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Verwirrung der Gefühle / Смятение чувств. Книга для чтения на немецком языке
Es tat nichts mehr weh in dem abgestorbenen Herzen, aber innen im Leibe wühlte der schwarze Maulwurf weiter und riss blutig im zuckenden Fleisch. Die Anfälle mehrten sich von Woche zu Woche, endlich gab der Gequälte dem ärztlichen Drängen nach, das besondere Untersuchung forderte. Der Professor blickte ernst. Vorsichtig vorbereitend, äußerte er, eine Operation sei nun unabwendbar. Aber der alte Mann erschrak nicht, er lächelte nur trüb: Gott sei Dank, jetzt ging es zu Ende. Zu Ende mit dem Sterben, jetzt kam das Gute, der Tod. Er verbot dem Arzt, seinen Angehörigen ein Wort zu sagen, ließ sich den Tag bestimmen und machte sich bereit. Zum letztenmal ging er in sein Geschäft (wo niemand ihn mehr erwartete und alle ihn ansahen wie einen Fremden), setzte sich noch einmal auf den alten schwarzledernen Bocksessel, den er dreißig Jahre, sein ganzes Leben, tausend und tausend Stunden gedrückt, ließ sich ein Scheckbuch geben und füllte eines der Blätter aus: das brachte er dem Vorsteher der Gemeinde, der über die Höhe der Summe fast erschrak. Sie galt wohltätigen Werken und seinem Grab; allem Dank sich zu entziehen, stolperte er hastig hinaus, dabei verlor er seinen Hut, aber er bückte sich nicht einmal mehr, ihn aufzuheben. Und so, bloßen Hauptes, die Blicke trüb im gelbkranken, verfalteten Gesicht, trottete er (erstaunt sahen ihm die Leute nach) auf den Friedhof zum Grabe seiner Eltern. Dort beobachteten ein paar Müßige den alten Mann und wunderten sich abermals: er sprach lange und laut mit den halbvermoderten Steinen, wie man mit Menschen spricht. Kündigte er sich an, oder erbat er ihren Segen? Niemand hörte die Worte – nur die Lippen regten sich stumm, und immer tiefer neigte sich das schaukelnde Haupt im Gebet. Beim Ausgang dann drängten die Bettler dem Wohlbekannten zu; er kramte hastig Münzen und Noten aus den Taschen und hatte schon alles verteilt, da kam noch ein altes verhutzeltes Weib verspätet angehumpelt und flennte ihn an. Verwirrt suchte er überall nach – er fand nichts mehr. Nur am Finger drückte noch etwas Fremdes und Schweres: sein goldener Ehering. Irgendein Erinnern kam über ihn – er streifte ihn hastig ab und schenkte ihn dem verwunderten Weib.
Und so, ganz arm, ganz ausgeleert und allein trat der alte Mann unter das Messer.
Als der alte Mann aus der Narkose noch einmal erwachte, riefen die Ärzte, den gefährlichen Zustand erkennend, die inzwischen verständigte Frau und Tochter ins Zimmer. Mühsam brach das Auge durch die bläulich umschatteten Lider: „Wo bin ich?“ starrte es in das Fremde und Weiße eines niegesehenen Raums.
Da beugte sich die Tochter, ihm ein Liebes zu tun, über das arme verfallene Gesicht. Und plötzlich zuckte etwas Erkennendes in dem blind umtastenden Augenstern auf. Ein Licht, ein kleines, stieg empor in die Pupille: das war sie ja, das Kind, das unendlich geliebte, da war sie, Erna, das zarte schöne Kind! Ganz, ganz langsam löste sich die bittere Lippe – ein Lächeln, ein ganz kleines Lächeln, längst entwöhnt dem verschlossenen Mund, begann vorsichtig anzufangen. Und erschüttert von dieser mühsamen Freude, beugte sie sich näher, die ausgeblutete Wange des Vaters zu küssen.
