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Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
Zakhar Prilepin / Захар Прилепин
Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
Комментарии и словарь Н. Г. Абросимовой
Translated into German by Erich Klein and Susanna Macht
© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018.
All rights reseved.
© КАРО, 2019
Kapitel 1
Sie wurden nicht auf die Tribüne gelassen.
Sascha[1] blickte zu Boden: Die Augen waren müde von den roten Fahnenbahnen und den grauen Militärmänteln.
In der Nähe blitzte es rot auf, berührte die Gesichter, manchmal wehte ein Geruch von altem Leinen daher.
Die Grauen standen hinter der Absperrung. Die Rekruten, alle gleich, mittlerer Größe und staubig, bogen lasch die langen Gummiknüppel. Die Milizionäre hatten feiste, vor Aufregung rot angelaufene Gesichter[2]. Und da war der unumgängliche Offizier, zackig, der kampfeslustig in die Menge schaute. Seine Hände lagen frech am oberen Rand der Absperrung, die die Demonstranten von den Ordnungshütern und der ganzen Stadt abtrennte.
Einige schnauzbärtige Oberleutnants, unter deren Jacken sich üppige Bäuche abzeichneten. Irgendwo musste auch der Oberst sein, der Wichtigste und Allergeschäftigste.
Sascha versuchte zu erraten, wer es diesmal sein würde – der oberste Aufsichtsbeamte über das Oppositionsmeeting, zuständig für die Ordnung. Manchmal war es ein trockener Mann mit asketischen Wangen, der die Leute aus dem Untergrund, die auch schon fett geworden waren, angewidert beobachtete. Manchmal war es einer, der selbst wie jemand aus dem Untergrund wirkte, nur noch sehr viel mehr Untergrund als jene, schwerfälliger, zugleich aber auch beweglicher, aufgeweckter, ständig ein Grinsen im Gesicht und mit kräftigen Zähnen. Noch ein dritter Typus war anzutreffen – ein ganz kleiner, der wie ein Pilz aussah, sich hinter den Reihen der Miliz auf flinken Beinen hin und her bewegte …
Sascha hatte bislang keinen einzigen Obristenstern bemerkt.
Ein wenig weiter, hinter der Absperrung, knirschten die Reifen langsam rollender Autos, die schweren Türen der Metro schwenkten endlos auf und zu; mit Staub bedeckte Obdachlose sammelten Flaschen auf und starrten gierig in die Hälse der Flaschen. Ein Kaukasier trank Limonade und verfolgte die Demonstration hinter dem Rücken der Milizionäre. Sascha fing zufällig seinen Blick auf. Der Kaukasier drehte sich um und ging weg.
Sascha fielen die knapp hinter der Absperrung stehenden Autobusse auf, sie trugen ein Wappen mit einer zähnefletschenden Bestie. Die Vorhänge in den Fenstern der Autobusse waren zugezogen, manchmal wurden diese Vorhänge bewegt. Es saß also jemand in den Bussen – wartete auf die Gelegenheit, auszusteigen, heranzustürmen, den kurzen Gummiknüppel in der festen Faust zusammengepresst, auf der Suche nach jemandem, den er zusammenschlagen könnte, mit voller Wucht und mit einem Hieb[3].
»Siehst du, ja?«, fragte der unausgeschlafene und verkaterte[4] Wenka, dessen Augen wie ein verkochter Pelmen* aufgequollenen waren[5].
Sascha nickte.
Die Hoffnung, dass bei dieser Demo keine Sondereinheit* auftauchen würde, war nicht sehr groß gewesen und bewahrheitete sich auch nicht.
Wenka grinste, als würden im passenden Moment nicht böse Geister in Tarnanzügen und mit schweren Helmen aus dem Autobus herausstürzen, sondern Clowns mit Luftballons.
Sascha bewegte sich ziellos durch die Menge, die hinter die Absperrung zusammengedrängt wurde.
»Wie Aussätzige zusammengetrieben[6] …«
Die Absperrung war aus jeweils zwei Meter langen Abschnitten zusammengesteckt, entlang derer Uniformierte in gleichmäßigem Abstand Stellung bezogen hatten.
