleines Buch mit Sätzen auf Suaheli, seine Sonnenbrille, eine Schirmmütze, ein paar Schokoladenriegel, eine ein Liter Plastikwasserflasche, die fast leer war, eine Gabel, eine große Elefantenfigur aus Holz und einige kleinere Holzfiguren, eine fast volle Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug.

Ich konnte nicht zwei Rucksäcke tragen, deswegen verstaute ich alles in meinem eigenen, der in einem besseren Zustand war, nur eine Decke und das Kopfkissen, das zu viel Platz wegnahm und die Holzfiguren, die in dieser Umgebung nutzlos waren vergrub ich und bedeckte alles mit Laub. Während ich mich einiger dieser Dinge entledigte, dachte ich an die Menschen, für die sie gedacht gewesen waren, an Elena, an meine Familie, an meine Freunde, an Álex, an Juan… und es dauerte nicht lange, bis ich wieder zu weinen anfing. Ich würde sie nie wiedersehen, keinen von ihnen. Naja, Alex und Juan würde ich bald wiedersehen, im Paradies, oder wo auch immer man hinkam, wenn man tot war.

Die Schokolandenriegel, die weich von der Hitze waren, aß ich augenblicklich und leckte die Verpackung mit der Zunge so sauber, dass nichts mehr übrigblieb. Sie schmeckten göttlich. Ich trank auch das bisschen Wasser, was noch in der Flasche war. Da wurde mir klar, dass ich einen Augenblick innehalten musste, um darüber nachzudenken, wie meine nächsten Schritte aussehen sollten. Einige Fragen kamen mir in den Sinn: wussten die Rebellen, dass ich lebte? Welche Richtung sollte ich jetzt einschlagen?

Was die erste Frage betraf, hatte ich keine Antwort. Vielleicht hatten sie einen Passagier dazu gebracht zuzugeben, dass er mich gesehen hatte, vielleicht hatten sie die Umgebung abgesucht und meine Spuren oder die Dosen gefunden, die ich auf den Boden geworfen hatte nachdem sie leer waren (das war ein großer Fehler gewesen, auch wenn ich in dem Augenblick genug mit meiner Flucht zu tun gehabt hatte) vielleicht waren sie überall um mich herum und sie würden mich so oder so finden, aber vielleicht wussten sie auch gar nichts. Wie dem auch sei, ab jetzt musste ich versuchen vorsichtiger zu sein und so wenig Spuren wie möglich auf meinem Weg zu hinterlassen.

Nun zur Richtung, die ich einschlagen sollte. Ich meinte mich zu erinnern, dass ich während des schwindelerregenden Sinkflugs vom Flugzeug aus ein Dorf am Horizont gesehen hatte, in einer großen Lichtung im Urwald. Was ich nicht wusste, war, ob sich dort der Unterschlupf der Rebellen befand oder nicht, was aber sehr wahrscheinlich war, denn es lag in direkter Nähe zu der Stelle, von der aus sie uns angegriffen hatten. Da wir vom Süden Afrikas nach Norden unterwegs gewesen waren, konnte ich annehmen, dass ich, wenn ich immer Richtung Norden ginge aus dem Urwald heraus und in ein anderes Land käme und mehr Möglichkeiten hätte, Hilfe zu finden. Wie sehr ich meine Freunde jetzt vermisste! Jetzt wären Alex‘ Enthusiasmus, sein Optimismus und seine überbordende Fröhlichkeit und Juans analytischer Geist, seine Gelassenheit und seine Entschlussfreudigkeit so hilfreich. Wie sehr brauchte ich ihre Gesellschaft, um den nötigen Mut aufzubringen, um mich dieser nicht gewollten Herausforderung zu stellen, die sich mir unausweichlich aufdrängte. Mit ihnen wäre das alles viel leichter, sogar ein Abenteuer, von dem man bei der Rückkehr erzählen konnte, aber sie waren tot. Ermordet, ohne Mitleid vernichtet, wie gewöhnliche Fliegen, ausgelöscht in ihren besten Jahren… und ich musste um jeden Preis überleben. Mistkerle, A…! Ruhig, Javier, ruhig, ich musste Ruhe bewahren, das war meine einzige Option, um überhaupt eine Chance zu haben. Also, wenn ich davon ausging, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen unterging, und dass sie mehr oder weniger auf dieser Seite aufgegangen war, müsste ich in diese Richtung laufen. Wenn ich mit diesem Orientierungssystem irgendwohin gelangen sollte, dann wäre das nicht mein Geschick, sondern ein Wunder. Um jedenfalls sicherzugehen, stieg ich vorsichtig auf einen der höchsten Bäume, den ich sehen konnte.

