
Полная версия
Hann Klüth: Roman
»Das weißt du nicht?« wiederholte sie heftig, während sie auf der Steinplatte herumkratzte.
»Nein, nimm's nicht übel, Kleine, ich hab' nicht so genau aufgepaßt.«
»Schön, dann will ich dir's sagen. – Ich bin tausend Jahre alt,« platzte Line heraus und stieß ihn mit der kleinen Faust zornig vor die Brust. »So, nun weißt du's.«
Ihr Körper krümmte sich dabei zusammen wie der einer geschmeidigen Katze, mit einem Satz war sie von der Platte herunter.
»Ich geh nun nach Haus!«
»Dummes Zeug!« rief Bruno verblüfft. »Wozu? – Was soll das?«
Dennoch mußte er hinter ihr herrennen.
Sie wirbelte wie ein weißer Schatten durch den Klostergang.
Die Blätter raschelten zu ihren Füßen.
»Line – Donnerwetter – steh doch.«
Da war sie verschwunden.
Wohin?
Eingesunken, von der Erde verschluckt. Eine Sage ging, daß oft Namenlose, von denen keine Pergamente melden, ehemals bei den Mönchen so verschollen seien. Verwirrt blickte Bruno nach allen Seiten.
»Line,« lockte er nochmals.
Kein Laut!
Nur die Eichenkronen schüttelten sich und an dem bröckligen Mauerwerk lachte die Abendröte.
Ein Eichhörnchen hockte in einer Fensternische und zog ihm eine Nase.
Unvermittelt erhielt er im Rücken einen Stoß, so daß er vorwärts taumelte. Eine Baumwurzel krümmte sich vor seinen Füßen. Die ließ ihn stolpern.
Er kniete jetzt.
»So wird's gemacht,« klang hinter ihm Lines schadenfrohe Stimme, »du bist doch nicht klug genug.«
»Teufel nochmal, Ding; woher kommst du?«
»I, ich wollte dir bloß zeigen, daß ich auch manches kann, was du nicht weißt.«
Sie weidete sich einen Moment an dem Knienden und zeigte ihre weißen Zähne.
Plötzlich schrie sie auf.
Der Sekundaner war auf die Füße geschnellt und preßte mit einem festen Griff ihre Hände in den seinen.
»So,« forderte er atemholend, »nun bitt' ab.«
»Nein,« widersprach Line.
»Kleine, sei artig,« ermahnte der Lehrling. »Solche Wildheit muß dir abgewöhnt werden. Immer friedlich, Wurm.«
Allein sie sträubte sich, und er gab sie nicht frei. Bei dem Winden und Drehen stieg ihr das Blut in die Wangen, der geschmeidige Körper bog sich wie eine schlanke Gerte. Eine kurze Zeit, dann verließ sie die Kraft, und allmählich drängten sich ihr ein paar große Tropfen in die Augen.
»Tu ich dir weh?« forschte Bruno gespannt.
Line verbiß den Schmerz.
Er aber zog hastig seine Hände von ihr zurück und gab sie frei.
Merkwürdig – jetzt hätte sie entwischen können. Doch sie blieb und ging von jetzt an ruhig neben ihm her.
So waren sie bis an die niedrige, verfallene Feldsteinmauer gelangt, welche die Ruinen der Landstraße abschließt.
In der Abendsonne wand sich hier die Chaussee wie eine goldene Schlange vorbei, zur Seite schob der Wald seine dunklen Massen weiter ins Land hinein, und ganz hinten aus den nebligen Äckern, umquollen von den sich hebenden Abenddünsten, rollte unter undeutlichem Läuten die Sekundärbahn heran.
Bruno blieb stehen. Ihm kam der Gedanke, daß er das alles heute für lange Zeit zum letztenmal sehen würde.
