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Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
Mit krampfartiger Bewegung griff der Major an die Pistolentasche, nicht um die Pistole herauszuziehen, sondern aus Angst, die Waffe zu verlieren.
Er verfluchte Sascha und brüllte ihn an, und der überlegte es sich anders – anstatt dem Major zu helfen, sprang er auf dessen Mütze, die in einiger Entfernung lag.
»Was machst du da, du?«, fragte der Major, der sich aufsetzte. Er sah ziemlich blöde aus – wie er da auf dem Asphalt saß, ohne Kappe, wirkte wie ein alter Mensch.
»Ihr seid an allem selbst schuld!«, sagte Sascha voller Bosheit. Er wandte sich um, wollte weiterlaufen, wurde aber von Wenja am Ärmel gepackt, der ihn in die Gegenrichtung zog: »Dort sind die ›Kosmonauten‹*. Schnell, wir müssen irgendwo …«
Sie liefen an der Aufschrift »Gaben der Natur« vorbei, auf der – wie abgebrochene Beine – drei Buchstaben weggerissenen worden waren, neben einer in schönem Zickzack zerschlagenen Auslage, stürzten schließlich in einen verpissten Hof, und waren in der Falle.
»Scheiße, ich kenne diesen Bezirk nicht!«, sagte Wenja und grinste. Ohne Pause und nicht weniger fröhlich fügte er hinzu: »Die ›Kosmonauten‹ schlagen dort alles zu Matsch. Sie treten Allen die Scheiße raus. Die haben uns über die Parallelstraße umfahren, jetzt treiben sie alle von oben nach unten, zu den Bullen …«
Sascha suchte die Mauern ab, in der Hoffnung, einen Durchschlupf zu finden.
»Eine Treppe«, sagte Sascha.
Nach oben, auf ein vierstöckiges Haus führte eine Feuerleiter, zu ihr hinaufzuspringen, war allerdings nicht möglich – es war zu hoch.
»Komm, du steigst auf meine Schultern«, schlug Wenja vor.
Sascha blickte ihn an, grinste, fast zärtlich. Denn Wenja hatte nicht gesagt: »Los, ich steige auf deine Schultern.«
»Und du vergräbst dich hier im Sand«, antwortete Sascha.
»Ich werde mich blöd stellen[37]«, fuhr Wenja fort, und gackerte dämlich herum. »Oh, Tantchen!« Er unterbrach das Lachen schlagartig, bemerkte etwas.
Wenja lief zu einem Fenster im Erdgeschoss und trommelte gegen die Scheibe.
»Tantchen, geh nicht weg!«
Die Frau kehrte zum Fenster zurück, schüttelte den Kopf: »Was ist los?«
»Sie jagen uns! Dort! Sie schlagen und jagen uns! Öffnen Sie das Fenster! Sie jagen uns!« Wenja begann wie verrückt zu gestikulieren. Offenbar hatte er sich noch nicht entschieden, wen er vorspielen sollte: Den weibischen jungen Idioten samt »Tantchen, hab Mitleid«, oder den ernsthaften jungen Burschen, der ein Problem mit dem Gesetz hat: »Frau, helfen Sie! So etwas kann jedem passieren!« Schließlich wechselten sich diese beiden Masken in Wenjas Gesicht ohne jegliches System ab, was bei der am Fenster stehenden Frau nicht gerade Vertrauen erweckte.
»Mist, wenn sie wenigstens eine Oma wäre. Eine Oma hätte Mitleid«, schimpfte Wenja, als die Frau, die im Übrigen nichts antwortete, die Vorhänge zuzog, dann aber neben dem Fenster stehenblieb; man konnte deutlich ihren Umriss sehen.
»Vermutlich hat sie noch andere Fenster auf die Straße hinaus …«, sagte Sascha und unterbrach den Satz; es war sowieso klar, dass sie die Frau, sollte sie gesehen haben, was sie dort aufgeführt hatten, niemals hineinlassen würde.
