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Die Frau des Alten brüllte die Gefangenen jeden Morgen an: von wegen, sie würden ihre Ziegen melken! Sie widersprachen ihr nicht. In Wirklichkeit waren es die Schäferhunde, zwei gewaltige Biester, die die Ziegen aussaugten. Der eine biss der Ziege in den Hals, und während sie weinte, bearbeitete der andere das pralle Euter, das wie eine Glocke an ihr baumelte.

Der Sohn des Alten war gebildet, sprach gut Russisch. Die Enkelin des Alten hatte erzählt, ihr Papa sei Leiter des Kulturhauses in einem der Dörfer unten. Wenn er seinen Vater besuchen kam, schimpfte er auf die Gefangenen. Sagte, sie gehörten erschlagen, weil sie kein Haus bauen würden, sondern aufeinandergetürmte Bienenstöcke.

»Das soll ein Haus sein?!«, brüllte er. »Antwortet gefälligst! Das ist Irrsinn, die Kopfgeburt von Idioten! Wir sind doch hier nicht in Barcelona! Vater, was machst du bloß? Schmeiß sie raus!«

In der Scheune verstreuten die Ziegen ihre Köttel, pissten alles voll und gingen manchmal ohne jeden Anlass[25] aufeinander los, man musste sie bei den Hörnern packen, zu Boden werfen, mit den Füßen in die bebende Flanke treten: ihnen Benehmen beibringen. Die resolute Alte versorgte die Gefangenen mit Knoblauchlinsensuppe. Der Alte gab reichlich selbst angebauten Tabak aus und einmal pro Woche eine Streichholzschachtel voll Haschisch.

Der Rausch stumpfte ab und ließ die Zeit schneller vergehen. An Flucht dachten sie, wenn überhaupt, nur als eine anstrengende Unannehmlichkeit.


Nach einem Jahr führte er sie vor das Dorf, gab jedem eine Streichholzschachtel und einen Beutel mit alten Zeitungen und Brot. Er zeigte auf den nächsten Berg und krächzte etwas.

Weit kamen sie nicht, schleppten sich mit Müh und Not[26] zurück. Da führte der Alte sie mitten in der Nacht irgendwohin.

Der Mond bog langsam ihren ausgeklügelten Weg zurecht. Sie kamen an einen Wiesenhang. Vor ihnen bäumten sich tosend waldige Bergsilhouetten auf. Der Alte rief etwas, rannte den Hügel hinunter und verschwand im Wald. Da legten sie sich in den Tau und schliefen bis zum Morgengrauen.

Um Siedlungen machten sie einen Bogen. Ernährten sich von Kastanien und Nüssen. Wenn sie Wildschweine hörten, harrten sie auf einem Baum aus.

Eine Woche später knallten und rissen abends Schüsse durch den Himmel.

Lange spähten sie – was war das?

Plötzlich schoss ein Hubschrauber unter einem Steilhang hervor. Sie erstickten fast, taumelten vor Schreck, die Druckwelle überrollte sie.

Die Maschine stand still, flog auf sie zu.

Sie stürzten den Abhang hinunter, sprangen zur Seite und sahen sich um.

Die Flugblätter knallten, darüber ein nebelgraues Kräuseln, der Wind schob in Wogen die Luft weg, der Druck nahm einem den Atem.

Ein Maschinengewehrlauf fuhr herum.

Den Kumpel erwischte es. Wadja fiel nach ihm um. So war er nach Tschetschenien geraten. Man registrierte ihn als befreiten Gefangenen. Wadja trägt immer noch in Folie den Zeitungsfetzen bei sich, worin die Befreiung dreier russischer Bürger vermeldet wird, darunter auch Beljajew, Wadim Sergejewitsch, geb. 1972 im Dorf Strelezkoje, Gebiet Astrachan.

Mit diesem Papier bereiste Wadja das ganze Land, angefangen in Mineralnyje Wody. Dort erklärte er Touristen am Bahnhof, er wäre hier zur Kur, bisschen Heilwasser trinken, mit einem Ferienscheck vom Rehabilitationsprogramm für Armeeangehörige, um sechs Uhr früh aus dem Zug gestiegen, aufs Klo gegangen, und plötzlich – paff! – mit dem Schlagring eins auf den Hinterkopf; er wär wach geworden – alles weg: Brieftasche, Jacke, Schuhe; jetzt würde er in ausrangierten Waggons herumlungern, die Bullen kennen kein Erbarmen, schlimm ist das.

