Полная версия
Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
Skorytsch hatte, wie es so seine Art war, noch viel herumräsoniert in dieser Nacht. Er war ein alter, spindeldürr-drahtiger Mann, stets mit einem verschmitzten Kniff in den Augen. Alle seine Finger waren beringt mit Tätowierungen. Unter der Ablage seines Gepäckschalters stand eine Spiralkochplatte, auf der er sich Tschifir* braute und Schwarzbrotscheiben röstete, bis sie ganz verkohlt waren. Er biss ab, kaute und knackte, verzog den zahnlosen, eingefallenen Mund und schlürfte einen Schluck Tschifir hinterher.
Skorytsch liebte das Herumräsonieren in abgehackten Phrasen:
»Und ich zu Sojka: Was denn? Bin ich vielleicht ein Jude, dass ich alles nach Hause schlepp, oder was?! He? Da glotzt du nur, Nutte! Genau … glotz nur!«
Oder: »Nee, Junge, was ist schon ein Russe? Nix. Fliegendreck! Ein Russe kann mit leerem Magen nicht arbeiten. Erstens. Und mit vollem Magen will er nicht. Zweitens. Und du sagst: Unser Land …! Keine Ahnung hast du!« Skorytsch klopfte mit dem Röstbrot auf die Ablage und schlug dabei die verkohlte Rinde ab. »Du bist noch ein Küken. Ein echtes Küken.«
Die Panzer schossen, aus den Fenstern des Weißen Hauses stieg Qualm auf, überall sah man die orangen Wassertanks der Sprengwagen, die als Barrikaden aufgestellt waren.
Immer wieder knatterten MPs, und dann schwappte das dichte Menschengewühl wie die Fettschicht auf der Suppe zu den Hofeinfahrten des großen Eckhauses, zum Fluss, auf die Uferstraße.
Wadja geriet in einen Taumel, in Euphorie. In all ihrer Abstraktheit hatten Kampfhandlungen etwas Spektakuläres.
Die Panik verflog schnell, ebbte ab. Die in der Masse eingezwängten Menschen liefen zurück zur Brücke. Sie spähten, reckten die Hälse, stellten sich auf Zehenspitzen.
Die Wellenbewegungen der Menge zeigten, dass es irgendwo eine unsichtbare Quelle der Panik gab. Inmitten der Menschen wurde Wadja wie alle anderen von nackter Angst gepackt; dass man die Quelle nicht sah, war beklemmend, und eine grausame Leichtigkeit hing über dem Platz, dem Fluss und der Stadt.
Die Panzer gaben beim Wenden Gas, umhüllten sich mit graublauen Wolken und schwenkten die Geschütztürme. Von den flammenden Fenstern des Weißen Hauses stiegen schwarze Rauchsäulen auf. Geduckte Soldaten in olivfarbenen, Raumanzügen gleichenden Uniformen arbeiteten sich Stück für Stück zu den Seiteneingängen vor.
XV
Die Züge der Metro fuhren nur bis zur Haltestelle Puschkinskaja. Wadja lief die Bronnaja und Spiridowka entlang bis zum Gartenring*, wo er zwei ältere Ausländer einholte. Sie sahen sich um. Ein hilfloses, verängstigtes Lächeln lag auf ihren Gesichtern. Sie hatten einen Hund bei sich, einen Pudel. Der eine, ein Dicker im Mantel mit einer Damenuhr am behaarten Handgelenk, trug auf der Schulter eine Videokamera.
Hinter zwei dicht nebeneinander stehenden Sprengwagen hatten sich fünf Soldaten mit Stahlhelmen und Schutzwesten verschanzt und horchten gemeinsam auf die Befehle aus ihren Funkgeräten.
Der schwarze Pudel scharwenzelte zwischen den Beinen der Ausländer herum. Er trippelte, schabte über den Asphalt, nervös klackernd wie auf Zehenspitzen[31], und schaute sich immer wieder um.
Plötzlich kamen die Soldaten in Bewegung, liefen hinter dem Sprengwagen hervor, ließen sich auf die Knie fallen und feuerten mit ihren Maschinenpistolen auf die oberen Etagen des Hochhauses an der Ecke zum Arbat.