»Wir haben höchstens noch zwei Minuten …«, überlegte Wenja schnell, der die Antwort offenbar überhört hatte. Er erinnerte sich – »Sanjok, lass es.« »Lass es« war seine Lieblingsformulierung, die viele Bedeutungen hatte; diesmal bedeutete sie: »Jetzt werde ich’s dir zeigen!« – »Dort lief vor uns ein Sportler, ein Läufer. Ein Leichtathlet, nicht wahr. Ein Lauf am Sonntagmorgen. Er lief als Erster in die Sondereinheit. In roten Hosen. Ach, sie haben ihn sofort verdroschen. Einfach Debile, Scheiße nochmal. Der Typ tat was für die Gesundheit.«
Schritte waren zu hören, und Wenja erstarrte mit einem Grinsen im Gesicht, Sascha wollte sich, warum auch immer, hinsetzen oder sogar hinlegen.
Ljoscha Rogow kam in den Hof gelaufen – ein Junge irgendwo aus dem Norden. Aus Sewerodwinsk oder so.
Sie kannten sich noch kaum, doch Sascha akzeptierte Ljoschka schon – er schätzte seine dezidierte, unerschütterliche Ruhe.
»Was steht ihr da rum?«, fragte Ljoscha mit ruhiger Stimme.
»Sind die Bullen schon da?«, beantwortete Sascha die Frage mit einer Gegenfrage.
»Es sind noch hundert Meter bis zu ihnen. Ist das eine Sackgasse[38]? Im Nachbarhof ist offenbar ein Durchgang. Ich bin gestern hier rumgelaufen.«
Die Straße versetzte sie mit all ihrem Chaos und ihrer Verwüstung noch immer in Erstaunen.
»Sie haben einen Wagen angezündet!«, freute sich Wenja.
Die Luft war erfüllt von Hundegekläff, Sirenen und Pfiffen.
Sascha bemerkte noch zwei weitere umgestürzte Autos, eines davon – siebzig Meter die Straße hinunter, brannte sogar. Alle hielten Abstand zu ihm. Vermutlich deshalb kam auch keine Polizei, man befürchtete eine Explosion.
Das zweite schaukelte zehn Meter entfernt von ihnen auf dem Dach liegend.
Daneben tanzte zur Alarmanlage, die immer wieder in Geheul überging, eine Pennerin – dreckiges Gesicht und feuchte Lippen, als wären ihre Wangen nach außen gekehrt. Das Weib grinste, öffnete den zahnlosen Mund.
Nicht weit entfernt stand ein junger Mann mit Aktenkoffer, der aus irgendeinem Grund Schlüssel in der Hand hielt.
»Es ist sein Auto«, erriet Sascha.
Wenja blieb einen Moment lang stehen: »Hör mal, Landsmann!«, rief er den jungen Menschen, der sein Gesicht nervös verzog. Er drehte sich um.
»Schalt die Sirene aus, das nervt«, bat Wenja, grinste und machte mit dem Daumen eine Geste, als würde er eine Alarmanlage ausschalten.
Sie stürzten in den Hof, rannten, über die Bänke springend, an Pavillons und Rutschen des Kinderspielplatzes vorbei. Fast im Flug streifte Sascha das rostige Skelett der Schaukel und hörte einige Sekunden lang hinter seinem Rücken deren rhythmisches Ächzen.
Hinter den Jungs liefen drei Milizionäre schweren Schritts und forderten sie drohend auf, stehenzubleiben. Sascha, der sich auf den Ruf hin umdrehte, sah, dass der erste von ihnen dem Schäferhund kaum nachkam, den er unter Mühen[39] an der Leine festhielt.
»Lassen sie den Hund von der Leine oder nicht?«, überlegte Sascha befremdet, als ginge es dabei nicht um ihn. Er entschied, sich nicht mehr umzudrehen.
Die Jungs liefen aus dem Hof zur Straßenbahnhaltestelle, an der nur ein paar Menschen standen – allzu gern hätten sie sich in der Menge verloren.
Von der Haltestelle fuhr eine Straßenbahn ab. Sie liefen ihr hinterher und holten sie nach dreißig Metern ein.
Wenja rannte als Erster und winkte freudig mit den Händen, er rief etwas Unverständliches und machte dabei wütende Zeichen Richtung Straßenbahnfahrerin, deren zufriedenes Gesicht im Rückspiegel aufblitzte.
Die Straßenbahn hielt an, die mittleren Türen des Waggons öffneten sich, die Jungs stürzten in die Tram, Ljoscha Rogow eilte sofort zur Kabine der Straßenbahnfahrerin. Sascha bemerkte, wie er zur Fahrerin etwas sagte, einen Geldschein hinschob, sich entschuldigte und die Tür schloss. Die Tram setzte sich in Bewegung.