Nun denn, die Touristen schmieren den Schaffner, stecken ihnen noch ein paar Kröten zu, führen Wanja zum Zugrestaurant, spendieren Speis und Trank und stellen verlegen Fragen über seine Gefangenschaft. Wadja trinkt, isst was hinterher, wie es sich gehört, und berichtet mit Bedacht.

So reiste er kreuz und quer durchs Land, tauchte ein ins Leben der Endbahnhöfe, schlief und hauste in dazu umfunktionierten Eisenbahnwaggons voller Menschen, für die der Weg zum Zuhause geworden war – bis er Nadja begegnete.

Nadja tauchte in Toksowo* auf, wo man ihn aus dem Zug geworfen hatte. Der Zug war gerade erst aus dem Bahnhof gerollt, Wadja klopfte sich kurz den Dreck ab und lief zurück, einen Schlafplatz suchen.

Der Bahnhofsvorsteher hetzte die Bullen auf ihn: »Soso, du hast also deinen Zug verpasst? Ich verpass dir auch gleich eine. Kapiert?«

Er bekam leichte Prügel, am nächsten Morgen lief er dann durch die verlassene Stadt, die ganz krumm und schief war, vorbei an alten Datschen mit durchgerosteten Dächern, warf einen Blick hinter die Zäune, drehte sich immer wieder um und prägte sich den Rückweg zum Bahnhof ein. Über eine gebrochene Zaunlatte kletterte er in einen verwilderten Garten, kroch auf den Knien herum und sammelte honigfarben schimmernde Antonowka-Äpfel.

Die Sonne stand am Himmel, verschwamm in einem Nebelschleier, der sich von der Erde losgerissen hatte.

Die Apfelbäume standen bis zur Brust im Dunst. Am anderen Ende des Gartens stapfte ein altes weißes Pferd schlaftrunken auf einen dumpf zu Boden gefallenen Apfel zu. Zerkaute ihn krachend und wieherte.

Wadja schauderte, blickte um sich und machte sich erneut über das Fallobst her.

So aß er sich an den Äpfeln satt. Biss an einer weichen, angedetschten Stelle hinein und labte sich an dem Saft, am stumpfsauren Speichel. Dann roch er einfach nur daran, sog immer wieder den Duft ein, der sich nicht erschöpfte, und der Apfel erschien ihm unendlich kostbar.

Diesen Apfel aß er nicht auf, sondern steckte ihn in die Tasche. Er würde ihn später im Bahnhof auf die Fensterbank legen, im Warteraum. Wadja hatte so eine Angewohnheit: An einem hübschen Plätzchen etwas zu essen zu hinterlassen – das war seine Art zu teilen. Mit wem? Ob mit Gott oder mit den Menschen – er wusste es nicht, aber er teilte, so gehörte es sich.

Da tauchte Nadja auf. Der Apfelbaum war ihr Revier. Jeden Morgen kam sie hierher, sammelte die besten Früchte auf und trug sie zum Markt.

Nadja kam angerannt und schubste ihn. Er kippte zur Seite. Dann kniete sie sich ins dichte, feuchte Gras und sammelte auf allen Vieren[27] flink ihre Früchte ein, wischte mit dem Handrücken die Nacktschnecken ab und stapelte die Äpfel zu kleinen Haufen.

Wadja konnte nicht mithalten, er setzte sich zu einem der Häufchen und suchte sich die weicheren Äpfel aus, das waren ihm die liebsten. Nadja kam angekrabbelt und klopfte ihm auf die Schulter.

»Schnorrer! Ein Schnorrer bist du.« Sie lachte.

In Sankt Petersburg verkauften sie zwei Beutel Äpfel.

Dann ging es mit Vorortzügen nach Moskau.

Nadja

IX

Nadja war beinahe stumm. Es fiel ihr derart schwer, ihr Inneres auszudrücken, dass sie vor lauter Qual den Kiefer immer stärker zusammenpresste und manchmal plötzlich mit den Händen losfuchtelte: Vielleicht wollte sie etwas zeigen, vielleicht dem Gesprächspartner etwas einbimsen[28], was für sie selbst so klar und wichtig war. Es kam vor, dass Wadja dabei wirklich eine abkriegte, und das tat dann richtig weh. Nadja, nur noch mehr außer sich, lief ein Stück, atmete schwer, trat von einem Bein aufs andere, als würde sie es eilig haben wegzukommen, und blieb dann plötzlich stehen, fuchtelte mit den Armen und bewegte schnell gestikulierend die Finger.