Aber da – war es das süßliche Parfum, das ihn erinnerte, oder besann sich das halbbetäubte Gehirn vergessenen Augenblicks? – da fuhr plötzlich fürchterliche Veränderung über die eben noch beglückten Züge: die Lippen, die farblosen, klebten sich mit einmmal grimmig abwehrend zu, die Hand unter der Decke arbeitete gewaltsam und wollte hoch, wie um etwas Widriges wegzustoßen, der ganze verwundete Leib bebte vor Erregung. „Weg!.. weg!..“ lallte es unartikuliert und doch verständlich von der fahlen Lippe. Und so furchtbar formte sich der Widerwille in den zuckenden Zügen des nicht Fliehen-Könnenden, dass der Arzt besorgt die Frauen zur Seite schob. „Er deliriert“, flüsterte er, „es ist besser, Sie lassen ihn jetzt allein.“
Kaum, dass die beiden gegangen, lösten sich die verzerrten Züge wieder matt in ein leeres Schläfrigsein. Noch ging der Atem dumpf- von immer tiefer röchelte die Brust um die schwere Luft des Lebens. Aber bald wurde sie müde, diese bittere Menschennahrung in sich einzutrinken. Und als der Arzt prüfend das Herz befühlte, hatte es schon aufgehört, dem alten Manne weh zu tun.
Die gleich-ungleichen Schwestern
Eine „Conte drolatique “Irgendwo in einer südländischen Stadt, die ich lieber nicht nennen mag, überraschte mich, aus enger Gasse biegend, der unvermittelt großartige Anblick eines Bauwerkes sehr früher Art, überhöht von zwei mächtigen Türmen in derart gleichförmigen Maßen, dass im sinkenden Licht einer wie der Schatten des ändern wirkte. Eine Kirche war es nicht und ebensowenig mochte es ein Palast gewesen sein in verschollenen Zeiten; klösterlich mutete es an und doch wieder mit seinen breiten, wuchtigen Flächen wie ein profanes Gebäude, allerdings unbestimmbarer Art. So störte ich, höflich den Hut lüftend, einen rotbackigen Bürger, der eben auf der Terrasse eines kleinen Cafes ein Glas strohfarbenen Weines trank, mit der Frage nach dem Namen dieses so wuchtig über niedere Schwalbendächer emporgetürmten Baus. Der Gemächliche sah verwundert auf, lächelte dann langsam und feinschmeckerisch, ehe er mir antwortete: „Ganz zuverlässig kann ich Ihnen da nicht Bescheid geben. Im Stadtplan mag es anders stehen, wir aber sagen noch immer wie in alter Zeit: das Schwesternhaus, vielleicht weil die beiden Türme einander so ähnlich sind, vielleicht aber auch, weil…“ Er stockte und zog vorsichtig ein Lächeln zurück, als ob er sich meiner angefachten Neugier erst vergewissern wollte. Eine halbe Antwort aber macht ungeduldig nach der ganzen – so kamen wir ins Gespräch, und ich gehorchte gern seiner Aufforderung, ein Glas dieses herbflüssigen Goldweines zu versuchen. Vor uns glänzte im langsam sich erhellenden Mondlicht träumerisch das Spitzenwerk der Türme, der Wein mundete mir gut und trefflich, auch an jenem lauen Abend die kleine Legende von den gleich-ungleichen Schwestern, die er mir erzählte und die hier möglichst getreu, wenn auch ohne Bürgschaft für ihre historische Wahrhaftigkeit wiedergegeben sei.