Wenka ging hinter Sascha her. Ihre Kolonne befand sich auf der anderen Seite des Platzes, und es war schon Janas klare Stimme zu hören, die Jungs und Mädchen in Position brachte.
Viele von denen, die Sascha, sich vorwärts bewegend, anschaute und berührte, wirkten elend und armselig[7]. Fast alle waren aufgebracht und definitiv nicht sehr jung.
Ihr Verhalten hatte etwas von Todeskandidaten, als wären sie aus letzter Kraft hierher gekommen, um zu sterben. Die Portraits, die sie in Händen hielten, an die Brust drückten, stellten die Führer dar, wobei diese Führer ganz offensichtlich jünger als der Großteil der hier Versammelten waren. Lenins sanftmütig lächelndes Gesicht geisterte da herum, ein vergrößertes Bild, das Sascha noch aus dem Schulbuch kannte. Aus den zittrigen Händen der Alten erhob sich das ruhige Gesicht von Lenins Nachfolger*. Der Erbe trug eine Schirmmütze[8] und die Uniform des Generalissimus.
Dünne, auf grauem Papier gedruckte Zeitungen wurden angeboten, Sascha verzog den Mund und lehnte grob ab.
Alles, was hier vor sich ging, bewirkte nichts als Mitleid und Beklemmung.
Einige Hundert, oder vielleicht Tausend Menschen versammelten sich auf dem Platz in der unerklärlichen Überzeugung, ihre armseligen Zusammenkünfte könnten das Verschwinden der verhassten Macht bewirken.
In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz* vergangen waren[9], waren auch diese Demonstranten endgültig gealtert und niemand hatte mehr Angst vor ihnen.
Freilich[10], als Kostenko, ehemaliger Offizier und, so sonderbar das klingen mag[11], Philosoph, ein kluger Kopf[12] und eine höchst originelle Figur, vor vier Jahren begonnen hatte, diesen Haufen an verbiesterten jungen Menschen auf den Platz hinauszuführen, verstanden die nicht immer, was sie zwischen den roten Fahnen und alten Leuten eigentlich zu suchen hatten. Innerhalb weniger Jahre waren die Jungs erwachsen und wegen ihrer dreisten Aktionen und grölenden Schlägereien bekannt geworden. Mittlerweile fand sich in Kostenkos Partei derart viel und bunt zusammengewürfeltes Jungvieh[13] zusammen, dass man beschlossen hatte, das heutige Meeting mit einer eisernen Absperrung einzugrenzen. Damit es nicht ausbrach[14]…
Bisweilen schauten diese kräftigen, abgeklärten Alten voller Interesse und Hoffnung, aber auch mit leichtem Zweifel zu Sascha und Wanja hin.
Der Abgeordnete der patriotischen Parlamentsfraktion trat auf der Tribüne gemessen von einem Fuß auf den anderen. Selbst aus der Entfernung war an seinem glatten, rosigen Gesicht zu erkennen, dass sich der Mann ausgezeichnet ernährte – das unterschied den Abgeordneten von allen neben ihm stehenden geschäftigen Graugesichtigen grundlegend.
Der Abgeordnete trug einen schwarzen, elegant geschnittenen Mantel. Er nahm die Lammfellmütze ab – und stand vor dem Volk mit entblößtem Haupt. Einer aus seinem Fußvolk, das sich hinter dem Abgeordneten drängte, hielt die Mütze in Händen.
Vor der Tribüne waren Transparente mit unsinnigen Sprüchen platziert, die niemanden je zu einer Tat inspirieren würden.
Sascha kniff die Lider zusammen und las.
Es wurde ihnen nicht gestattet, aufzutreten. Die Zeit reiche nicht, stattdessen wurden sie mit sanftem Nachdruck gebeten, nicht länger die Treppe zur Tribüne zu besetzen. Sascha, der auf der vorletzten Stufe stand, schaute von unten nach oben auf den Organisator, der sich erleichtert von Sascha wegdrehte. Der Organisator stellte äußerte Geschäftigkeit zur Schau: »Kommt, Jungs, alles klar. Ein andermal.«
»Was ist mit Kostenko los?«, hörte Sascha im Hinuntergehen die sonore und eindringliche Stimme des Abgeordneten. Der Abgeordnete bemerkte die rote Binde mit dem aggressiven Symbol* auf Saschas Arm und gab die Frage an den Organisator weiter, der sich erleichtert von Sascha abgewandt hatte.