Was Wadjas Lebensweg bestimmt und unwillkürlich Nadjas Herz erobert hatte, war seine Liebe zu Wladimir Wyssozki* und Viktor Zoi*. Fast alle Lieder des Ersten (Wadja nannte ihn kumpelhaft Semjonytsch) kannte er seit seiner Kindheit, von den Aufnahmen, die er, einen tragbaren Kassettenrekorder der Marke Wesna auf der Schulter, mit den anderen Jungs gehört hatte. Die Musik von Zoi hatte Wadjas Berufsschulzeit aufgehellt.

Die Lieder von Wyssozki sang er nicht, er brummte sie. Brummte sie in der Gefangenschaft und auch, als er schon mit Nadja ging. Insbesondere mit ihr. Er tat es selten, genierte sich. Im Park oder auf dem Bahnhof entfernte er sich immer ein Stück, hinter die Büsche, ans äußerste Ende des Bahnsteigs, wo er dann, als wollte er Geister beschwören, einfach losbrummte, ohne bestimmte Tonfolge, aber dann sang er sich ein, sein voller Bariton gewann an Kraft und Tiefe, und heraus kam weniger eine Melodie als ein rezitatives Muster, das mit dem bekannten Lied gar nichts zu tun hatte, es aber auf einmal von einer anderen Seite zeigte, auf ganz andere Art seine durchdringende Dramatik offenbarte, als würde die Bedeutung der Worte bloßgelegt, die nunmehr ihres melodischen Schmiermittels beraubt waren.

Es war erstaunlich, wie aus Wadjas unbeholfener Interpretation eine regelrechte Neuinszenierung dieses Liedes wurde. Nadja wusste das zu würdigen und lauschte mit offenem Mund.

Danach klopfte sie ihm auf den Rücken und sagte:

»Du Künstler!«

Doch er ließ sie nicht gleich an sich heran, auch sang er niemals, wenn sie ihn darum bat – da winkte er ab, wurde wütend, schnauzte sie an und ging für sein Gebrumme ein Stück von ihr weg, weil er sich schämte oder weil es für ihn eine Art heiliger Akt war. Und erst später, wenn er sich in das meditative Singen der großen Dichterworte versenkt hatte, wenn er seine Wachsamkeit eingebüßt und sich mit halbgeschlossenen Augen hingesetzt hatte – erst dann schlich sie sich zu ihm hin und erstarrte hingerissen. »Das Segel! Das Segel ist gerissen!«, sang er beispielsweise, »Parus! Porvali parus!«, wobei er nahezu jede Silbe einzeln hervorstieß, mit überraschenden Eskapaden, und es war unbegreiflich, woher er die Luft nahm.

X

Die Lieder von Viktor Zoi hingegen sang er nie, nicht ein einziges Mal. Aber sie gingen oft zur Zoi-Mauer am Alten Arbat* und hörten sie sich an. An dieser mit Gedenkminiaturen vollgekritzelten Backsteinmauer versammelte sich die umherziehende Jugend aus nahezu allen Ecken des Landes. Die jungen Leute waren freundlich, manche von ihnen sogar beseelt. Es bestand immer die Chance, dass sie einem etwas zu trinken ausgaben – solange man nicht frech wurde, sondern sich nützlich machte und freundschaftlich verhielt.

Im Sommer ging es an der Mauer lustig zu: Aus dem ganzen Land zogen die Leute Richtung Süden, ans Meer, und Moskau war der Umschlagplatz. In der Ferienzeit trieb sich die Zoi-Gemeinde größtenteils auf der Krim herum, wo sie auf den Tatarenmärkten zu Füßen der Urlauber auf der Gitarre klimperten und im Takt dazu Metallbecher mit Münzen schwenkten. Welcher seelische Schneesturm diese jungen Leute von einer Stadt in die andere trieb – per Anhalter von Ufa nach Petersburg, von Petersburg nach Moskau, von Moskau nach Nowosibirsk –, war unklar. Wadja dachte gar nicht darüber nach. So wie man nicht über seine Gliedmaßen als einzelne Teile nachdenkt. In seiner Vorstellung war das ganze Land unterwegs, schwärmte aus, streunte umher – und nur Moskau schwoll an in seiner Immobilität, durch etwas Mächtiges, das im feindlichen Gegensatz zur Natur stand, über die er zwar auch nichts wusste, aber aus irgendeinem Grund war es für ihn stimmiger und daher angenehmer über sie nachzudenken als über die Menschen.