Als der Heerbann des Königs Theodosius genötigt war, in der damaligen Hauptstadt Aquitaniens Winterquartier zu nehmen und dank einer üppigen Rast die abgerackerten Gäule wieder seidenglattes Fell und die Soldaten Langeweile bekamen, geschah es dem Anführer der Reiterei, Herilunt mit Namen, einem Langobarden, dass er sich in eine schöne Krämerin verliebte, die dort im verwinkelten Schatten der Unterstadt Gewürz und süßes Honigbrot ausbot. Und so heftig übermannte ihn die Leidenschaft, dass er, gleichgültig gegen ihren niederen Stand, sie um der baldigen Umarmung willen eiligst ehelichte und mit ihr in ein fürstliches Haus auf dem Marktplatz zog. Dort blieben sie unsichtbar viele Wochen lang, einer dem ändern verfallen, und vergaßen die Menschen, die Zeit, den König und den Krieg. Aber während sie so ganz in Liebe versunken waren und allnächtlich schlummerten, einer in des ändern Arm, schlief nicht die Zeit. Mit einem schwang warmer Wind sich von Süden her, unter seinem hitzigen Fuß barst das Eis in den Strömen, Krokus[29] und Veilchen nisteten ihr farbig Geblüh unter seine flüchtige Spur auf den Wiesen. Über Nacht huschten die Bäume sich grün, knospig Gewinde brach in feuchten Beulen aus erfrorenen Ästen, der Frühling hob sich auf von der dampfenden Erde und mit ihm wieder der Krieg. Eines Morgens schlug herrisch und fordernd der kupferne Klöppel des Tores in den Morgenschlummer der Liebenden: ein Bote des Königs befahl seinem Führer Rüstung und Ausmarsch. Trommeln klirrten die Quartiere auf, Wind krachte hell in den Fahnen, und bald knatterte der Marktplatz vom Gehuf der gesattelten Pferde. Da löste Herilunt sich rasch aus den weich angerankten Armen seiner Winterfrau, denn so loh seine Liebe war: noch stärker brannten in ihm Ehrgeiz und die männliche Lust an der Feldschlacht. Unfuhlsam gegen ihre Tränen und hart gegen ihren Wunsch, ihn zu begleiten, ließ er die Frau im weiträumigen Hause und brach mit dem riesigen Schwärm ins mauretanische Land. In sieben Gefechten überrannte er die Feinde, fegte mit brennendem Besen die Raubburgen der Sarazenen aus, zerbrach ihre Städte und plünderte siegreich hinab bis zur Küste, wo er Segler heuern musste und Galeeren, die Beute heimwärts zu senden, so unermesslich staute sich ihre Fülle. Nie wurde ein Sieg rascher erfochten, nie ein Feldzug blitzender vollendet. Kein Wunder, dass der König, um so kühnem Kriegsknecht zu danken, ihm gegen geringen Zins Nord und Süd des gewonnenen Landes zu Lehen und Verwaltung übertrug. Nun hätte Herilunt, dessen Heimat bislang der Sattel gewesen, gemächlich Rast halten und zeitlebens sich satten Wohlseins erfreuen können. Doch sein Ehrgeiz, mehr gestachelt als gemildert durch den raschen Gewinst, wehrte sich, Untertan zu sein und zinspflichtig selbst seinem Herrn: einzig ein Königsreif schien ihm nunmehr hell genug für die blanke Stirn seines Weibes. So reizte er heimlich die eigenen Truppen zur Empörung wider den König und rüstete einen Aufstand. Doch frühzeitig verraten, misslang die Verschwörung. Geschlagen noch vor der Schlacht, gebannt von der Kirche, verlassen von den eigenen Reitern, musste Herilunt ins Gebirge flüchten, und dort erschlugen um der hohen Belohnung willen Bauern den Geächteten mit Keulen im Schlafe.
Zur gleichen Stunde, da Häscher des Königs den blutenden Leichnam des Rebellen im Strohbett jener Scheune auffanden, ihm Schmuck und Kleider abrissen und den entblößten Leib dann auf den Schindanger warfen, gebar seine Frau, völlig unkund seines Unterganges, in dem Brokatbett des Palastes ein Zwillingspaar, zwei Mädchen, die unter großem Zulauf der Stadt die eigene Hand des Bischofs[30] Helena und Sophia taufte[31]. Noch dröhnten die Glocken in den Türmen und klirrten silberig Pokale beim Festmahle, als jählings die Botschaft von Herilunts Aufruhr und Untergang eintraf, rasch gefolgt von der zweiten, dass der König nach allgültigem Gesetz Haus und Habe des Rebellen einfordere für seinen Schatz. So musste die schöne Krämerin[32], kaum