Aus dem Hof kamen die Milizionäre gelaufen, an ihren Bewegungen sah man, dass sie sofort errieten, wohin die Flüchtenden verschwunden waren.
Wenja zeigte den wütend Gestikulierenden beide Mittelfinger – plötzlich hielt die Tram ruckartig an.
Die vordere Tür öffnete sich und es stiegen fünf oder sechs Männer der Sondereinheit ein.
Wenja drückte den Notfallknopf, die Tür öffnete sich langsam und mit unzufriedenem Knarren; die brutalen Monster waren schon da und begannen, Wenjas Kopf gegen die Haltestange zu schlagen.
Sascha hielt sofort die Hände über den Kopf. Mit kräftigen Fußtritten stießen sie Sascha auf die Straße.
Auf der Straße schlugen sie ihn – kraftvoll im Genick gepackt – mit dem Kopf gegen die Tram. In den Augen flogen leichte rote Funken. Es war zu ertragen …
Sie stellten die Jungs als »Wäschespinne« auf – zwangen sie, die Hände hinter den Kopf zu legen, die Stirn gegen das Metallgehäuse der Tram zu drücken, und die Beine maximal weit auseinander zu stellen. Damit es besonders weit war, schlugen sie ihnen auch einige Male gegen die Beine.
Die Sondereinheitler wollten natürlich mehr. Sie hatten die Fliehenden äußerst elegant eingefangen, jetzt kochte rohe Wut in jedem von ihnen[40] – eigentlich sollte jeder Gefangene sofort in Stücke gerissen werden. Nur die neugierigen Gesichter einiger Passagiere, die sich ans Fenster der Tram drückten, hinderten die Häscher daran, die Arme reihenweise auszurenken. Sie traten nervös von einem Bein aufs andere, drückten an den Gummiknüppeln herum, verzogen die Gesichter.
Den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, sah Sascha, dass Wenja und Rogow unweit von ihm standen – breitbeinig wie er selbst.
Der Motor sprang an, und der Bus, der die Gleise versperrte, setzte zurück.
»Na, was jetzt, alle einladen?«, war eine Stimme zu hören. »Eine Revolution, verdammte Scheiße, wir bringen euch schon bei, was das heißt.«
»Was, Hundesohn? Eine Revolution willst du?«, wurde irgendwo in Saschas Nähe gebrüllt, doch es galt nicht ihm, sondern – offenbar – Wenja. »In einer halben Stunde wirst du das rote Blut der Revolution pissen!«
Ein Schlag donnerte nieder, noch einer. Jemand konnte sich nicht gedulden, drehte durch.
Sascha drehte den Kopf Richtung Wenja und erhielt sofort einen heftigen Schlag ins Genick; es war, als stünde jemand hinter ihnen[41] und wartete nur auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.
»Hat man dir nicht gesagt, die Hände hinter den Kopf und nicht bewegen?«
Da kam noch ein weiterer Hund, samt ihm Milizionäre, deren Näherkommen schon aufgrund der immer lauter werdenden, unablässigen Mutterflüche zu erraten war.
Dem Kläffen und Herumgezerre nach zu schließen, konnten sie den Hund kaum zurückhalten. Völlig in sich zusammengesunken wartet Sascha jeden Moment darauf, dass ihm ein Stück vom Schenkel herausgebissen würde.
»Also, was diese Ratten da … aufführen!«, schimpfte einer der Milizionäre, schnaubend und nach Luft ringend. »Die ganze Straße haben sie verschissen … die Geschäfte … Autos … Die sind doch Ungeziefer … Man sollte diese Tiere gleich hier, auf der Stelle, erschießen! … Du, Dreckschwein, was machst du?«, wandte er sich an Wenja, der sich mit dem Kopf gegen die Tram stemmte. »Ha? Dich, du Rotznase, frage ich! Was du machst?«
»Ich stütze die Tram«, antwortete Wenja mit klarer und deshalb unglaublich frecher Stimme. Sascha grinste die rote Seitenwand der Tram an, die die verschwitzte Stirn angenehm kühlte.