Es gab nicht wenige junge Leute, die für Wochen, gar Monate mit Gitarre und Portwein am Arbat hängenblieben und die Nächte in einer der zahlreichen leeren Wohnungen im Stadtzentrum verbrachten, in den Häusern, die instand gesetzt werden sollten. Damals standen ganze Straßenzüge nahezu leer – die Pjatnizkaja, die Ostoshenka, der Zwetnoi- Boulevard mit seinen Nebenstraßen. Die Stadt konnte einfach kein Geld für die Sanierung auftreiben. Die ehemaligen Bewohner hatten Möbel und Hausrat großenteils zurückgelassen. Manchmal war auch das Türschloss noch intakt[29], und darin steckte der Schlüssel zu einer Zukunft, die gerade zusammenbrach.

XI

Nadja und Wadja hatten zunächst im ehemaligen Wohnheim des Innenministeriums in der Nähe vom Zwetnoi-Boulevard ein Plätzchen gefunden. Es war ein langgezogenes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das über die ganze Länge hier und da in Wellen durchhing, fast wie im Hohlkreuz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es das Madrid gewesen, ein billiges Hotel, und verfügte deshalb über ein tristes Korridorsystem. Ein elend langer fensterloser Tunnel wand sich in kleineren und größeren Kurven über mehr als hundert Meter, beleuchtet lediglich von drei trüben Glühbirnen, von denen eine so gut wie kein Licht gab, da sie hinter einer Biegung lag. Nadja fürchtete sich vor dieser Ecke und zerrte Wadja jedes Mal mit, wenn sie auf die Toilette musste. An einigen Stellen lugten im Licht eines Streichholzes Wandmalereien zwischen den abblätternden Farbschichten hervor, wie Fetzen blauen Himmels durch Wolken. Eine im Lubok-Stil* gemalte Spanierin mit großen Augen und einem Fächer war da zu sehen. Ganz in der Nähe war das Vorderteil eines Stiers freigelegt, man sah seinen zur Seite geneigten Kopf mit dem rasenden bordeauxroten Auge. Beim Inspizieren der Korridorwände brannte Nadja eine ganze Schachtel Streichhölzer ab. Mit einem kleinen Holzkeil holte sie die Spanierin unter dem Putz hervor und entdeckte runde rote Schuhe mit dicken Absätzen und blütenweiße Rüschen, die unter einem düsteren lilafarbenen Rock hervorschauten.

In vielen Zimmern lagen Berge von Bauschutt, über die man nur schwer ans Fenster gelangte (man musste sich in geduckter Haltung dicht unter der Decke entlangdrücken); die beiden brachten es tatsächlich fertig, auf der breiten Fensterbank Kopf an Fuß und Fuß an Kopf zu schlafen.

Ein buntes Völkchen hauste in dieser Ruine. Jeder lebte sein eigenes Leben, und im öligen Schummerlicht des Korridors, in dem sie misstrauisch aneinander vorbeischlichen, wirkten sie wie Gespenster. Manchmal erschrak Nadja vor einer Gestalt, die sich von der Wand löste, oder vor einer starren, die sich nicht bewegte – oder als plötzlich die nächste Tür gewaltsam aufflog, ein Schrei ertönte und von dort, die Arme unkontrolliert hochreißend und die Tür, die Gerümpel und einen nackten Körper offenbarte, zuschlagend, ein akkurat gekleideter junger Kerl mit weißen Pupillen und verstörtem Gesicht herausschoss …

Dann zogen sie an den Petrowski-Boulevard.

Von den Kommunenkünstlern mit den vor Glück wild funkelnden Augen, auf deren Etage Nadja und Wadja hausten, bekamen sie den Spitznamen »Elefantis«. Sie hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Offenbar hingen sie in den Augen der mit reger Fantasie gesegneten Künstler träge herum wie niedliche Dickhäuter.