»Er sitzt.« In der Antwort schwang ein bissiger Unterton mit, der allerdings gleich verschwand, als der Abgeordnete gereizt erwiderte: »Dass er sitzt, weiß ich.«
»Es heißt, er bekommt fünfzehn Jahre«, antwortete der Organisator rasch und plötzlich voller Ernst, schon jetzt mit einem gewissen Bedauern über Kostenkos Schicksal.
Während der kurzen Augenblicke, die das Gespräch dauerte, stand Sascha reglos auf der Treppe des engen Aufgangs, er hörte ganz offenbar zu. Eine Stufe weiter unten wartete eine alte Frau, um zur Tribüne heraufzusteigen.
»Also was ist, gehst du jetzt runter, oder nicht?«, fragte sie mürrisch.
Sascha sprang vom Aufgang auf die Straße hinunter.
»Ihr könnt auch unten schreien«, rief sie Sascha noch hinterher. »Für euch ist es auf der Tribüne noch zu früh …«
Wenka, der unten auf Sascha gewartet hatte, verstand ohnehin alles und fragte nichts. Es schien ihm egal zu sein, ob sie auf die Tribüne gelassen wurden oder nicht.
In der Tasche bewegte Wenja einige Dutzend Knallkörper [15]hin und her. Manchmal zog er sie einzeln heraus, drehte sie vor dem Gesicht, als würde er nicht verstehen, worum es sich dabei eigentlich handelte.
»Hast du nichts zu rauchen?«, fragte Saschka. »Ich hab dir doch gesagt …«
»Ja?« Wenja grinste verdutzt. »Und was hast du gesagt?«
Sie zwängten sich aus der Menge wieder heraus zu ihrer Kolonne, die schon angetreten war.
Jana, schwarzhaarig und in eleganter kurzer Jacke, deren Kapuze und Kragen mit Pelz eingefasst waren, ging die Reihen entlang und rief Kommandos. Sie trug blaue, unten leicht ausgestellte Jeans[16], und sie sah bezaubernd aus.
Sascha wusste, dass sie Kostenkos Geliebte war.
Kostenko, ja, der saß im Gefängnis, in Untersuchungshaft[17], er war wegen Waffenkauf verhaftet worden, nur ein paar Maschinenpistolen – doch sie, seine Meute, seine Herde, seine Bande, sie waren nervös in Formation angetreten[18], die Gesichter hinter schwarzen Tüchern, mit schwitzender Stirn und tierischem Blick.
Es waren schwer einzuordnende, merkwürdige junge Männer, einzeln aus dem ganzen Land zusammengeholt, durch etwas Unbekanntes miteinander verbunden, durch eine Markierung, ein Mal, das ihnen seit der Geburt anhaftete.
Irgendwo war da auch Matwej – er war derjenige, der in Kostenkos Abwesenheit die Partei leitete. Allerdings stand Matwej heute nicht in der Kolonne, er schaute von der Seite zu.
Jana hob das Megaphon vors Gesicht und holte mit den Armen aus. Ihre Stimme löste sich sofort in einem einheitlichen Schrei auf, zu hören war nur der erste, angestimmte, glockenhelle Buchstabe.
Sascha stand noch neben der ersten Formation, er konnte seinen Platz nicht finden, während sich seine junge Herde schon zum Schrei geöffnet hatte – am Rand seines Blickfeldes sah er verschreckt auffliegende Tauben, den nervös zusammenzuckenden Offizier, der bei der Absperrung der Rekruten stand, die schon die Schlagstöcke in ihre saftlosen Hände nahmen. Sascha brüllte gemeinsam mit allen anderen – seine Augen waren erfüllt mit jener Leere, die den Schrei ermöglicht und seit je[19] dem Angriff vorausgeht. Sie waren siebenhundert Menschen, und sie schrien das Wort »Revolution«.