dass sie der Wochen genesen, nach kurzer Herrlichkeit wieder im alten dünnwolligen Kleide hinab in die moderige Gasse der Unterstadt, nur dass sie nun noch zwei unmündige Kinder und die Bitternis so arger Enttäuschung mit in ihr Elend nahm. Wieder saß sie von Morgen bis Abend auf dem niederen Holzschemel ihres Ladens und bot der Nachbarschaft Gewürz und süße Honigware, höhnische Spottreden oft einstreichend mit den kärglich errafften Kupfermünzen. Gram löschte ihr rasch das helle Licht in den Augen, frühes Grau entfärbte ihr Haar. Doch für Not und Missgeschick entschädigten sie bald der holden Zwillingsschwestern aufgeweckte Munterkeit und besonderer Liebreiz, hatten sie doch beide von der Mutter die strahlende Schönheit geerbt und waren so zwiefach ähnlich einander in Gestalt und Anmut der Rede, dass man vermeinte, hier blicke als lebender Spiegel ein liebliches Bild das andere an. Nicht nur Fremde, sondern selbst die eigene Mutter vermochte die beiden Gleichaltrigen und Gleichgestalteten, Helena und Sophia, nicht zu unterscheiden, derart vollkommen war ihre Ähnlichkeit. So hieß sie Sophia ein billig leinenes Bändchen als Armreif tragen, damit sie kenntlich sei von der Schwester an diesem sichtbaren Zeichen. Hörte sie aber ihre Stimme oder blickte sie einzig in ihrer Zwillingskinder Gesicht, so war sie bei jeder unkund, mit welchem der Namen sie die allzu Ähnlichen rufen sollte. Wie aber von der Mutter die stürmische Schönheit, so hatten verhängnisvollerweise die Zwillingsschwestern von ihrem Vater auch jenen Unband von Ehrgeiz und Herrschsucht geerbt, so dass jede von ihnen die andere und überdies noch alle Gleichaltrigen in jeder Beziehung zu übertreffen strebte. Noch in jenen anfänglichen Jahren, da Kinder sonst gleichgültig und arglos spielen, trieben die beiden schon jede Tätigkeit zu Wettstreit und Eifersucht gewaltsam empor. Hatte ein Fremder, von der Anmut des einen Kindes erfreut, ihm ein schmuckes Ringlein an den Finger gesteckt, ohne der anderen gleiche Gabe zu bieten, hatte der einen Kreisel sich länger gedreht als jener der Schwester, so konnte die Mutter die Benachteiligte flach hingestreckt auf dem Boden finden, die Fäuste verkrampft in die Zähne und mit wütigen Absätzen den Boden hämmernd. Keine gönnte der anderen ein Lob, eine Zärtlichkeit, ein besseres Gelingen, und obzwar sie einander derart ähnlich waren, dass scherzhaft die Nachbarn sie Spiegelchen nannten, verwüsteten und verhärmten sie ihre Tage in beständig lodernder Eifersucht widereinander. Vergebens suchte die Mutter dies ungeschwisterliche Übermaß des Ehrgeizes zu hemmen, vergebens die allzeit gespannte Sehne ihres Wetteifers zu lockern; bald musste sie einsehen, dass hier ein unseliges Erbe in den noch unreifen Gestalten dieser Kinder weiterwuchs, und nur der geringe Trost entschädigte ihre Sorgen, dass gerade dank diesem unablässigen Wettstreben die Mädchen bald die gewandtesten und geschicktesten ihres Alters wurden. Denn was immer die eine anfing zu lernen, gleich drängte die andere nach, ungeduldig, sie zu überflügeln. Und da sie beide beweglichen Leibes und beschwingten Sinnes waren, lernten die Zwillingsschwestern in kürzester Frist alle nützlichen und anziehenden Künste der Frauen, so da sind: Linnen[33] zu weben, Stoffe zu färben, Geschmeide zu fassen, Flöte zu spielen, anmutig zu tanzen, kunstvolle Gedichte zu machen und sie dann wohllautend zur Laute zu singen, schließlich, über die übliche Art höfischer Frauen hinaus, sogar Latein, Geometrie und höhere Wissenschaften der Philosophie, in denen ein alter Diakonus sie gütig unterwies. Und bald fand man in Aquitanien kein Mädchen, das an Anmut des Leibes wie an feiner Sitte und Gelenksamkeit des Geistes vergleichbar gewesen wäre den beiden Töchtern der Krämerin. Doch hätte niemand zu sagen gewusst, welcher der beiden Allzuähnlichen, ob Helena oder Sophia, der Preis der Vollendung gebühre, unterschied sie doch keiner weder an Gestalt noch an Regsamkeit und Rede von der anderen.