Die Decke war an den Stellen, wo der Putz herunterkam, mit Tarnnetzen abgehängt. Nadja ging allen bescheiden aus dem Weg und setzte sich stets in die dunkelste Ecke. Saß da tagelang, unbemerkt wie ein stilles Mäuschen, verdeckte mit der Hand die glänzenden Augen. Und lächelte mal verlegen oder errötete glühend in plötzlicher Scham.

Putzbrocken fielen in das durchhängende Netz. Das dünne junge Mädchen im langen schwarzen Kleid, das mit einem Bildband in der Hand auf der Fensterbank saß, zuckte zusammen. Nadja betrachtete hingerissen ihre fließende Figur, die auf die Schenkel gelegten Arme, und träumte davon, was die Seiten dieses für sie unsichtbaren Buches wohl bargen – stürzte dann plötzlich zum Sofa, fegte mit der Hand die Putzbröckchen herunter und setzte sich wieder in die Ecke. Dann knarzten wieder die Seiten des dicken Glanzpapiers.

Ein anderes Mal kam plötzlich ein Mädchen ins Zimmer gerauscht, packte mit der einen Hand den Maler Benja am Arm, mit der anderen wühlte sie nervös in der Handtasche, die ihr von den Knien gerutscht war, suchte nach Zigaretten und sah Nadja scheel von der Seite an.

Doch Benja beruhigte sie:

»Schon gut, die gehören zu uns, die sind okay.« Worauf das Mädchen vielsagend schnaubte, ein Streichholz anriss und hervorstieß: »Kuibyschew ist auf Meth!« und sich sofort schnaufend in dichte Rauchschwaden hüllte.

Benja, ein rothaariger Bursche mit Killergesicht, schüttelte den Kopf und ging ins Nebenzimmer, um weiter seine Collagen zu kleben: Wie rasend marschierte er auf und ab, hastete an der Wand entlang und hielt hier und da einen Schnipsel an, um den Kontrast zu prüfen. Er schnitt sie aus farbigem Papier und aus Zeitschriftenabbildungen zurecht, aus Etiketten, Stoffstücken, Federn von Pinguinen und Eiderenten, aus Birkenrinde, Pappe und Wespennestern. Auf seinen großflächigen, schillernden Collagen tummelten sich Raketen und Kosmonauten, Häuser und Kirchen, Traktoren und Türme, Felder und Himmel, Fische und Menschen, Blumen und Dämonen.

Nadja liebte es, Benja zu beobachten, dessen Beschäftigung sie so gut nachvollziehen konnte. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Banknachbarin früher mit der Schere geklappert und Samtpapier zerschnitten hatte …

XII

Wadja hing nicht gerne bei den Künstlern herum. Er kam gegen Abend und traf Nadja beim Tee an, mit dem Benja sie stets bewirtete. Auch für Wadja fiel von Zeit zu Zeit[30] Tee und Zwieback ab. Der wunderliche Benja stellte ihm eine Tasse hin, beugte sich gewaltig zu dem gedrungenen, großköpfigen Wadja hinab, schaute ihm in die undurchdringlichen Augen und fragte drohend:

»Was ist? Bist du auch gut zu deinem Mädchen? Ich warne dich! Mach hier keinen Ärger.«

Nadja wand sich, er hatte so eine laute Stimme, doch Wadja tat, als hätte er ihn nicht bemerkt, als würde dieser Benja für ihn nicht existieren. Wie ein kleiner Bronze- Buddha saß er da mit seinem hohen, welligen Haarschopf, machte einen Buckel und schlürfte mit seinen dicken Lippen pfeifend den Tee.

Eine der wichtigsten Figuren in dieser halblegalen Kreativgemeinschaft war ein Musiker, ein Gitarrist. Die Seiten zupfend, patrouillierte er mit der Gitarre durch die riesige Wohnung, schleifte dabei das Kabel hinter sich her, das ihn mit den weiter entfernt stehenden Boxen verband, die im Takt mit dem Tonabnehmer klirrten und schepperten.

Außerdem lebte dort noch ein unglaublicher Typ, der Nadja zu Tode ängstigte. Wadja hingegen empfand ihm gegenüber eine schwer erklärliche Vertrautheit. Er war ein kleiner, schüchterner Mann mit fahlem, spärlichem Haar und harten Gesichtszügen. Mit einem Auge schielte er schrecklich, und wenn er ging, schwankte er unsicher auf seinen krummen Beinen. Um die Stirn hatte er einen Stoffstreifen gebunden, auf dem, sorgfältig mit Kugelschreiber gemalt, ein verzweigtes Schriftzeichen prangte.