»Ach, du …«, hörte Sascha die Stimme des Milizionärs, und da er verstand, dass Wenja jetzt geschlagen würde, schaute er abermals zur Seite. Ein Gummiknüppel, lang wie ein Schlauch, donnerte krachend auf den Rücken des Gefährten.
»Was?«, schrie der Milizionär, der noch immer schwer atmete. »Noch einmal? Was? Nein, antworte du! Nochmal?«
»Geil dich nur auf«[42], antworte Wenja laut, und das klang nicht wie »ja, noch einmal«, sondern wie »Na los, na los, die Zeit kommt schon noch, und dann werden wir schon sehen …«
Hier trat einer von den Teufeln im Kampfanzug hinzu: »Wie sprichst du denn mit dem Onkelchen Milizionär?«
Er trat – als würde er mit einer Sense ausholen – mit seinen riesigen Quadratlatschen in Militärstiefeln Wenja gegen das Knie, der schlagartig und vor Überraschung glucksend umfiel. Und sofort traten sie ihm mit dem Stiefel ins Gesicht.
»He, hört endlich auf!«, schrie Sascha, von sich selbst überrascht.
Offensichtlich hätte er auch etwas abgekriegt, aber die Straßenbahnfahrerin lenkte ab.
»Herrschaften! Bringt die jungen Leute von der Tram weg. Im Waggon sind Kinder. Wir müssen weiterfahren.«
»Semjonitsch, alle nun einladen oder nicht?«, fragte einer.
»Nein. Der Patrouillendienst bringt sie zur Sammelstelle. Wir ziehen noch durch die Höfe.«
Die Sondereinheit lud ein[43], und der Bus, der sich ruckartig von der Stelle bewegte, fuhr weg.
Sie packten Wenja am Kragen. Sascha und Ljoscha forderten sie auf, einen Schritt zurück zu machen. »Noch einen Schritt zurück«. Die Tram knarrte und setzte sich in Bewegung.
Sascha, der unter leichtem Schwindel zu blinzeln begann, schaute zum Himmel.
Wenja und Ljoschka wurden hinterm Rücken Handschellen angelegt …
»Hände zurück!«, wurde Sascha befohlen.
Etwas Kaltes drückte die Hände zusammen.
Sie gingen die Straße hinunter, angetrieben von den Flüchen der Milizionäre. Manchmal heulte ein Schäferhund bösartig auf.
Wenja hob immer wieder den Kopf und versuchte mit feuchtem Pfeifen durch die zerquetschte Nase die Luft einatmend das daraus fließende Blut zu stoppen.
Sascha betrachtete interessiert, was sie und ihre Freunde angerichtet hatten[44].
Sie hatten die Straße ordentlich aufgemischt – es sah aus wie eine umgeworfene Einkaufstüte.
Einige abgerissene und zertrampelte Trikoloren lagen auf dem Boden.
Die Straße war mit Glas übersät, Blumen lagen da, auch eine Menge Dreck, der aus den Mülltonnen herausgefetzt worden war – es sah so aus, als wäre auf der Straße ein Regen aus Glassplittern niedergegangen, aus Mist und Blütenblättern.
Irgendwo lagen Stühle herum, auch die Kette von der Absperrung fand sich.
Alle Straßenlaternen waren zerschlagen.
»Sie haben Jana erwischt«, erriet Sascha plötzlich, als er die pelzgefasste abgerissene Kapuze, von der Fäden herabhingen, am Boden liegen sah.
»Das ist Janas Kapuze. Sie haben sie an der Kapuze gefasst.«
Von Zeit zu Zeit kamen ihnen Leute entgegen, von denen manche mit Interesse, manche voller Schadenfreude die Festgenommenen anschauten.
»Gefangengenommen …«, dachte Sascha ironisch. »Ich bin in Gefangenschaft geraten … Und sie können mich einsperren[45]«, dachte er seinen Gedanken ganz ernst zu Ende.
Das brennende Auto war aus der Entfernung zu sehen. Rundherum hetzten Feuerwehrleute. Aus den Schläuchen kam Wasser, vom Auto stieg schwerer Rauch auf.
»Also, was für eine Scheiße habt ihr da angerichtet!«, konnte sich einer der Milizionäre nicht beruhigen, er war der dickste und sprach kurzatmig. »Für welche Scheiße soll das gut sein? So etwas anrichten, um alles hin zu machen?«
Niemand machte Anstalten, ihm zu antworten.