Mit der Liebe zu den schönen Künsten aber und der Kenntnis all der zarten und linden Dinge, die dem Geist wie dem Körper jene Feurigkeit verleihen, die allzeit aus der Enge ins Unendliche des Gefühls hinüberzuschwingen sich sehnt, erwuchs den beiden Mädchen bald eine brennende Unzufriedenheit mit dem niederen Stand ihrer Mutter. Kamen sie heim von den Disputationen der Akademie, wo sie mit den Doktoren wetteiferten im künstlichen Ballschlag der Argumente, oder kehrten sie, noch umströmt von Musik, aus dem Kreise der Tänzer in die räucherige Gasse zurück, wo ihre Mutter unsauberen Haares hinter ihren Gewürzen saß und bis in die Nachtstunden um eine Handvoll Pfeffernüsse oder verschimmelte Kupferstücke feilschte, so schämten sie sich zornig ihres hartnäckigen Elends, und die borstige alte Strohmatte ihres Lagers scheuerte scharf ihren innerlich glühenden und noch immer jungfräulichen Leib. Lange lagen sie wach des Nachts und vermaledeiten ihr Schicksal, dass sie, berufen, Edelfrauen zu übertreffen an Anmut und geistiger Art, auserwählt, in weichen, wogenden Kleidern zu wandeln, überklirrt von Edelsteinen[34], hier in dumpfer Moderhöhle eingesargt seien, bestenfalls dem Faßdreher zur Linken oder dem Schwertfeger zur Rechten als Hausfrau zubestimmt, sie, Töchter des großen Feldherrn und königlich selber durch Geblüt und herrischen Sinn.
Sie sehnten sich nach funkelnden Gemächern und dienendem Tross, nach Reichtum und Macht, und wenn zufällig in verbrämtem Pelzwerk eine Edelfrau vorüberkam, Falkner[35] und Trabanten[36] geschart um die leise schaukelnde Sänfte, so wurden ihre Wangen vor Zorn weiß wie die Zähne in ihrem Munde. Machtvoll rollten dann in ihrem Blute Ungestüm und Ehrgeiz des rebellischen Vaters, der gleichfalls sich nicht bescheiden wollte mit der Mitte des Lebens und kleinem Geschick, und Tag wie Nacht dachten sie nichts anderes, als welcher Art sie vermöchten, dieser Unwürdigkeit des Daseins zu entrinnen.
So geschah es unvermuteter-, doch nicht unerklärlicherweise, dass Sophia eines Morgens beim Erwachen die Lagerstatt an ihrer Seite leer fand: Helena, das Spiegelbild ihres Leibes, der Widerpart ihrer Wünsche, war heimlich verschwunden über Nacht, und die erschrockene Mutter sorgte sich sehr, sie sei mit Gewalt von einem der Edelleute[37] weggeschleppt worden – denn schon waren viele unter den Jünglingen von dem zwiefachen Strahl der Mädchen getroffen und bis zum Wahnwitz verblendet. Unordentlichen Kleides, in der ersten Hast noch stürzte sie hin zum Präfekten, der die Stadt verwaltete in des Königs Namen, und beschwor ihn, den Frevler aufzugreifen. Er versprach’s. Doch schon am nächsten Tage verbreitete sich zur argen Beschämung der Mutter das immer deutlicher werdende Gerücht, durchaus freien Willens sei Helena, die kaum Mannbare, mit einem adeligen Jüngling geflüchtet, der um ihretwillen Truhen und Schränke seines Vaters gewaltsam aufgestemmt. Eine Woche später hastete dieser ersten Botschaft noch schlimmere nach, denn Reisende erzählten, in welcher Üppigkeit die junge Buhlerin in jener Stadt mit ihrem Liebsten lebe, umringt von Dienern, Falken und südländischen Tieren, gehüllt in Pelzwerk und glänzenden Brokat[38], ein Ärgernis allen ehrbaren Frauen des