Das eben interessierte Wadja. Zwei Wochen hielt er an sich, dann konnte er nicht mehr. Als Adlerauge (so nannten sie den Mann) an der Stelle vorbeiging, wo Wadja hockte, zog er respektvoll die Brauen hoch und sagte:

»Hör mal, mein Freund, ich frag mich schon die ganze Zeit: Was leuchtet denn da auf deiner Stirn?«

Adlerauge hockte sich folgsam zu Wadja, verschränkte die Beine im Lotussitz, tippte sich mit dem Finger an die Stirn und sagte heiser:

»Das ist der Buchstabe der Elemente. Es steht für Yin und Yang.«

Wadja riss die Augen auf. Adlerauge rührte sich nicht und fügte dann vielsagend hinzu:

»Sehr kompliziert.«

»Erzähl schon, rück raus mit der Sprache.« Wadja nickte ihm zu und legte die Hand ans Ohr.

»Also Folgendes. In jedem Punkt des Universums gibt es Yin und Yang. Weiß und Schwarz. Und die kopulieren. Schau her.« Adlerauge machte mit den Ellbogen ein paar Wellenbewegungen und nickte. »Und so machen sie es an jedem Punkt der Sphäre unseres Daseins. Da. Und dort. Und hier auch. Im Weltall. Überall. Das Weiße – das Yin – befruchtet das Schwarze – das Yang. Und umgekehrt. Das Glück hängt davon ab, wie oft sie es tun.«

Wadja schob Adlerauges Finger beiseite, der die Sicht auf die Hieroglyphe nahm.

»Das heißt, die kopulieren da so richtig?«, fragte Wadja misstrauisch und versuchte zu erfassen, welches bei seinem Gesprächspartner das richtige Auge war.

»Ja. Aber das Leben, das Glück hängt von der Frequenz ab. Wie schnell sie es machen.«

Adlerauge wandte seinen Blick dem Musiker zu, der mit der Gitarre in der Hand in den Korridor gestürzt kam.

»Red weiter, mein Freund, ich höre«, bemühte sich Wadja höflich.

»Die Frequenz muss folgende sein: eins geteilt durch h quer, das reduzierte Planck’sche Wirkungsquantum.« Adlerauge senkte die Stimme, beschrieb mit der Hand eine gleichmäßige Zickzacklinie und durchkreuzte diese mit der Handkante. »Das ist eine sehr hohe Frequenz.« Er hob vielsagend den Finger.

Wadja strich sich zerknirscht mit der Hand über die Haare und sagte gedehnt:

»Verstehe, Freundchen. Na, ich geh dann mal. Pass auf dich auf, mein Freund. Machs gut.«

Wadja schlug sich aufs Knie und stand auf.

Der Gitarrist setzte sich schweigend zu Adlerauge, traktierte mit leidender Miene das Griffbrett und nickte mit geneigtem Kopf zum Zimmer mit den Boxen hinüber, die bei seinen klirrenden Passagen mitjaulten.

XIII

Wenn Nadja lange allein war, nahm ihr Gesicht nach und nach einen dümmlichen Ausdruck an – ihr Blick wurde starr. Und wenn sie sich mit Mühe an etwas zu erinnern versuchte, wurde sie blass und sah bestürzt drein, oder sie wurde rot und ihr Blick gequält, wie bei jemandem, der einen starken Schmerz unterdrückt. Alleine versuchte Nadja so schnell wie möglich einzuschlafen. War sie sich selbst überlassen, plagte sie eine elende Beschwernis, was sich in einer unsäglichen Unruhe äußerte, zu drängend, um innerlich mit ihr fertigzuwerden. Wenn es mit dem Einschlafen nicht klappte, versuchte sie zu lesen. Sie las Silbe für Silbe alles, was ihr unter die Finger kam – Etiketten, Quittungen. Sie las verbissen, atmete schwer, bewegte lautlos die Lippen, beinahe ohne innezuhalten; sogar Zeitung las sie. Sie riss die Augen weit auf, blinzelte, drehte den Kopf, wandte eine Zeit lang den Blick ab und glich die Wörter mit ihrem Verstand ab.