Ljoscha schaute ruhig geradeaus, und seinem Gesicht war anzumerken, dass er es nicht für notwendig hielt, mit dem Fragenden zu sprechen.
Sascha hätte antworten können, aber die zerschlagene Lippe brannte – und er leckte ununterbrochen Blut.
Wenja schien hingegen nicht einmal die gebrochene Nase aufzuregen, und glucksend fragte er: »Was wurde angerichtet?«
»Das alles, habt ihr das angerichtet?«
»Wer soll das denn angerichtet haben?«, fragte Wenja nach, als würde es ihn ernsthaft beschäftigen.
In diesem Moment schwenkte eine Kamera direkt auf Wenja, und der Milizionär drängte die Journalisten fluchend zur Seite.
»Hör mal, bind mich los, damit ich wenigstens das Blut abwischen kann«, nützte Wenja die Situation aus. »Sonst brummen sie euch Gewalt gegen einen Minderjährigen auf[46]. Meine Nase ist gebrochen. Ich werde Beschwerde gegen euch einreichen[47].«
»Ich scheiß auf deine Beschwerde. Verstanden?«, brauste der Milizionär auf. »Schreib nur, das ist mir egal. Ich werde dir auf der Station noch den Arsch aufreißen.«
Wenja spuckte rot aus und verstummte.
Die Jungs des »Sojus Sosidajuschtschich« wurden aus dem Torweg abgeführt – manchmal drei, vier Leute, manchmal gleich zehn auf einmal.
Fast alle Verhafteten waren geprügelt worden, hatten rote, blutige Ergüsse, schwer verkrustete Augen, aufgeschwollene Nasen und zerschlagene Lippen.
Ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ganz blass war, mit zitternden Backenknochen, einknickenden Beinen und einem dicken, schmutzig-blutigen Klumpen im Genick bot einen schrecklichen Anblick. Er wurde am Arm gestützt.
Bei vielen war die Kleidung zerrissen. Man konnte die jugendlichen, dünnen Körper sehen.
Sascha kannte sie alle – wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen[48].
Irgendwer versuchte herumzualbern, aber die Milizionäre brüllten durchdringend, und befahlen, das Maul zu halten[49].
Kurz darauf wurde noch ein ganzer Haufen »in Gefangenschaft« genommen, sechzig, siebzig Personen. Der Großteil war ohne Handschellen.
»Los, unseren nehmen wir auch die Armbänder ab«, sagte der Milizionär mit Atemnot zu seinen Kollegen.
»Wozu?«, fragte einer der Untergebenen.
»Das müssen wir.«
Der Untergebene zuckte verständnislos mit den Schultern, und der Vorgesetze musste es erklären: »Verprügelt haben sie die ›Kosmonauten‹, aber wir müssen sie am Posten abliefern. Der da, bei dem ist vielleicht die Nase gebrochen, das müssen wir dann rechtfertigen. Diese Scheiße braucht keiner. Verstanden? Wir bringen sie zur Sammelstelle – und Tschüss.«
Sie holten Saschka, Ljoschka und Wenja aus der Menge, die sich gebildet hatte, um ihnen die Handschellen abzunehmen. Sie führten sie lange herum, fanden die Schlüssel nicht, und fluchten leise.
Sascha leckte seine Lippe ab. Wenja gelang es nicht, das Blut zu stoppen, es trocknete auf seinem Bart zu einer schwarzen Kruste. Ljoschka beobachtete alles aufmerksam und behinderte sie ganz offensichtlich beim Abnehmen der Handschellen, indem er hin und her ging und die Hände zurückzog.
»Arschloch, steh ruhig!«, schrien sie ihn an. Ljoschka erstarrte.
»Vorwärts, Laufschritt Marsch!«, befahlen sie ihnen.
Die Jungs trudelten im Laufschrit[50]t zu den ihrigen, die – in einer Entfernung von dreißig, vierzig Metern – vorweggingen. Die Festgenommenen wurden von Leuten in Armeemänteln und mit Kappen dicht umstellt.
»Wir müssen abhauen«[51], sagte Ljoschka leise, als sie sich von den Männern vom Patrouillendienst, die die Handschellen in ihre Gürteltaschen packten, entfernt hatten.
»Probieren wir’s«, antwortete Wenja.