Wadja warf den Kopf in den Nacken und sah, wie die Fensterscheiben der oberen Etagen barsten, wie da oben Ellbogen, Köpfe vorbeihuschten; etwas blitzte, blinkte, Sonnenreflexe rieselten herab … Unendlich langsam fiel eine abgerissene schwarze Kunststoffverkleidung hinunter, segelte als funkelndes, schwingendes Parallelogramm zu Boden.
Mit einem Mal verstummten die Schüsse, und die MP-Schützen schlüpften einer nach dem anderen geduckt unter die Hinterachse des Sprengwagens. Der Letzte rutschte verbissen auf den Knien hinterher, das Gewehr an die Brust gepresst, und kippte um. Als hätte er keine Beine.
Irgendwo knallte es noch einmal – da preschte der Pudel auf die Fahrbahn, trippelte im Zickzack[32], blieb stehen, lief weiter, lief wieder zurück.
Der ältere Ausländer, mit einer dünnrandigen Brille und einem Seidenschal um den Hals, brummelte unentschlossen vor sich hin, setzte an und stürmte dann plötzlich dem Hund hinterher: lief quer über den Gartenring, streckte den Arm aus, pfiff, duckte sich, schaute hastig nach oben, nach allen Seiten, rannte zurück, aufgeschreckt von einem Schützenpanzerwagen, der vom Straßenrand auf ihn zurollte, und lief dann doch weiter. Fast hatte er ihn erreicht, da schaute der Hund sich um, zuckte zusammen, setzte an und wollte gerade in die Arme seines Herrchens stürzen, als sich das Geknalle für kurze Zeit wieder verstärkte; plötzlich flog der Pudel in die Luft, überschlug sich, streckte die Pfoten von sich, da flog etwas zur Seite, er hüpfte noch einmal hoch, auf der Stelle, auf drei Beinen – und landete auf dem Rücken. Der Ausländer ließ sich abrupt zu Boden fallen, schlingerte bäuchlings über den Asphalt, kroch schnell vorwärts, erstarrte, kam auf alle Viere, krabbelte los, warf dabei die Beine hoch und erreichte in Schlangenlinien wieder den Bürgersteig. Sein schmutzverschmiertes Gesicht war verzerrt, auf der Wange glühte eine breite Schürfwunde. Er atmete schwer und sagte kein Wort.
Drei behelmte Soldaten donnerten auf dem Bürgersteig vorbei. Zwei von ihnen zogen ein Dreibein hinter sich her, mit einer Gegengewichtsscheibe und einer Rotationsvorrichtung, die wie ein Teleskop aussah. Der Dritte bog sich tapsend unter einem großkalibrigen Maschinengewehr. Als sie die Brüstung einer Fußgängerunterführung erreicht hatten, stellten sie das Geschütz auf und begannen es auszurichten.
Der Dicke filmte immer noch, drehte an der Linse. Der andere drückte sich an eine Hausfassade und trat unentschlossen von einem Bein aufs andere. Sie hatten Angst, sich von den Soldaten wegzubewegen, aber auch Angst zu bleiben, selbst wenn das interessanter war.
Mit einem Mal kam von hinten ein Soldat angepoltert. Im Laufen kommandierte er:
»Alle in die Unterführung! Gleich beginnt der Angriff!«
Die Ausländer stürzten die Treppe hinab, Wadja hinterher.
Oben, hinter ihnen, krachte, knallte, donnerte es plötzlich, Druck legte sich auf die Ohren. Durch die ganze Unterführung hallte ein Tönen und Dröhnen, Staub rieselte herab.
Die Ausländer blieben unten, Wadja aber ging auf die Straße hinaus und schlug, ohne sich umzusehen, den Weg zum Fluss ein, zur Trjochgorka.
Die hohe klare Luft, das langsame, zerstreute Licht, voll silbriger Schwebeteilchen, floss andächtig über Moskau hinweg.
Immer wieder schossen laut heulende Rettungsautos unter der Brücke hervor auf die Uferstraße.
Menschen kamen aus dem Weißen Haus gerannt, sie liefen mit erhobenen Armen. Krankentragen wurden gebracht. An der Treppe hinab zum Fluss durchsuchten Soldaten die sich Ergebenden. Nach mehreren Schlägen auf den Hals und den Hintern, in die Rippen und den Magen stießen sie sie die Stufen zur Uferstraße hinunter.