Leise vor sich hinsummend, ließ er sich auf dem Mauerwerk nieder und starrte in die weite, nebeldampfende Ebene hinein. So merkte er erst nach einer Weile, wie das Mädchen unschlüssig neben ihm verharrte, weil sie sich scheuen mochte, in ihrem weißen Festkleid ebenfalls auf der schmutzigen Mauer Platz zu nehmen. Da zog er sie einfach an sich.
»Komm!«
Und ohne viel Umstände, kindlich und natürlich setzte sie sich ihm auf die Knie. Er schlug seinen Arm um sie, und sie rückte sich zurecht.
Nach geraumer Zeit erst äußerte der Sekundaner: »Das ist hübsch.«
Und Line nickte ernsthaft dazu und sagte: »Ja, das ist es.«
Dazu lag still und warm und rot die scheidende Abendsonne auf ihnen und aus den herbstlichen Bäumen raschelten braune Blätter auf ihre Häupter.
Da wandte sich Line nach ihm zurück. Als sie ihn ansah, bemerkte sie mit Erstaunen, daß in dem hübschen braunen Gesicht des Pflegebruders ein dunkles Schnurrbärtchen auf der Oberlippe zu sprossen begann. Das war ihr neu. Und aus ihren Augen und aus dem sich langsam öffnenden Munde sprach so viel Bewunderung, daß Bruno, der wohl fühlte, daß etwas Schmeichelhaftes für ihn darin lag, das kleine Ding plötzlich lachend und doch mit Hast an sich riß.
Sie sträubte sich gar nicht.
Ganz eng schmiegte sie sich an ihn, ja, sie verkroch sich geradezu an seiner Brust, so daß er deutlich empfand, wie weich und fest zugleich ihre Glieder sich fügten.
Eine schülerhafte, scheue Begierde stieg in ihm auf, auch ihren Mund zu berühren. Die roten Lippen leuchteten ihm so dicht!
Aber nein – nein, das wagte er nicht.
Es war überhaupt das erste Mal, daß er so kosend nah sich einem Mädchen fand. Und nun noch gerade diese! —
Nein!
Er schämte sich, fürchtete sich und lächelte doch ein wenig unwillig über sich selbst.
Ein merkwürdiger, angenehmer Schauer begann ihn dabei zu überrieseln. Und sie wand sich immer wohliger in seinem Arm. Noch war ihr unklar, warum, doch immer tiefer nistete sie sich bei ihm ein, blinzelte verstohlen zu dem Schnurrbärtchen empor und spann vor Freude, wie eine kleine Katze vor dem Schlummern.
Wieder wiegten sich beide einen fröhlichen Moment. – Dann surrte die Sekundärbahn mit ihren drei schwarzen kreischenden Waggons heran, und ein schriller, durchdringender Pfiff weckte beide auf.
Sie sahen sich an.
Dann mußten sie lachen. Keiner wußte den Grund.
Es war das Lachen zweier blutjunger Menschen, die sich entdeckt haben.
Aber sie wußten es nicht.
* * *Langsam schlich der Abend über die Landstraße. Rechts und links fing er in seinem schwarzen Sack die letzten Sonnenstrahlen, die wie goldene Mäuschen über den Weg huschten.
Überall stiegen Schatten an Mauern und Bäumen empor und griffen nach der Röte, die dort noch ruhte.
Die Sekundärbahn, die am Fluß entlang auf die Stadt zustrebte, fuhr wie in einen dunklen Tunnel hinein. – Nur ihre roten Augen, die sie auf dem Rücken besaß, glimmten noch eine Weile nach dem einsamen Paar zurück.
Da wand sich Line von Brunos Knien herab und streckte den Arm nach den roten, blinzelnden Augen aus. »Morgen abend bist du auch da drin,« begann sie beinah anklagend.
»Ja, morgen abend schlafe ich schon in der Stadt,« entgegnete er rasch.
Hastig atmete er dabei auf.
»Was wirst du in der Stadt anfangen?« fragte sie weiter.
Er sah sich um, ob ihn auch niemand höre. Dann schlüpfte ganz heimlich das Unterste, Verborgenste aus ihm heraus.