»Los«, sagte Sanja, und sie tauchten – als könnte es gar nicht anders sein – leicht und frei – in die nächste Gasse ab, auf halber Strecke zu den Gefangenen, die schon in einer Kolonne zusammengetrieben waren.
Als sie an Geschwindigkeit gewonnen[52] hatten, hatte Sascha ein Gefühl, als würde er auf einer Schaukel immer höher und höher gezogen und schließlich losgelassen.
In der Nähe blitzte eine Rasenfläche auf (fast wäre er hingefallen, er stützte sich mit den Händen wie ein Affe ab, riss sich die Handfläche am Schotter auf, was für ein Schotter, woher?), ein Fenster, noch eins; ein Kinderwagen, eine Frau, die ihn schiebt (die vor Wenjas vertrocknet-blutiger Visage zurückschreckte) und um die Ecke bog, ein aus dem Hof fahrendes Patrouillenauto der Miliz (»… nicht bemerkt? Hätten ihnen direkt … in die Hände laufen können …«), eine Bank (warum auch immer quer über die Straße), ein Zaun (»Komm nicht drüber … zu hoch«).
Sekündlich schien ihm, die Bewegung der Schaukel müsse jetzt, gleich jetzt ihren Höhepunkt erreichen, und ihn jemand am Genick packen und zurückreißen, unaufhaltsam.
… Sascha sprang von der Mauer und fiel, überschlug sich.
»Wirklich, es ist sehr hoch, wie bin ich da hinauf …«
Daneben fiel – warum auch immer auf allen vieren – Wenja herunter, mit seinem schwarzen, struppigen und blutigen Bart.
Nur Rogow stand auf den Beinen, setzte sich und richtete sich sofort wieder auf.
Rogow fasste Wenja am Kragen, der stampfte mit den Beinen – stand auf und lief weiter.
Hustend und schnaubend – lange, zähe, süß-saure Speichelfäden hinter sich herziehend – stürmten sie durch die Höfe, bis sie keine Kraft mehr hatten und sich völlig erschöpft im Eingang einer »Chruschtschowka«* verstecken konnten.
Sie knieten auf allen vieren, mit trüben Augen, geschlossenen Mündern, versuchten vergeblich zu atmen. Aus dem Mund troff Speichel. Jemand betrat den Eingang, aber es war ihnen nicht peinlich …
»Sohn, du …warst in Moskau?« Mutters Stimme klang durch das Telefon verzweifelt und traurig.
Sascha hätte am liebsten sein Gesicht zerkratzt, als er diese Stimme hörte.
»War ich«, antwortet er dumpf, und zog dabei die zerschlagene Lippe hoch, weshalb das Wort »war« wie »ar« klang.
»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben«[53], sagte seine Mutter, und in ihrer Stimme klang noch die Hoffnung durch, dass Sascha sie umstimmen könnte, sagen würde, all das sei nicht wahr und er habe nichts Schlimmes gemacht.
»So … ein Unsinn …«, antwortete er.
Kapitel 2
Sascha trennte sich von Wenja und Ljoschka an der Metro. Sie hatten entschieden, dass sie einzeln weniger Verdacht erregen würden.
Er fuhr aus Moskau in seine Provinzstadt – fünf hundert Werst von der Hauptstadt entfernt – mit der Elektritschka*, oder, wie es seine Freunde nannten, mit dem »Hundefuhrwerk[54]«. Er saß einsam in der Ecke des Waggons, bisweilen schauderte es ihn beim Gedanken an das kürzlich Geschehene, dann wieder erfasste ihn erneut der Rhythmus der Ereignisse, wenn alles klirrt und zerbricht. Sascha hörte sich in diesen Rhythmus hinein, es fühlte sich gut an.
Die Stadt hatte sich als schwach erwiesen, wie Spielzeug, sie zu zerbrechen war genauso sinnlos wie Spielzeug zu zerbrechen: Drinnen war nichts – es war nur leeres Plastik. Und das kindliche Gefühl des Triumphes, dieses überwältigende Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, kam daher, dass alles viel einfacher war, als es schien …
Immer wieder kamen Kontrolleure vorbei, Sascha ging auf die Plattform, beäugte durch das trübe Glas ihre blaue Kleidung, die strengen Gesichter. Beim nächsten Halt lief er über den Bahnsteig am Waggon mit den Kontrolleuren vorbei und setzte sich wieder in die Ecke.