»Tischin!«, winkten sie ihm. »Komm hierher!«
Er stand in der ersten Reihe, links außen, neben Wenja, dessen verkaterte Augen, die noch kürzlich verkochten Pelmeni geglichen hatten, jetzt rot und fast angebraten aussahen, als wären sie in eine glühend heiße Pfanne gelegt worden.
»Geh weg, Oma!«, lachte Wenja.
Neben der Kolonne stand eine Alte, und in dem Moment, als die Kolonne für einige Momente verstummte, hörte Sascha ihre Stimme, die offenbar nicht zum ersten Mal ein und dasselbe wiederholte: »Idioten! Ihr seid Provokateure! Euer Kostenko sitzt absichtlich im Gefängnis, um berühmt zu werden! Euch haben die Jidden hierher geschickt!«
Ohne die Alte zu beachten, schritt Jana vorbei, in aller Schwärze, mit einem grellen und bloßen Gesicht, wie eine offene Wunde.
»Gottlose!«[20], schrie ihr die Alte ins Gesicht, doch Jana war schon weg, es war ihr herzlich egal.
Die Großmutter inspizierte mit geschärften Äuglein die Kolonne und entdeckte Sascha.
»Die Juden haben sie geschickt«, wiederholte sie noch einmal. »Da, du bist ein Jud! Ein Jidd und ›SSler‹*!«
Sascha wurde von dem, der hinter ihm stand, angestoßen, die Kolonne setzte sich in Bewegung[21].
»Re-vo-lu-ti-on« wummerte und vibrierte es auf dem ganzen Platz; es überdeckte den Bass auf der Tribüne, die Gespräche der Miliz über Funk[22], die Stimmen der übrigen Demonstranten.
»Sojus Sosidajuschtschich!*«, »Jungs« – wurde ihnen von der Tribüne zugerufen. »Ihr seid nicht zum Schreien gekommen. Kommt schon, könnt ihr euch einmal auch normal benehmen …«
Die Kolonne, die ihre schwarz-roten Flaggen schwenkte, bewegte sich Richtung Absperrung, vorbei an der Tribüne. Kompaktes, die Ohren mit stumpfem Schmerz erfüllendes, unglaubliches Gebrüll stand in der Luft.
»Den Präsidenten!«, schrie Jana mit gellender Stimme.
»In der Wolga ertränken!«, antworteten im Echo siebenhundert Kehlen[23].
»Den Gouverneur!«
»In der Wolga ertränken!«
»Also, Herrschaften, tut denn niemand etwas …«, warf der Auftretende hilflos ein, und das hier unpassende »Herrschaften«[24] drang bis zu Sascha; es hätte ihn wohl dazu gebracht, zu grinsen, hätte er nicht selbst mit heiserer Stimme so sehr geschrien, dass schon seine Zähne kalt wurden: »Wir hassen die Regierung!«
Alles verfiel in den Rhythmus dieses Brüllens. Vom Schrei schwenkten die Türen der Metro auf und zu, imbTakt desbSchreies hetzten die grauen Jacken herum, zischten die Funkgeräte,bhupten die Autos.
»Liebe und Krieg! Liebe und Krieg!«
»Liebe und Liebe!«, wandelte es Sascha ab, der Jana noch einmalbsah, die sich plötzlich vor der Kolonnebumdrehte, ihre Kapuzebflog davon und fiel zu Boden.
»Wie süß duftet diese Kapuze, und drinnen ist … ihr Kopf«, fiel Sascha ein, und er vergaß diesen unvermittelt auf blitzenden Gedanken sogleich wieder. »Wie ein Honigkuchen aus Tula …« tauchte ein weiterer Gedanke auf, wobei Sascha nicht genau verstand, was er da eigentlich dachte und wozu.
»Ihr sprengt die Demonstration!«[25], schrie eine Frau, die offenbar von der Tribüne herab gelaufen kam und versuchte, Jana am Ärmel zu packen[26]. »Der Sojus!«, rief sie beschwörend zur ersten Reihe hin und versuchte, den Jungs in die Augen zu schauen. »Ihr nennt euch ›Sojus Sosidajuschtschich‹! Was schafft ihr denn? Ihr bringt nur Zwietracht hervor!«
»Zum Demonstrieren bist du hierher gekommen? In diesen Pferch?«, fragte Jana und schob das Megaphon brüsk vom Gesicht weg. »Dann demonstriert mal schön. Wir ziehen von hier ab.«
Sie standen schon direkt an der Absperrung – Sascha bemerkte die Augen der Milizionäre, die unruhig die Umgebung absuchten, sowie den Offizier, der etwas ins Funkgerät schrie.