Nadja hatte sich an die Tauben gewöhnt. Sie landeten auf ihr, schliefen auf ihr wie kleine Schiffchen, die Füße eingezogen. Als die Tauben unruhig wurden, schreckte sie hoch.
Die Luke öffnete sich ein wenig, ein Kopf tauchte auf. Die Tauben stoben auf, segelten herunter. Eine Taube landete auf der Luke, ließ Dreck herabplumpsen. Und flog wieder auf.
Eine Frau steckte ihren Oberkörper durch die Luke, stellte lautlos einen kleinen Koffer ab und stemmte sich hoch.
Ein kurzer Bob, Jeans, Lederjacke. Unter den Haaren war das weiße Spiralkabel eines Kopfhörers zu sehen.
Das von den Ritzen und schiefen Dachbalken gespaltene Licht zerlegte den Raum des Dachbodens in einzelne Scheiben.
Ein Lichtstreifen lief quer über Nadjas Brust, über ihre gekreuzten Arme.
Vorsichtig, jede Bewegung vermeidend, ließ sie den Blick an sich hinabwandern, legte die Arme neben sich, reckte das Kinn in die Höhe.
Und schaute mit weit aufgesperrten Augen an die Decke, nach oben. Wie tot.
Die Frau setzte ihr Gewehr zusammen, prüfte die Visiereinstellung, entsicherte die Waffe. Dann bemerkte sie Nadja.
Nach kurzem Nachdenken legte sie den Finger an die Lippen und öffnete mit dem Gewehrlauf die Fensterklappe.
XVI
Wadja bekam zunächst einen Schreck und lief auf der anderen Straßenseite am Haus vorbei, ging dann aber wieder zurück. Vor der Tür drängelte sich eine Gruppe Soldaten. Ein schnauzbärtiger Zwergmajor rüstete eifrig einen Elitesoldatenriesen aus. Sorgfältig, wie man ein Kind zum Winterspaziergang rüstet. Er zurrte ihm die Schutzweste fest, zerrte am Helmriemen, prüfte Granaten und Messer, nahm die Pistole aus dem Holster, öffnete das Magazin, schob es wieder hinein und reichte dem Soldaten die Waffe, der sie sich in die Hosentasche steckte. Der Major besah sich noch einmal alles. Dann schlug er ihm von unten gegen die Brust.
Der Elitesoldat salutierte und ging ins Haus.
Wadja kam näher, brummelte leise etwas zu den Soldaten, stürzte dann die Treppe rauf, wurde zurückgerissen, runtergetreten.
Er setzte sich auf die Bordsteinkante, griff sich mit den Händen an den Kopf, stand auf, lief eine Runde. Setzte sich wieder, schlug sich auf den Hals, stand auf, boxte mit der Faust in die Luft. Rannte los, stürzte ins Haus, sie stellten ihm ein Bein und schmissen ihn mit aufgeschlagenem Gesicht wieder hinaus. Oben knallte ein Schuss.
Und noch einer.
Ein Soldat mit einer MP vor der Brust kam mit großen Schritten auf Wadja zu, verjagte ihn von der Haustür, jagte ihn bis ans Ende des Häuserblocks, Wadja sah sich immer wieder um und lief weiter, wenn er ihm zu nah kam. Ringsum stand ein Haufen Gaffer.
An der Brücke schwenkten drei Panzer herum, änderten die Feuerstellung und stießen dabei kleine Rauchwolken aus. Sie stellten sich mit großem Abstand auf, eröffneten das Feuer. Dem scharfen Dröhnen des Schusses folgte das Klirren der auf den Asphalt geschleuderten Hülse.
Die Menge sirrte, ächzte, stürzte immer wieder los. Dem Weißen Haus schienen die Schüsse nichts anhaben zu können.
Irgendwann wurde Wadja von der Menge übermannt, fortgetragen, er musste mit, musste laufen, um nicht über den Haufen gerannt, nicht totgetrampelt zu werden. Das irrsinnige Gerenne und die alarmierten Gesichter verbreiteten in der Menge Angst.
Wieder donnerte ein Schuss, wieder klirrte eine Hülse und hüpfte blitzend auf der Brücke.
Die Angst hinderte Wadja daran, an Nadja zu denken. An der Auffahrt zum Weißen Haus spülte es ihn vor eine Hofeinfahrt, die von einem Sprengwagen verstellt war. Ein Soldat mit verängstigtem, schweißnassem Gesicht, das sich beinahe im Helm verlor, half den Menschen über die Rampe an der hinteren Stoßstange.