Manchmal saugte er an der zerschlagenen Lippe, sie brannte mittlerweile schon nicht mehr so schmerzhaft – sie heilte wie bei einer Katze.
Der Zug schien lautlos zu fahren, Sascha hörte nichts.
Hinter dem Fenster zogen Verwahrlosung und Trostlosigkeit vorbei. Er spiegelte sich im Glas – kurze Haare mit einem widerspenstigen Schopf, unrasiertes Kinn, dunkle Haut, die Stirn in frühen Falten … Ein gewöhnliches Gesicht.
Sascha kam in seiner Stadt an, die Türen des Zuges klappten hinter ihm zu, als wäre er ein Überbleibsel, das einfach abgeschnitten wurde.
Den blödsinnigen Gedanken, im Treppenhaus würde schon ein Hinterhalt auf ihn warten, verscheuchte er (»… da sie im ganzen Lande Fallen errichtet haben«), und lief ins Haus.
Das Schloss machte das übliche Geräusch, ein weiches Klicken. Die Tür ging auf.
Die Mutter arbeitete in der Nachtschicht, die Wohnung war leer.
Sascha rief einen Bekannten an und bat ihn, ihn ins Dorf zu bringen. Der Mann antwortete missmutig: »Ich fahre heute«.
Er hinterließ der Mutter einen Zettel: »Mama, alles in Ordnung«.
Zum Dorf kam er unter dem üblichen Gerumpel. Die »Kopeke« schepperte, auf der Windschutzscheibe hing statt des Zulassungsscheins ein kleiner Kalender des aktuellen Jahres; die Jahreszahlen in fetter Schrift sollten die Verkehrshüter[55] täuschen. Auf dem Weg ins Dorf sahen sie nur einen Posten, der Milizionär schaute angewidert Richtung »Kopeke« und drehte sich weg.
Der Mann schwieg den ganzen Weg über, horchte manchmal auf den Motor, der die unterschiedlichsten Klappergeräusche von sich gab. Die Abfolge dieser Geräusche erschien Sascha willkürlich. Der Mann aber, so schien es zumindest, konnte alle Bestandteile dieser Kakophonie unterscheiden.
Als sie am Posten vorbeikamen, verkrampfte der Fahrer ein wenig, seine Augen wurden schwerer, er hielt das Steuer fester und konzentrierte sich allein auf die Straße, da er befürchtete, er könnte den Milizionär mit seinem Blick streifen – als wäre es der Leibhaftige höchstpersönlich. Einen Augenblick später war der Fahrer wieder ruhig. Und Sascha vermutlich auch.
Bald nach dem Posten ging die Asphaltstraße in einen Feldweg über. Dieser Feldweg lief, vorbei an Gärten und durch zwei ruhige Dörfer, in denen es nicht einmal Hunde gab, auf einen Fichtenwald zu. Im Wald war es finster. Die über einer ehemaligen Schmalspurbahn verlaufende Straße war eine Folter, es tat regelrecht weh, wenn das Fahrzeug gegen ihre harten Rillen prallte.
Die »Kopeke« irrlichterte mit einem Schweinwerfer in die Gegend, der zweite gab gerade ausreichend Licht für sich selbst. Im Lichtkegel bogen sich Äste mit zitterndem Laub. Angst vor Dunkelheit und Bäumen von irgendwo aus der Kindheit überkam ihn, Sascha zündete sich eine Zigarette an – es verging wieder.
Er erinnerte sich daran, wie er dem Vater einmal beim Mähen geholfen hatte, Sascha war damals etwa zehn. Eigentlich mähte der Vater, wenn er aber eine Rauchpause machte, unternahm Sascha seine Mähversuche, sonst rechte er das vom Vater gemähte Gras in Reihen. Die Dämmerung brach herein, sie hätten mit dem Lastwagen abgeholt werden sollen, doch niemand kam. Der Vater zündete ein Feuer an. Sascha sammelte Äste, er hatte Angst, sich vom Feuer zu entfernen. Der Vater aber verschwand von der Wiese in den Wald, Sascha hörte voller Angst das Knacken der brechenden Äste; plötzlich erschien der Vater wieder, seine Beute war reich. Das Feuer flammte auf, das Geäst knackte.