»Ja!«, brüllte er. »Die Sondereinheit[27] soll kommen. Verdammte Scheiße, diese ›SSler‹ sind hier aufmarschiert.«
»Wir sind irr, wir machen euch platt!«[28], schrie die tobende Kolonne im Chor, stampfte auf und schwenkte dabei die Fahnen.
Wenka wandte sein Gesicht zur Kolonne, mit dem Rücken zu Polizei und Absperrung stehend gab er die Sprengkörper rasch an die nächste Reihe weiter: »Zünd sie an!«
Die Tribüne schwieg, alle schauten zu der wild brüllenden Formation.
Einige Knallkörper explodierten gleichzeitig, dann flog ein Kanonenschlag Richtung Miliz, es knallte neben dem vor Schreck zusammenzuckenden Offizier und begann heftig zu rauchen.
Sascha sah, wie ein Milizionär, der nicht ganz kapierte, was da vor sich ging, einfach umkehrte und die Straße davonlief, seine Kappe rollte zur Seite.
»Re-vo-lu-ti-on!«, wurde jetzt schon in unüberhörbarer Hysterie geschrien, die Gruppe mit Turnschuhen und zerfledderten Bomberstiefeln stampfte rhythmisch.
Über der Kolonne flammten bengalische Feuer auf.
Sascha hielt die Absperrung in Händen, zog sie zu sich. Von der anderen Seite klammerten sich die erschrockenen Milizionäre daran.
Über deren Rücken hinweg schwenkte ein Offizier seinen Schlagstock und versuchte Sascha am Kopf zu treffen. Sascha wich seinen Schlägen aus; er ließ die Absperrung mehrfach los, um dann wieder danach zu greifen, vorsichtig, als wäre sie brennend heiß.
Der Offizier nahm den Schlagstock in die andere Hand, wirbelte ihn herum, und versetzte Wenka seitlich einen Schlag, dessen Wange sofort grellrot anschwoll.
»Die Fahnenstange!«, schrie Wenja, der sich nach hinten drehte und dabei grundlos grinste. »Die Fahnenstange, hierher!«
Eine Fahne wurde ihm gereicht. Wenja riss mit einer Bewegung den ganzen Stoff ab, schwenkte die Fahnenstange wild durch die Gegend und ließ sie auf den Offizier niederdonnern[29]. Der drosch gerade voller Begeisterung mit dem gekrümmten Gummiknüppel irgendwem ins Gesicht und sah den Schlag nicht kommen.
Seine Kappe rutschte in den Nacken, sofort floss ein gleichmäßiger Blutstrom über die Stirn und verteilte sich an der Nasenwurzel wie Astwerk über Augenbrauen, Wangen und Augenhöhlen.
Der Offizier schaute nach oben, verdrehte seine blödsinnigen Augen, als versuchte er, die Verletzung zu sehen.
Auf Saschas Schulter lag, wie eine Kopie, noch eine weitere Fahnenstange, das Fahnentuch hing nach unten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er weitere Fahnen, die mit ihren Spitzen auf Milizionäre und Rekruten zielten, die ihrerseits die Absperrung festhielten.
Abermals wurde von hinten gegen Sascha gedrängt, so stark, dass er zu fallen drohte. Stürzend hielt er sich an der Brust eines Rekruten fest, der den Schlagstock vertikal in die Höhe hielt und vor Angst zu blinzeln begann – entweder weil er nicht richtig ausholen konnte, oder weil er Angst hatte, zuzuschlagen.
Sascha hielt sich gerade noch auf den Beinen, stieß den Rekruten weg, und hob den Teil der Absperrung, den er zu fassen bekommen hatte, hoch über den Kopf.