Ortes. Und noch war diese böse Kunde nicht durchgekaut im geschwätzigen Munde der Leute, so übersprang sie abermals schlimmere: überdrüssig jenes flaumbärtigen Fants, habe Helena, kaum dass sie ihm Säcke und Taschen geleert, sich in den Palast des steinalten Schatzverwalters begeben, ihren jungen Körper gegen neuen Prunk verkauft und plündere nun mitleidlos den bislang Geizigen. Nach wenigen Wochen tauschte sie, nachdem sie seine goldenen Federn gerupft und ihn kahl wie einen ausgebälgten Hahn zurückgelassen, diesen abgetanen gegen einen neuen Buhlen, ließ ihn neuerdings um eines Reicheren willen fahren, und bald gab es kein Verhehlen mehr, dass Helena in der Nachbarschaft ihren jungen Leib nicht minder emsig verhandle als ihre Mutter daheim Gewürz und süßes Honigbrot. Vergebens sandte die unglückliche Witwe Boten um Boten zu der verlorenen Tochter, sie möge doch nicht derart lästerlich das Andenken ihres Vaters erniedern: um das Maß der Unbill bis zum Rande vollzuschenken, geschah es zur Schande der Mutter, dass eines Tages ein prächtiger Zug die Straße vom Stadttor heraufkam. Läufer vorerst, in Scharlachfarben gewandet, Reiter hernach wie vor eines Fürsten Einzug, und zwischen ihnen, umspielt von persischen Hunden und seltsamem Affengetier, Helena, die frühreife Hetäre, an Anmut der Urmutter ihres Namens gleich, jener Helena, die Reiche verwirrte, und geschmückt wie die heidnische Königin von Saba, als sie einzog in Jerusalem. Da sperrten sich die Mäuler auf und liefen die Zungen: Handwerker ließen ihre Hütten, Schreiber ihre Schrift, neugierig schwärmende Menge umdrängte den Zug, bis schließlich auf dem Markte die flatternde Schar der Reiter und Diener sich ordnete zu ehrfürchtigem Empfang. Endlich flog der Vorhang auf und die kindliche Buhlerin schritt hochmütig gerade hinein zur Tür ebendesselben Palastes, der einst ihrem Vater gehörte und den nun ein verschwenderischer Liebhaber um dreier heißer Nächte willen aus dem Königsschatze für sie zurückgekauft. Wie ein leibeigen Herzogtum betrat sie das Gelass mit dem prunkvollen Bett, darin ihre Mutter sie in Ehren geboren, und bald füllten sich die lang verlassenen Räume mit kostbaren Statuen heidnischen Ursprungs. Marmor kühlte die hölzernen Treppen empor und breitete sich aus zu künsdichen Fliesen und Mosaiken, gewebte Teppiche voll Bildnis und Geschehen wuchsen, ein farbiger Efeu, warm über die Wände, golden klirrte Geschirr in die immer bereite Musik festlicher Mähler, denn in allen Künsten gewandt, lockend durch Jugend und verführerisch durch Geist, wurde Helena in kürzester Frist Meisterin aller Liebesspiele und die reichste aller Hetären. Von den Städten der Nachbarschaft, aus fremden Ländern sogar drängten die Reichen heran, Christen, Heiden und Ketzer[39], zumindest einmal ihre Gunst zu genießen, und da ihre Gier nach Macht nicht minder maßlos war als ihres Vaters Ehrgeiz, so hielt sie die Verliebten hart in der Schraube und drosselte der Männer Leidenschaft derart grimmig den Hals, bis das Letzte ihrer Habe erpreßt war. Selbst des Königs eigener Sohn musste bitteres Lösegeld zahlen an Pfandleiher und Borger, als er nach einer Woche der Lust, noch trunken und grausam ernüchtert zugleich Helenas Arme und Haus verließ.