Oktober*

XIV

Bei den Künstlern blieben sie bis zum Herbst, und als es kalt wurde, fanden sie im Presnja-Viertel einen warmen Dachboden. Der war niedrig, der Boden mit feinem Kies bestreut; man musste auf allen Vieren zwischen den mit Glaswolle umwickelten Heizungsrohren hindurchkriechen, inmitten umhertrippelnder, dumpf gurrender, flügelschlagender Tauben, die einem in der unbequemen Enge immer wieder heftig flatternd gegen die Hand schlugen, gegen Ellbogen, Bauch oder Knie. Auf dem Dachboden wurde vergessenes Gerümpel aufbewahrt: Holzschiffchen, Kreisel, Abakusse, ein Regal, auf dem vertäute Zeitschriftenpacken und von der Feuchtigkeit aufgequollene Bildbände lagen. Doch es war warm, und durch das Dachfenster konnte Nadja den ganzen Tag auf den Fluss schauen, auf die Gebäude der Trjochgorka-Fabrik*, auf die Höfe, die mit ihren Mauern wie Theaterränge die Anhöhe emporkletterten. Zu diesem Zweck hatte sie die Scheibe mit Zeitungspapier abgerieben, bis sie schimmerte wie Bleiglas.

Die Höfe und der Park beim Gebäude des Obersten Sowjets, einem großen weißen Haus, waren erfüllt von mattem zerstreutem Sonnenlicht, gelben Blättern und leicht bitterem Dunst. Die Tauben girrten, leierten, besprangen einander, hasteten umher oder schliefen, den Kopf unter den Flügeln. Jenseits der Brücke war im diesigen Morgenlicht die Flussbiegung zu sehen; auf der silbrig glänzenden Wasseroberfläche blitzten hier und da scharfe Kanten auf, flogen empor und erfüllten die Luft mit sattem Glanz. An der Uferstraße, unterhalb des pyramidenförmigen Hochhauses*, zitterten die Linden und streuten bunte Blätterschleppen auf die plötzlich gekräuselte Wasseroberfläche des Flusses.

Von den Bildbänden wählte Nadja einen über Matisse. Sie blätterte darin herum und stieß dabei auf das Offene Fenster. Tagelang betrachtete sie ständig dieses Bild. Den dargestellten Blick aus dem Fenster auf das Meer und die Segelboote stellte sie vor sich auf wie eine Ikone. Für sie war der Bildband so heilig wie ein Gotteshaus.

Anfang Oktober passierte etwas: Panzer fuhren vor dem Weißen Haus* auf, Männer mit Maschinenpistolen rannten umher, an der Uferstraße standen Rettungswagen aufgereiht, eine Menschenmenge strömte zur Brücke.

Wadja hatte die ganze Nacht und den Morgen auf dem Kasaner Bahnhof verbracht und war nun auf dem Weg zurück zu Nadja. Die maue Zeit hatte er an der Gepäckaufbewahrung herumgehangen und mit einer Sackkarre auf Kunden gewartet. Die Karre mietete er bei einem Gepäckträger, seinem Kumpel Skorytsch, um sich etwas dazuzuverdienen. Skorytsch hatte ihm erzählt, die tadschikische Mafia würde sich das Gepäckträgergeschäft auf den drei Bahnhöfen allmählich unter den Nagel reißen. Die wären kein rempelnder Haufen wie unsere Idioten, die sich wie Welpen um die Milch ihrer Mutter kloppen, sondern würden den Leuten im Halbkreis geschickt auf den Leib rücken und sich das Gepäck greifen, bevor die noch wussten, wie ihnen geschah. Hatten sie einen Passagier, war einer von ihnen dran, immer schön der Reihe nach. Und das Entgelt steckten sie nicht ein, sondern gaben es alle in einen gemeinsamen Pott. Davon wurden die Löhne bezahlt, der Rest kam in die Notkasse. Jungs, denen die Eltern noch kein Geld in die Hand gaben, bekamen nur ein paar Münzen für Kleinkram. Der Anführer zahlte den Lohn einmal die Woche persönlich an den Vater oder die Mutter des Jungen aus. So jedenfalls hatte es Skorytsch erzählt, und nun war Wadja auf dem Weg zurück vom Bahnhof, eine unklare Erregung packte ihn, eine Bitterkeit und zugleich die fatale Gewissheit, dass sich an dieser sinnlosen Hoffnungslosigkeit, an dieser Scheißegalhaltung gegenüber dem Leben, in der sich die russische Nation suhlte, niemals etwas ändern würde.

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