Wadja ging durch die Hinterhöfe zurück.
Eine Bahre wurde aus dem Haus getragen.
Sie stellten sie ab. Legten ein Gewehr und einen kleinen Koffer daneben.
Wadja kam näher. Die Soldaten rauchten. Der verschwitzte Elitesoldatenhüne hockte sich mit aufgeknöpfter Schutzweste neben die Bahre. Er zog an der Zigarette und schob das Wachstuch ein wenig zurück. Blies den Rauch aus. Spuckte seitlich aus. Zog das Tuch wieder hoch.
Der Zwergmajor hielt seinen Helm im Arm wie eine Schüssel. Er kurbelte an seinem Funkgerät, betätigte den Kippschalter. Hielt es ans Ohr.
Wadja hörte:
»Flieder, bitte kommen. Hier Weide. Mache Meldung. Einen haben wir erwischt. Einen Weißstrumpf*. Ja, eine Frau. Jawohl, keine Verluste. Ja. Ja. Im Gluboki Pereulok*, Tscherednitschenko … Jawohl.«
Ein Soldat führte Nadja die Treppe herunter und aus dem Haus.
Sie erkannte Wadja nicht. Langsam, wie im Schlaf, die Hand an den Hals gelegt, ließ sie den Blick über die Soldaten schweifen und stakste davon.
Wadja rannte ihr nach. Ging neben ihr her, rauchte in die hohle Faust.
Die Passanten drehten sich um, wenn sie Nadjas rundes, totes Gesicht sahen, die Schlichtheit ihres Leides.
Am Abend kehrten sie zurück. Betrunkene Soldaten wankten durch die Straßen. Von der tödlichen Gefahr erregt, zerstörten sie alles, was ihnen in den Weg kam. So ließen sie ihre Wut aus, die Wut auf sich selbst, über die eigene tierische Angst in diesen Tagen.
In der Nähe, am Filmmuseum, plünderten OMON-Soldaten* eine Trinkbude.
Einer von ihnen stellte ein paar Flaschen Wodka der Marke Wildes Tier auf dem Gehweg ab und fiel trunken taumelnd über sie her. Zwei andere pfiffen und schrien, er solle damit aufhören.
Nadja bekam eine Ohrfeige ab.
Wadja wehrte sich kaum, er duckte sich, wich den Schlägen halbherzig aus, murmelte:
»Schlagt drauf, Jungs, schlagt nur, aber erschlagt mich nicht, sachte, seid so gut.«
Der OMON-Soldat kämpfte wie eine Mühle – langsam, weit ausholend schwang er seine Fäuste und Beine. Es tat nicht weh. Irgendwann plumpste er auf Wadja wie ein schwerer Sack und fing an, ihn zu würgen. Seine weißen, leeren Augen sahen nichts.
Außer Atem gekommen[33] ließ er von Wadja ab, griff sich die klirrenden Wodkaflaschen und wankte seinen Leuten hinterher.
Nadja, die Unterlippe eifrig vorgereckt, half Wadja auf, führte ihn auf den Dachboden. Sie legte ihn hin, schmierte Taubendreck auf seine Schürfwunden und Prellungen.
Dann sah sie um sich. Sprang auf. Rieb verbissen die Blutspuren von der Wand am Dachfenster, mit Kies, Sand und Taubendreck, und zerkratzte sich dabei die Hände.
In der Nacht kamen die verschreckten Tauben zurück.
Gegen Morgen wurde es frostig, und an der Wand, zu der sich Nadja gedreht hatte, bildete sich ein kleiner Reiffleck.
Als sie aufwachte, tastete sie auf dem Bauch nach Matisse und schaute lange auf den nadeligen Stern, der in der schwelenden Morgendämmerung erglüht war.
XVII
Weder damals noch später unterschieden sie bei diesen Ereignissen Recht und Unrecht. Sie standen auf der Seite des Leides.
Überhaupt drang alles, was mit ihnen und um sie herum geschah, nicht bis in ihr Inneres vor, war etwas ihnen Fremdes, Aufgezwungenes. Alles Schlechte löste aus irgendeinem Grund bei ihnen Schuldgefühle aus. Das betraf in erster Linie Nadja. Wadja rebellierte von Zeit zu Zeit und schlug aus. Doch jedes Mal fühlte er sich am nächsten Morgen von Scham zerdrückt.