Das war einfach, da er viele Äste hatte, die ich wie eine Treppe benutzen konnte, die aber immer dünner und biegsamer wurden je höher ich kam, deswegen war ich sehr vorsichtig und trat nur dorthin, wo die Äste aus dem Stamm kamen, dort wo sie am dicksten und stärksten waren. Der Baum ragte über die meisten anderen hinaus und als ich fast ganz oben angekommen war, zeigte sich mir ein erschütterndes Bild. Ein grünes Meer breitete sich in alle Richtungen aus, wie ein Teppich, der dem Gelände folgend auf- und abstieg, wie eine Welle, eine unermessliche Ausbreitung des Lebens. Nur einige vereinzelte Bäume, die sehr viel höher waren als der Rest, ragten aus diesem grenzenlosen Teppich heraus, der aus den Blättern der unzähligen Baumkronen des Urwalds gefertigten war. Ich sah in allen Richtungen nichts als Baumkronen ohne Ende. Selbst durch das Fernglas konnte ich nichts entdecken. Um ehrlich zu sein, half mir das nicht viel bei der Suche nach der Richtung, der ich folgen sollte. Ich kletterte vom Baum runter und versteckte Juans Rucksack mit allem, was ich zurücklassen würde unter einem umgestürzten Baum, der ihn halb begrub. Im letzten Augenblick entschied ich mich, die Giraffe für Elena zu behalten, falls ich sie wiedersehen sollte, wollte ich ein Geschenk für sie haben. Ich warf einen letzten Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass ich keine eindeutigen Hinweise auf meine Anwesenheit zurückließ, und als ich einigermaßen davon überzeugt war, lief ich ohne große Hoffnung los. Wie sehr brauchte ich meine Freunde!

Auf meinem Weg begegneten mir farbenprächtige Vögel, mit einer auffallend roten Brust, während der Rest ihres Körpers grünlichen war6. Sie flatterten in einem Schwarm von zwölf oder fünfzehn Vögeln unglaublich flink zwischen den Ästen der Bäume herum. Sobald ich etwas zu laut war, verschwanden sie im Nu aus meinem Gesichtsfeld. Nur diese wundervollen Tiere schafften es, mich für einen Augenblick von diesem erdrückenden Gefühl der Einsamkeit zu befreien, mit dem mich der Urwald unerbittlich niederschmetterte, diese beengende, feindliche und unbarmherzige Welt in ständigem Dämmerlicht, in der Anstrengung, Niedergeschlagenheit und Atemnot deine ständigen Wegbegleiter waren.

Der Weg war schwierig. Ständig musste ich Umwege machen oder über Hindernisse klettern. Manchmal traf ich auf kleine Lichtungen, aber ich umrundete sie aus Angst, man könnte mich sehen. Ich schwitzte ohne Unterlass und hatte großen Durst, aber ich wollte nicht noch eine der Dosen austrinken, denn es waren nur noch drei übrig. Es waren wohl um die 25°C bei einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit, was das Gefühl der Enge und die Hitze noch verstärkte. Für eine Weile zog ich mein T-Shirt aus, aber ich wurde von so vielen Mücken gestochen, dass ich es wieder anziehen musste. An einigen Stellen wurde das Gestrüpp so dicht, dass ich mir einen Weg mit einem Stock bahnen musste, den ich aufgesammelt hatte, und den ich wie eine Machete benutzte. An diesen Stellen kam ich kaum voran, denn das einzige, was ich mit dem Stock erreichte, war die Äste so lange von meinem Weg wegzudrücken, dass ich weitergehen konnte, aber nicht sie abzuhacken. Außerdem waren meine Beine und meine Unterarme überall da, wo ich keine Kleidung trug mit Verletzungen übersät, die entstanden, wenn ich an einer Pflanze hängen blieb. Auch im Gesicht brannten einige Stellen, ein Zeichen dafür, dass ich auch dort Kratzer hatte.