Kein Wunder, dass solch ein vermessenes Treiben die ehrbaren Frauen der Stadt, insbesondere die älteren, erbitterte. In den Kirchen eiferten die Priester gegen die frühe Verderbnis, auf dem Marktplatze ballten die Weiber zornig die Fäuste, und mehr als einmal klirrten nachts Steine gegen Fenster und Tor. Aber so sehr auch die Sittigen sich ergrimmten, alle die verlassenen Ehefrauen, die einsamen Witwen, so belfernd sie aufmuckten, die alten, im Handwerk erfahrenen Dirnen, denen plötzlich dies übermütig freche Fohlen in ihre Lustwiese sprang – keiner von allen Frauen brannte der Unmut dermaßen übermächtig in der Seele wie Sophia, ihrer Schwester. Nicht, dass jene so lästerlichem Lebenswandel sich ergab, riss ihr die Seele wund, sondern die Reue, dass sie selber damals versäumt, demselben Antrag des Edelknaben zu folgen, und jener derart alles zugefallen, was sie selber heimlich ersehnte, Macht über Menschen und Üppigkeit des Daseins: ihr aber fuhr noch immer nachts der Sturm in die windoffene kalte Kammer und heulte mit der zänkischen Mutter um die Wette. Zwar hatte wiederholt die Schwester im eitlen Gefühl ihres Reichtums ihr kostbare Kleider zugesandt; doch Sophias Stolz weigerte sich, Almosen zu empfangen. Nein, das konnte ihren Ehrgeiz nicht kühlen, der kühneren Schwester jetzt rühmlos nachzuschreiten und nun mit ihr sich um Liebhaber zu balgen wie einstens um süßes Pfefferbrot. Ihr Sieg, so fühlte sie, müsse vollkommener sein. Und als Sophia nun Tag und Nacht sann, welcher Art sie jene an Ruhm und Bewunderung zu übertreffen vermöchte, wurde sie an dem immer unbändigeren Andrang der Männer gewahr, dass jenes bescheidene Gut, das ihr verblieben war, ihre Jungfräulichkeit und unberührte Ehre, ein köstlich Lockmittel sei und gleichzeitig ein Pfand, mit dem eine kluge Frau prächtig wuchern könnte. So beschloss sie, gerade das in eine Kostbarkeit zu verwandeln, was ihre Schwester vorzeitig verschwendete, und ihre Tugend ebenso sichtlich zur Schau zu stellen wie jene Buhlerin den jungen Leib. War jene gefeiert um ihrer prunkvollen Hoffart willen, sie wollte es nun werden durch ihre ärmliche Demut. Und noch standen die lästernden Mäuler nicht stille, als eines Morgens die staunende Stadt neuen Schmaus ihrer Neugier empfing: Sophia, die Zwillingsschwester Helenas, der Buhlerin, sei aus Scham und gleichsam zur Buße für ihrer Schwester unziemlichen Lebenswandel der irdischen Welt entflüchtet und habe sich als Novizin jenem frommen[40] Orden beigesellt, der sich der Wartung und Pflege der Gebrestigen im Siechenhause mit unermüdlicher Sorge hingab. Nun rauften die zu spät gekommenen Liebhaber wütig ihr Haar, dass dieses unberührte Juwel ihnen entgangen. Die Frommen wiederum, gern die seltene Gelegenheit nutzend, einmal der sinnlichen Verworfenheit das schöne Bild der Gottesfurcht entgegenzustellen, verbreiteten mit Eifer die Botschaft in alle Länder, so dass von keiner Jungfrau in Aquitanien je mehr Redens und Rühmens war denn von Sophia, dem aufopfernden Mädchen, das tags und nachts der Schwängen und Hinfälligen warte und selbst den Dienst bei den Aussätzigen nicht scheue. Die Frauen beugten das Knie vor ihr, wenn sie in ihrer weißen Haube gesenkten Blickes über die Straße ging, der Bischof rühmte sie in oftmaliger Rede als vornehmstes Beispiel weiblicher Tugend, und die Kinder blickten auf zu ihr wie zu einem seltenen Sternbild. Mit einmal war – wie man wohl glauben mag, sehr zum Ärger Helenas – die ganze Aufmerksamkeit des Landes nicht mehr ihr zugewandt, sondern einzig dem weißen Sühneopfer, das, um der Sünde zu entfliehen, wie eine Taube sich in die Himmel der Demut aufgeschwungen.