Wadja liebte die abstrakte Idee einer vom Volksgeist angezettelten Revolte. Koroljow hörte Wadja aufmerksam zu, hing derweil lächelnd irgendeinem eigenen besonderen Gedanken nach. Wadja fragte sich nicht, wer an dem Aufstand teilnehmen und wer ihn anführen würde und warum das Militär ihn eigentlich nicht sofort niederschlagen würde. Solche Details wusste Wadja ja selbst nicht. Er malte die Revolte aus mit Segmenten von Ungesagtem und Verweisen auf Unbekanntes. Besonders lange erzählte er von der Odyssee eines meuternden, mit mächtigem Geschütz ausgestatteten und uneinnehmbaren Schiffes, das unterwegs war, um – von der Peripherie zum Zentrum – im Menschen den gerechten Zorn zu entfachen.
Genauso sprach er auch über Ufos – ein weiteres Thema, das als mächtiges Nichts seine Fantasie peinigte. Neben vielen Fragen, die das Schweigen vermehrten, gab es bei Wadja auch einige Thesen:
a) Unser Staat verfügt über eine Mega-Geheimwaffe von derartiger Schlagkraft, dass, nachdem die Welt von ihr erfahren hat, überall das fette Leben Einzug halten wird. b) Bei der Revolte ist der Moment zu nutzen, wenn die Geschäfte geplündert werden (Mitzunehmen sind nur lange haltbare Lebensmittel wie Grieß, Salz, Konserven, Öl). c) Mit den Vorräten möge man sich in die Wälder von Brjansk aufmachen, bei Liwny, und nach den Orten suchen, an denen die Partisanen im Krieg ihre Stellungen hatten. Man möge die einstigen Lager und Erdhütten beziehen und dort auf die Zukunft warten. d) Die endgültige Zukunft war für Wadja untrennbar mit einer außerirdischen, vielleicht gar himmlischen, jedenfalls nicht näher definierten Großmacht verbunden, die sich mit den Führungsriegen der Revolte vereinigen würde, die zu diesem Zeitpunkt Begleiterscheinungen wie Finsternis und Gewalt bereits überwunden hätten.
Koroljow, dem klar war, dass er mit seinen aufgeklärten Gedanken kaum weiterkam als Wadja mit seinen barbarischen, antwortete folgendermaßen:
»Und ich sag dir, ein äußerer Aufstand bringt nichts. Der Aufstand muss im Inneren sein, nach innen gerichtet, und so durchschlagend, dass sich die Gedärme geradebiegen. Nur dann haben wir die Chance, zu unseren eigenen Kindern zu werden, zu Kindern unserer Idee: Wenn wir uns trauen, andere zu werden.
Die Straße
XVIII
Von da an hatten sie die Presnja in ihr Herz geschlossen. Dieses Moskauer Stadtviertel erwies sich als segensreicher Ort. Die Straßen wandelten sich zwar immer mehr zum Oberdeck eines Luxusliners (überall eröffneten teure Geschäfte und Restaurants, entlang der Uferstraße schossen Casinos, Bars, Lasterhöhlen aus dem Boden – da zeigte sich der von den staatlichen Behörden in dieses Viertel gelockte fette Prunk), dennoch gab es, tief drinnen, ein geräumiges Unterdeck für die dritte Klasse, eine Ladefläche, einen Kesselraum.
Schlafplätze fanden sich fast überall.
Sie schliefen im Planetarium, das wegen Umbau geschlossenen war. In der Kuppel klafften Löcher, durch die funkelnder Schnee herabrieselte. Im kelchförmigen Auditorium türmten sich die herausgerissenen Stuhlreihen. Über dem Podium schwebte der stromlose, lädierte Sternenhimmel, der einem gigantischen Tannenzapfen ähnelte. Mäuse raschelten in den schneeverwehten Ecken zwischen vergessenen Nebelfleckkarten.
Oder sie schliefen in ausrangierten Postzügen, die am Weißrussischen Bahnhof auf den Entladegleisen herumstanden. Ein wunderbarer Ort. Sie übernahmen das Heizen der Samoware in den Personenzügen, sammelten vor der Lagerhalle Kohlestückchen auf und brachten diese dann auf einem klapprigen Wägelchen zu den Schaffnern in die Waggons – für einen Laib Brot, für bahneigenen Weißzucker, für ein Kilo Kartoffeln.