Manchmal war der Boden voller abgebrochener Äste oder umgestürzter Bäume, dann wieder weich, von Laub bedeckt, und ich musste vorsichtig gehen, damit ich nicht in irgendein Loch trat oder ausrutschte und mir den Knöchel verrenkte, denn das wäre verheerend. An manchen Stellen standen die Baumkronen so dicht beieinander, dass kein Licht durchkam, so dass ein ziemlich unheimlicher Halbschatten entstand. Oder sie bildeten verschiedene Stockwerke mit unterschiedlichen Lichtschattierungen, die abhängig von der Höhe waren. Erschrocken durchquerte ich diese Bereiche, denn dort hatte ich den Eindruck, ständig von Gespenstern angegriffen zu werden, bei denen es sich in Wirklichkeit um die höchsten Äste handelte, die sich im rauschenden Wind bewegten, der anscheinend auf dem grünen Dach des Urwaldes wehte, und die dabei ein markerschütterndes und ausdauerndes Heule erzeugten, das mich von allen Seiten her bedrängte. Immer wieder wurde der Urwald so dicht, dass er unpassierbar war, und ich große Umwege machen musste, um weiter voranzukommen. Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass es so viele verschiedene Pflanzen so dicht beieinander geben könnte. Jetzt sah ich nichts romantisches mehr darin, wie die Forscher in den Urwald vorzudringen, ganz im Gegenteil, ich wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Außerdem krampfte sich mein Herz vor Angst zusammen, wenn ich daran dachte, dass man mich auf Grund des Lärmes, den ich die meiste Zeit machte, ganz leicht finden könnte, sollte man mich verfolgen.

Wie auch in der Nacht kamen unaufhörlich Geräusche aus allen Richtung, es war nicht exakt der gleiche Lärm, aber man hörte ebenfalls das Summen der Insekten, fremdartige Vogelgesänge aus den Baumkronen und einige Schreie, von denen ich annahm, dass sie von Affen oder irgendetwas anderem in der Art stammten. Wenigstens war dieses beunruhigende Gebrüll nicht zu hören, es kam wohl von einem nachtaktiven Jäger, oder zumindest wollte ich das glauben. Sehen, ja sehen konnte ich nicht viele Tiere, aber ich konnte sie alle hören.

Ich sah auf meine Uhr. Es war zehn Uhr morgens. Ich war eine Stunde unterwegs und konnte nicht mehr. Mein Knie hatte bereits begonnen mir Warnsignale zu schicken, ich merkte, dass es etwas angeschwollen war. Mehrere Male waren die Bänder, oder was auch immer, verrutscht, und ich musste sie mit einer sanften, aber entschiedenen Massage wieder an ihren Platz bringen. Ich setzte mich auf den Boden, um ein bisschen auszuruhen, lehnte mich an den Stamm eines extrem hohen Baumes und rieb mir das Knie mit den Händen. Die Hitze linderte den Schmerz ein wenig. Ich befand mich in einer Gegend, in der die Bäume weniger dicht standen. Nachdem ich eine Weile so dagesessen hatte, sah ich auf einem Ast mir gegenüber einen Vogel. Er sah aus wie ein Papagei, hatte mattes bläuliches Gefieder, einen weißen Kranz um die Augen, einen schwarzen Schnabel und rote Schwanzfedern, die der einzige Farbtupfer an ihm waren. Er stieß fast menschliche Rufe aus7. Er drehte den Kopf in fast alle Richtungen, ohne jedoch den Rest des Körpers zu bewegen und erinnerte mich dabei an das Mädchen aus „Der Exorzist“. Er hängte sich baumelnd an eine Frucht des Baumes und begann daran herumzupicken. Die Frucht war rot-orangefarben, so groß wie eine Hand und ähnlich geformt wie ein Kürbis.

“Du weißt sicher, wo du bist”, dachte ich bei mir, „du ganz sicher.