Ein sonderbar dioskurisches Zwiegestirn leuchtete nun in den nächsten Monaten über dem staunenden Land, den Sündern sowohl als auch den Frommen zu gleichem Wohlgefallen. Denn war jenen durch Helenas verschwenderische Lust des Leibes allzeit geboten, so vermochten diese ihre Seele an dem tugendhaft leuchtenden Spiegelbilde Sophias zu erbauen, und dank solcher Zwiefalt schien in dieser Stadt zu Aquitanien zum erstenmal seit Weltbeginn das Reich Gottes auf Erden säuberlich und sichtlich von jenem des Widerparts getrennt. Wer die Reinheit liebte, dem war die Schutzpatronin zur Stelle, und wer in Wollust des Fleisches versunken war, dem winkte irdischer Genuss in den Armen der unwürdigen Schwester. Aber in jedem einzelnen irdischen Herzen gehen ja zwischen dem Guten und Bösen, zwischen Fleisch und Geist sonderbar schmugglerische Wege hinüber und herüber, und es dauerte nicht lange, bis es sich erwies, dass gerade diese Zwiefalt unvermuteter Art den Frieden der Seelen bedrohte. Denn da die Zwillingsschwestern trotz höchst ungleichem Lebenswandel körperlich kaum unterscheidbar blieben, gleichen Wuchses, gleicher Augenfarbe, gleichen Lächelns und gleicher Lieblichkeit, wie natürlich, dass alsbald eine leidenschaftliche Verwirrung unter den Männern der Stadt entstand. Hatte etwa ein Jüngling eine heiße Nacht in den Armen Helenas verbracht und trat dann morgens hastig, gleichsam um das Sündige sich von der Seele zu baden, in die Frühe hinaus, so rieb er verwundert und wie von Teufelsspuk erschreckt die Augen. Denn die schöne Novizin im bescheidenen grauen Gewand der Pflegerin, die da eben einen keuchenden Greis im Rollstuhle durch den offenen Garten des Spitals schob und ihm ohne Ekel mit einer milden und zugleich zarten Gebärde den Speichel von dem zahnlosen Mund wischte, schien ihm genau dieselbe, die er eben noch nackt und glühend im buhlerischen Bette verlassen. Er starrte hin: ja, es waren die gleichen Lippen, dieselben runden und zärtlichen Bewegungen, freilich jetzt nicht der irdischen Liebe dienend, sondern einer höheren Liebe zum Menschlichen. Er starrte hin, und die Augen wurden ihm brennend, dass sie allmählich das graue und kahle Gewand durchsichtig machen wollten und hindurch der wohlbekannte Leib der Buhlerin ihm entgegenzuleuchten schien. Und gleiches Affenspiel der Sinne narrte wiederum diejenigen, die eben frommen Besuch der Krankenhelferin ehrfürchtig mitangesehen und, um die Ecke kehrend, die eben noch züchtige Sophia sonderbar verwandelt, entblößten Busens und üppigen Kleides, umringt von Buhlern und Dienern, zu einem Festmahl eilen sahen. Helena war dies, nicht Sophia, sie sagten sich’s wohl, aber doch, sie konnten von nun an die Fromme nicht denken ohne ihre Blöße und wurden unfromm inmitten ihrer Andacht. So schwankte der Sinn ungewiss von einer zur anderen und wurde dermaßen irr, dass die Sinne oft verkehrten Weg des Wunsches gingen, dass die Jünglinge von der Unberührbaren Leib träumten bei der Käuflichen und die fromme Samariterin wiederum anblickten mit dem lästerlichen Blick des Begehrens. Denn irgendwie hat der Weltschöpfer die Sinne der Männer quer gezimmert, dass ihr Wünschen allzeit von Frauen das Gegenteil dessen fordert, was sie gewähren: gibt eine leichtfertig ihren Leib, so wissen sie der Gabe geringen Dank und tun, als könnten sie nur Unschuld rechtschaffen lieben. Wehrt aber eine Frau sich ihrer Unschuld, so reizt es sie wieder siebenfach, ihr die behütete zu entreißen. So füllt und erfüllt kein Verlangen jemals den männlichen Zwiespalt, der ewiges Widerspiel will zwischen Fleisch und Geist: hier aber hatte ein spaßender Teufel die Knoten noch doppelt geschürzt, denn die Buhlerin und die Fromme, Helena und Sophia, erschienen äußerlich dermaßen als ein und derselbe Leib, dass man die eine von der ändern nicht unterscheiden konnte und keiner mehr richtig wusste, welche er eigentlich begehrte. So kam es, dass die Lotterbuben der Stadt mit einmal mehr vor dem Siechenhause als in der Schenke zu sehen waren und die Wüsdinge die Buhlerin durch Gold verlockten, zum Liebesspiel das graue Schwesterngewand umzutun und dermaßen die Täuschung zu vollenden, als hätten sie die Unberührte, als hätten sie Sophia genossen. Die ganze Stadt, ja das ganze Land wurden allmählich mitgerissen in dies unsinnig aufreizende Spiel der Verwechslung, und kein Wort des Bischofs, keine Mahnung des Stadtvogtes hatte mehr Macht über das täglich erneute Ärgernis.