Oder sie schliefen im Heizraum des Museums der Revolution von 1905*. Einer der Museumswächter, der nach einem komplizierten Dienstplan zur Schicht antrat[34], dessen Berechnung Koljanytsch selbstlos übernahm, war ihnen zugetan wie ehrbaren Museumsbesuchern.
Diese Nächte waren interessant und gut für Nadja. Wenn der Alte wieder Dienst hatte, kam Koljanytsch sie suchen, denn er wusste, dass der ein anständiges Publikum brauchte.
Fiks, so hieß der Wachmann, sah aus wie ein Tragejoch und verfügte über schauspielerisches Talent. Nachdem er seine Ration runtergekippt hatte, wartete er ungeduldig, bis auch seine Gäste in Fahrt kamen[35], dann ließ er sie die Schuhe ausziehen und scheuchte sie zur Führung.
Zahnlos vor sich hin nuschelnd führte er sie durch die Museumsräume, immer wieder erfasst von brummelnder Verzückung. Wie ein Kind, das versucht, die Redeweise der Erwachsenen nachzuahmen, entbrannte er selbstvergessen im revolutionären Eifer einer Museumsführerin, die sie nicht kannten.
Schlapp von Hitze und Alkohol standen sie da und hörten dem schmuddeligen Alten in seinen karierten Pantoffeln ergeben zu. Der schwache Koljanytsch döste oft ein. Wadja versetzte ihm eine Kopfnuss[36], woraufhin er einen Schritt vorwärts stolperte, aber danach hielt er sich wieder rund fünf Minuten lang aufrecht.
Dass sie hier bei dem verrückten Alten standen, war ihr Tribut für den warmen, sauberen Schlafplatz vor der Geräuschkulisse aus Hurrarufen, Schüssen, Salven und den klappernden Hufen der Kosakenhundertschaft, die vom Diorama der brennenden Presnja* kamen und dem Alten wie Engelsstimmen in den Ohren klangen.
»Fix, fix!«, sagte der Wachmann und winkte sie weiter, wenn er zum nächsten Teil der Ausstellung übergehen wollte.
XIX
Im Georgischen Viertel* standen zu dieser Zeit noch kleine, hundert Jahre alte Villen, Bürgerhäuser aus Holz mit steilen Außentreppchen. Einige von ihnen wurden als Aktenarchive oder Ersatzteillager der Wohnungsverwaltung genutzt, die restlichen standen leer. Eines dieser leeren Häuser befand sich in der Malaja Grusinskaja und war nur deshalb verschont geblieben, weil es von einem Hund bewacht wurde.
Irgendein Beamtenmensch von der Bezirksverwaltung hatte dieses Haus fürs Erste für sich beansprucht und im Hof eine gigantische Hundehütte aufgestellt, aus der, wie man bei ihrem Anblick meinen sollte, jeden Moment ein Bär mit glühenden Pflastersteinen in den Pranken herausspringen konnte.
Tatsächlich kam daraus ein Rottweiler hervorgeschossen und warf sich mit seinen ganzen vier Pud gegen den Maschendrahtzaun. Die Lefzen des Hundes besabberten das Zinkgeflecht, die Luft dröhnte, klirrte, bebte.
Nadja hatte vor Viechern keine Angst, und der Hund leckte ihr die Hände, während Wadja sich ängstlich vorbeischlich, die Außentreppe hochstieg und nach dem Klingeldraht tastete; auf das blecherne Klirren hin flog die Tür auf, und ein scheuer Schatten ließ sie mit dem Wind und einem Schwung wirbelnden Schneegestöbers hinein. Sie stapften die kalte Treppe hinauf in ein kaltes Zimmer, wo einige kaputte Stühle oder Kisten, die sie in einen kleinen Bollerofen warfen, eine halbe Stunde später den Luftklotz auftauten, die Fingerzweiglein, das Geäst der Arme, den verschachtelten Käfig aus ungeschickten Umschlingungen.
Aber dann wurde der Hund vergiftet und ihr Platz entdeckt.