Ich ruhte mich fast eine halbe Stunde lang aus, dann ging ich wieder weiter. Jedes Mal, wenn ich eine Lichtung umrundete und die wahrscheinlich richtige Richtung wiederfinden musste, war ich mehr davon überzeugt, dass ich jahrelang im Kreis gehen konnte, ohne es mitzubekommen. Alles schien gleich auszusehen und die Sonne war auch keine große Hilfe mehr. Ich schaute, wie hoch sie stand, verglich es mit der Zeit auf meiner Uhr und kam zu der Erkenntnis, dass ich keine Ahnung hatte, was ich hier tat. Ich behielt den ganzen Vormittag den immer gleichen Rhythmus bei, ich ging eine Stunde und ruhte mich dann einen Moment aus. Um meinen Kopf zu beschäftigen, las ich während der Ruhepausen in dem Buch mit Suaheli-Sätzen oder in dem Reiseführer, vielleicht würde mir das bei einem möglichen Treffen ja auch bei der Verständigung behilflich sein können. Es fiel mir jedes Mal schwerer aufzustehen und weiterzugehen, ich hinkte wegen des Knies und gegen zwei Uhr nachmittags gab ich auf.

Ich war an allem schuld, ich hatte meine Freunde an diesen höllischen Ort geschleppt, meinetwegen waren sie gestorben. Wenn ich auf sie gehört hätte, würden wir jetzt gerade aus Italien zurückkommen mit einem Haufen Fotos von Venedig und einigen Postkarte aus der Toskana. Meine Schuld, das war alles meine Schuld.

Ich hatte Durst und mein Magen knurrte unaufhörlich. Ich hatte die Wahl: sollte ich ausreichend essen, um wieder zu Kräften zu kommen oder sollte ich die wenigen Nahrungsmittel, die mir zur Verfügung standen, aufbewahren auch auf die Gefahr hin, dass mir etwas passierte? Man sollte meinen, dass es im Urwald leicht sein müsste etwas zu Essen und Wasser zu finden, oder zumindest ging in diesem Augenblick davon aus und da ich so großen Hunger hatte, entschied ich mich dafür, eines der Erfrischungsgetränke zu trinken, das belegte Brötchen und die angeknabberten Kekse zu essen, nachdem ich die Ameisen von ihnen runtergepustet hatte. Damit linderte ich ein wenig den hartnäckigen Appetit. Das Quittengelee bewahrte ich auf, da ich annahm, dass es nicht so schnell verderben würde. Danach schlief ich ein, vor Erschöpfung, und weil ich die letzte Nacht nicht hatte schlafen können.

Als ich aufwachte hörte ich ganz in der Nähe ein Zischen. Neben mir musste eine Schlange sein. Ich verhielt mich ganz still und versuchte meine Ohren zu spitzten, um herauszufinden, wo sie sich befand. Mein Magen krampft sich vor Angst zusammen und es fiel mir schwer zu atmen. Ich hatte einmal eine Reportage über ein Schlange gesehen, die man die „drei-Schritte-Schlangen“ nannte, denn wenn man von ihr gebissen wurde, hatte man nur noch Zeit drei Schritte zu gehen, bevor man tot umfiel. Im Grunde war das in dieser Situation gar nicht das schlechteste, aber wenn ich von einer gebissen wurde, deren Gift mir einen stundenlangen Todeskampf bescherte, bei dem ich Stück für Stück die Kontrolle verlor und am Ende dem Wahnsinn verfiel… ich hatte so große Angst zu leiden, so panische Angst vor Schmerzen. Wenn ich sterben sollte, wollte ich, dass es schnell ginge, fast wünschte ich mir das, um aus der Lage, in der ich mich befand befreit zu werden. Das hatte ich verdient. Das Zischen schien mir immer näher zu kommen, auch konnte ich bei ihren Bewegungen das Rascheln des Laubes hören, sie bewegte sich in meine Richtung, dessen war ich mir sicher. Fast konnte ich spüren, wie sie über meinen Körper glitt, sich von meinem Bein in Richtung Hals hinaufarbeitete, sie war beinahe angekommen, gleich würde sie mich beißen. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen und atmete tief durch, und versuchte mich so zu beruhigen. Dann öffnete ich sie wieder, und ohne mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen sah ich in alle Richtungen und versuchte sie auszumachen. Schließlich konnte ich sie sehen. Sie verhielt sich ruhig und hatte sich in ungefähr zwei Meter Höhe um einen Ast eines Baumes gewickelt, der etwa drei Meter rechts von mir stand. Nur den Kopf bewegte sie von einer Seite zur anderen, als würde sie irgendetwas bewachen. Sie war grün mit einem leichten Blaustich und an den Seiten etwas gelblich, sie hatte einen langen Schwanz und einen schlanken Körper von etwas mehr als einem Meter Länge, der seitlich etwas zusammengedrückt war. Sie war fast unsichtbar zwischen den Blättern8. Als sie sich von dem Ast gleiten ließ, konnte ich sehen, dass ihr Bauch weißlich war.