Die unablässig brüllende Meute preschte aus dem Pferch hinaus. Die Milizionäre zogen sich zurück und schauten den Laufenden absolut unentschlossen nach. Jemand brachte den am Kopf verletzten Offizier zu einem Polizeiauto.
»Jungs, ich flehe euch an!«, rief noch jemand auf der Tribüne.
Von irgendwo an der Seite liefen schon die Sondereinheitler heran, ein Dutzend Typen im Kampfanzug.
»Drei…«, zählte Sascha – »Vorerst nur drei.«
Sascha warf die Absperrung in ihre Richtung und renkte sich dabei fast seine Gelenke aus. Sie fiel laut scheppernd auf die Straße, flog nicht bis zu den Laufenden. Sascha sah, dass die innehaltenden Sondereinheitler[30] Flüche in seine Richtung ausstießen[31], verstand die Wörter allerdings nicht. Sie setzten sich abermals in seine Richtung in Bewegung, und Sascha griff sich einen weiteren Abschnitt.
Die geschleuderte Absperrung bedeckte einen Sondereinheitler, der unter dem auf ihn gestürzten Metallstück ganz verdreht dalag. Zwei andere versuchten ihn herauszuziehen.
»Bewahren wir Ruhe!«, wurde von der Tribüne gerufen. »Setzen wir das Meeting fort!«
Die Jungs stürzten vorwärts, den Prospekt entlang. Die Miliz stand machtlos da, wie eine Ehrenwache, und ließ die junge, vor Glück jaulende Bande in die Stadt.
Der ganze Platz strömte regelrecht in eine Fußgängerzone. Das Erste, worauf die in Freiheit Drängenden trafen, waren ein Taxistand an der Straße und Verkaufsstände für Blumen.
Die Verkäufer schnappten die Blumen bündelweise[32] und machten sich auf und davon. In der Eile warfen die Laufenden – zunächst ohne Absicht, aus Versehen – da eine Vase, dort einen Korb mit Rosen, Nelken und Tulpen um; sofort bekam man aber Lust auf mehr. Als Sascha zu den Verkaufsständen hetzte, war die ganze Straße schon rot, gelb, rosa und bordeaux übersät. Unzählige gebrochene Stängel knacksten unter seinen Schritten.
Sascha ergriff – warum auch immer – einige, etwa drei, vier Sträuße von den noch nicht umgeworfenen Blumenständern und lief eine Zeitlang mit ihnen in der Hand – bis er die Unsinnigkeit seiner Handlung begriff. Als er am Taxistandplatz vorbeirannte, sah er, dass ein verängstigter Taxifahrer aufs Gas stieg und einen Passagier, der sich an der Tür festhielt und sich noch nicht hatte setzen können, einige Meter mitschleifte – jener brüllte durchdringend. Andere Taxis, die ständig hupten, bremsten, fuhren eilig davon.
Sascha überschüttete eine auf dem Boden sitzende armselige Flüchtlingsfrau aus dem Süden samt obligatorischem Säugling im Arm mit den Blumen und wäre beinahe in Wenja hineingelaufen, der vor einem Schaufenster stehengeblieben war, offenbar auf der Suche nach einer geeigneten Waffe.
Wenja entdeckte eine Mülltonne und einen Augenblick später flog sie unter fürchterlichem Krachen in das Fenster.
An diesem Sonntagmorgen waren noch wenig Menschen auf der Straße. Vereinzelte Passanten verließen den Ort, eilig und ohne sich umzuschauen. Ein Mann in blauem Mantel lief aus einem Geschäft und trottete die Straße hinauf. Wenig später tauchte ein Wächter in schwarzer Jacke auf und verschwand sofort wieder hinter den Türen, während er in ein Handy schrie.
Auf der anderen Straßenseite stand ein schönes Auto einer ausländischen Marke – ohne Rücksicht auf die Fußgänger war es falsch geparkt worden. Die Alarmanlage des Fahrzeugs hatte schon eine Weile gequäkt, was vermutlich den Unmut der tobenden Menge hervorrief. Mit überraschender Leichtigkeit kippten einige Jugendliche das Auto zur Seite und dann aufs Dach.