Zuerst kämpfte Wadja gegen die Eindringlinge: Sie erwiesen sich jedoch als stärker. Doch bald darauf brannte das Haus sowieso ab. Und Koljanytsch mit ihm, der hatte es nicht mehr rausgeschafft; seine Kumpels kriegten ihn nicht wach, überall Rauch und Dunkel, die Flammen kriechen schon über die Wände, wie sollen sie ihn denn tragen?
Das war Ende November gewesen. Hoch über der Presnja glühte an diesem Morgen ein himbeerfarbener Sonnenaufgang. Und dann begann es zu schneien. Wie eine Ohnmacht.
Das Feuer wurde schon gelöscht, als sie ihr Haus verließen und die Straße zum Weißrussischen Bahnhof hinaufgetrottet kamen. Dort wartete am Blumenmarkt Arbeit auf sie: Abfälle aussortieren, nach draußen schaffen, auf einen Karren laden und zum Müllplatz am Frachtbahnhof bringen.
Der Schnee fiel in den Krater des verkohlten, qualmenden Hauses.
Die Feuerwehrleute rauchten. Nur einer hockte mit dem Schlauch an die Brust gepresst da und führte den Wasserstrahl hin und her, spritzte die Mauern ab. Wadja kramte eine Papirossa hervor und ging zu ihnen hin.
»Ist wer verbrannt?«, fragte er und ließ sich Feuer geben.
»Einen Ver-verkohlten gibt’s. Einen v-v-von euch«, stotterte ein dreckverschmierter Feuerwehrmann.
Wadja nickte und ging weiter. Nadja betrachtete gerade die Schneeflocken, die in ihrer Armbeuge gelandet waren. Sie hob den Arm, drehte ihn hin und her, um den Augen verschiedene Blickwinkel zu bieten, und freute sich an den glitzernden Fünkchen.
Sie hatte heute schlecht geschlafen. Hatte sich im Schlaf von einer Seite auf die andere geworfen, er hatte ihren Ellbogen an die Schläfe bekommen. Aber daran war er ja gewöhnt. Schon früher hatte es ihn nicht gestört, nur erschreckt. Jetzt aber war es eigentlich gar nicht mehr schlimm, kurz, er hatte sich daran gewöhnt – so dachte Wadja bei sich, und der Gedanke erfüllte ihn mit Zufriedenheit.
Die Menge der Gaffer zerstreute sich allmählich, aber es kamen immer wieder Neue: Ihre Gesichter bebten. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht, merkte Wadja, er sah plötzlich schlechter, und dann kippte alles jäh ins Weiße, die Augen fühlten sich seltsam an, schmerzten, und eins nach dem anderen verschwammen die Gesichter der Passanten.
Der Wasserstrahl schlug los, zischte, zerschnitt die Luft, brach verbrannte Scheite aus den Fensteröffnungen und Rahmen. Ringsum glich ein Gesicht dem anderen: Alle, die in die Feuersglut sahen, hatten denselben, gleichsam verkohlten Gesichtsausdruck. Ihre Lippen bewegten sich; sie liefen nicht weiter, sondern rückten zu einem Halbkreis zusammen, drängelten. Irgendwo ertönte Wehklagen, eine Frau schluchzte, die Menschen setzten sich wieder in Bewegung, nickten dabei. Wadja machte einen Schritt; da erschien im Reigen der Gesichter und Augen am Himmel, der als Dreieck wegkippte, über der Fläche der qualmenden Mauer Tante Oljas Gesicht und glitt vorbei. Sie sah ihn bekümmert an, mit einem traurigen, verstörten Lächeln, und löste sich dann in der Menge auf. Da verfiel Wadja in Laufschritt. Nadja kam ihm gerade noch hinterher und hängte sich bei ihm ein.
XX
Sie mieden die Straße so gut es ging, ganz umgehen konnten sie sie aber nicht: Die Straße war ihre Ernährerin. Von den großen Kellergemeinschaften hielten sie sich allerdings fern. Dort musste man sich wohl oder übel anpassen: Ab einer bestimmten Anzahl Menschen (wie viele, das hing von ihren jeweiligen Eigenschaften ab) verfestigte sich immer die Gewalt der Macht. Wadja aber liebte die Freiheit, für sich und für andere. Er liebte sie nicht intuitiv, nicht einfach so, und eben diese erarbeitete Freiheit, die für Nadja unerreichbar war, schätzte sie an Wadja – und er war für sie die letzte Stütze im Leben[37].