Ich blieb noch eine Weile bewegungslos sitzen und lauschte, bis ich davon überzeugt war, dass ich nur diese eine Schlange gehört hatte, und dass alles andere Produkte meiner Fantasie gewesen waren. Ich stand langsam auf und beobachtete dabei aufmerksam den Boden auf der Suche nach anderen Schlangen, aber das war die einzige, die ich sah. Zumindest, die einzige, die ich entdecken konnte. Zuerst wollte ich einen weiten Bogen um sie herummachen und weitergehen, aber dann erinnerte ich mich, dass man sagte, Schlangenfleisch würde wie Hühnchen schmecken und wäre sehr lecker. Auf jeden Fall sagten das die Großeltern immer, wenn sie Geschichten vom Bürgerkrieg erzählten und davon, wie hungrig sie gewesen waren. Es erschien mir eine gute Gelegenheit, um etwas zu Essen zu bekommen, und wenn es dann noch gut schmeckte, umso besser. Ich hielt nach einen langen Stock Ausschau, dessen Spitze wie ein „V“ geformt war, damit wollte ich versuchen ihren Kopf festzuhalten. Ich holte auch das Taschenmesser aus der Tasche, öffnete es und steckte es mir in den Gürtel meiner Bermuda-Shorts. Ich fand einen abgebrochenen Ast, der geeignet war, ich musste ihm nur noch die richtige Form geben, in dem ich an einem Ende eine Einkerbung in Form eines „V“ schnitt. Dabei verlor ich die Schlange aber nie aus den Augen. Die Vorbereitungen erschienen mir unendlich lang und erschöpften mich aufs Äußerste, auch wenn es in Wirklichkeit keiner großen körperlichen Anstrengung bedurfte.

Als ich bereit war, näherte ich mich vorsichtig der Schlange. Sie schien nichts zu merken oder ignorierte mich, aber auf jeden Fall schenkte sie mir keinerlei Beachtung. Als ich nur noch etwa einen halben Meter von ihr entfernt war, hob ich den Stock und schlug ihr mit aller Kraft auf den Kopf. Beim ersten Schlag blieb sie halb im Baum hängen und ich schlug noch zweimal zu, bis sie auf den Boden fiel. Danach klemmte ich ihr den Kopf mit der Einkerbung an der Spitze des Stockes ein und drückte ihn ganz fest auf den Boden. Die Schlange wandte sich krampfhaft und zischelte ohne Unterlass und ich war völlig verängstigt. Wenn ich sie losließ, um aus der Entfernung mit dem Stock auf sie einzuschlagen, könnte sie mich angreifen. Die andere Möglichkeit bestand darin, noch dichter an sie heranzugehen und sie mit dem Messer zu durchbohren. Ich nahm all meinen Mut zusammen, ging noch näher an sie heran und trat ihr mit aller Kraft auf den Schwanz, drückte sie auf den Boden und versuchte, sie auf diese Weise ruhig zu halten. Ich beugte mich nach vorne und stieß der Schlange das Messer unterhalb ihres Kopfes in den Körper, so dass sie, immer noch durch den Stock fixiert, am Boden festgenagelt war. Aber auch so hörte sie immer noch nicht auf sich zu winden, deshalb zog ich das Taschenmesser heraus und säbelte so lange an ihrem Hals, bis ich den Kopf vom Körper abgetrennt hatte. Dann machte ich einen Satz nach hinten, da ich Dummkopf fürchtete, sie könne mich immer noch angreifen. Der Körper schlug weiterhin ohne Unterlass um sich, und dort, wo der Kopf gewesen war, spukte er Blut. Ich schlug noch ein paar Mal mit dem Stock nach ihr, aber das änderte nichts und so entschied ich, sie für eine Weile in Ruhe zu lassen. In weniger als einer halben Minute hört sie nach und nach auf sich zu bewegen, bis sie sich gar nicht mehr rührte. Ich stupste sie ein paar Mal mit dem Stock an, aber sie bewegte sich nicht. Sie war definitiv tot. Endlich konnte ich ruhig durchatmen.

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