Weiter oben an der Straße standen noch andere Autos – Jungen und Mädchen sprangen in wilder, fast tierischer, zugleich aber stummer Freude auf deren Dächern herum.
Sie waren auf der Suche nach etwas, das lautstark zertrümmert werden könnte, und zogen so, unter Krachen und Klirren, durch die Straßen, anfangs vereinzelt, Auge in Auge[33] mit der Stadt.
Die Jungs führten ihre Taten ohne jegliche Schreierei aus, mit bösem Ernst, beinahe ruhig.
Unter atemberaubendem metallenem Scheppern fielen einige im Freien stehende Spielautomaten zu Boden.
Irgendwer wackelte am Zaun eines Sommercafés, um ihn umzureißen; von der Abgrenzung wurde eine schöne schwarze Kette abmontiert, sie segelte[34] in die bunt angestrichenen Fenster des Cafés.
Einer hatte sich geschnitten und umwickelte die blutende Hand mit einem Stück Seidenvorhang, der samt Gardinenstange aus dem Café herausgeholt worden war.
Kostja Solowyj, ein großgewachsener, erstaunlicher Kerl von merkwürdiger Schönheit – weiße Jacke, weiße Hosen und spitze weiße Schuhe, die verblüffend gut zu seinen spitzen Vampirohren passten – ergriff die schwarze Kette, wirbelte sie fröhlich durch die Luft und ließ sie krachend gegen jede Straßenlaterne, an der er vorbeikam, donnern.
Niemand kam ihm in die Quere[35] – die Kette vollführte wunderbare, schwere Kreise, und wäre nicht dieser verrückte Wirbel ringsum gewesen, hätte man das leise Heulen, das die Kette durch die Kreisbewegung erzeugte, hören können.
In der Auslage des Kleidergeschäftes standen feingliedrige Puppen mit kleinen Köpfen – Schönheiten in Miniröcken und grellen Blusen.
Als das Schaufenster zertrümmert war, wurden die Schönen herausgeholt und in Einzelteile zerschlagen. Die zuletzt Davonlaufenden erschraken beim Anblick der am Boden herumliegenden verunstalteten, bein- und kopflosen Körper.
Trotz allem war es der Miliz offenbar gelungen, einen Teil der Kolonne des »Sojus« abzutrennen und hinter der Absperrung zu halten – Sascha sah, dass nur wenige der Jungs übriggeblieben waren, im Ganzen vielleicht zweihundert Mann. Viele verdünnisierten sich schon in die Höfe hinein, sie verstanden: Das Fest würde nicht mehr lange anhalten.
»Die Bullen!«[36], wurde irgendwo gebrüllt, die Meute drängte die Straße hinauf, schmiss Mülleimer um und warf Schaufenster ein.
Unablässig war das Klirren von zerschlagenem Glas zu hören. Die an diesem Morgen vermischten und fein zermahlenen Farben der Stadt wurden unverhofft grell.
Journalisten huschten durch die laufende Menge mit ihren Videokameras – höchst geschäftig, und, wie es schien, glücklich über das, was vorging.
»Hierher! Schneller!«, trieb ein Kameramann einen Menschen mit Mikrophon an.
Sascha ging mit klarem Kopf vor, andere Gefühle als den Wunsch, zu zerstören und möglichst viel zu zertrümmern, verdrängte er.
Auf der Straße sah er Plüschtiere herumliegen, die als Preis im zertrümmerten und umgeworfenen Spielautomaten aus Glas gedient hatten – rosa und gelb, erbärmlich, als wären sie verloren worden.
Irgendwoher kam ein kleiner Major, der schon im Pensionsalter war, den Jungs entgegengelaufen.
»Stehenbleiben!«, rief er, und schon seinem Schrei war anzumerken, dass er selbst absolut entsetzt war und eigentlich nicht wollte, dass irgendjemand auf ihn hörte.
Ihm entgegen rannte Wenja, der – ohne innezuhalten – in die Luft sprang und den Major gegen die Brust trat. Der fiel um und streckte die Arme von sich.
Sascha blieb abrupt neben dem alten Major stehen, unterdrückte sein Verlangen, ihn aufzurichten, ihm aufzuhelfen, sich sogar zu entschuldigen.