Der Traum, der tief in der Seele im verschlossenen Kämmerchen auf weichem Bette geschlummert, der stieg scheu und schämig auf die Erde.
»Reich will ich werden, Line.«
»Reich?«
»Sehr reich. Unermeßlich reich.«
»Wozu willst du das?«
Mit einem Ruck hatte er sie wieder an sich gezogen. Doch sie setzte sich ihm nicht mehr aufs Knie. Stehend, von seinem zitternden Arm umschlungen, während ihr Ohr fast seinen Mund berührte, hörte sie alles mit an, sog es in sich ein, was er ihr nun mit fiebernder Hast, mit ausbrechender, üppiger Knabenphantasie vormalte.
Ein eigentümliches Beben ging durch seine flüsternde Stimme.
Ja, das mußte jahrelang in ihm geschafft und gewirkt haben. – Was vernahm sie nicht alles? – Das Gold, das sei der Schlüssel zu aller Macht und Herrlichkeit. Diese blitzenden Goldstücke hingen wie Sterne über jedem irdischen Menschenhimmel. Manchmal regne es von dort oben in weiten Strömen. Dann wüchsen aus dem getroffenen Acker Schlösser, Paläste, Gärten mit seltenen Blumen, Kleider, Livreen, schnelle Pferde und die seltensten Braten hervor. Freilich, nur ein paar Auserwählte seien es, die das Geheimnis ergründet hätten. Hollander gehöre dazu. Der hätte es. Und von dem alten Manne müßte er es auch erlernen. Sonst käme er nicht wieder, ganz gewiß nicht, sonst stürze er sich irgendwo in die See, wenn er das nicht erreiche. Denn sonst lohne es nicht, zu leben. – Aber er würde es erreichen, jede Nacht beinah hätte er ja davon geträumt, ja manchmal hätte er ganz deutlich gehört, wie es vor seinem Bette seltsam geklungen und geklappert hätte.
Ganz deutlich.
»Klipp – klapp.«
»Das ist fein,« flüsterte Line, der es wie Feuer durch die Adern brannte.
Die schönen Kleider und die Schlösser hatten es ihr angetan.
»Ja, aber es ist schwer,« murmelte er bekümmert.
Nun tastete langsam der Mond über die Baumkronen herauf.
»Und wenn du dann reich bist?« forschte sie mit verhaltenem Atem weiter, »dann – ?«
»Ja, dann – «
Ganz berauscht, toll von dem Klang der eingebildeten Schätze preßte er die Stehende an sich, bis er die Schläge ihres erregten Herzens hämmern hörte. Seine Knabenaugen leuchteten in den ersten Mondesstrahlen gleich einem Paar prachtvoller Edelsteine.
»Kann ich auch reich werden?« forschte sie plötzlich mit aufwachender Gier.
»Du?«
Er lächelte.
»Warum lachst du? Warum schüttelst du den Kopf?«
»Du nicht.«
Da riß sie ihre Hand ungestüm von ihm zurück. Ihr Mund zuckte. »Warum nicht?« rief sie verzweiflungsvoll.
»Weil du nicht genug gelernt hast,« erklärte er begütigend und erhob sich, um sie mit fortzuziehen. »Aber, das schadet ja auch nicht, Liebling. Wenn man so hübsch ist wie du. – Komm.«
Halb im Taumel ließ sie sich von ihm leiten. Alles summte in der aufwachenden Seele durcheinander, die Liebesworte und der Goldklang. Und immer wieder, fast bettelnd, suchte sie den Großen davon zu überzeugen, wie sie am Ende doch nicht so wenig gelernt hätte. Dabei ergab sich, daß sie die unregelmäßige Dorfschule monatelang überhaupt nicht gesehen, ja, wie dies dem alten verbummelten Lehrer Toll nicht einmal als etwas Besonderes aufgefallen wäre.
Spitzbübisch wollte sie die Lippen bei dem losen Streiche spitzen. Doch ganz ohne Übergang fuhr sie zusammen und begann laut vor sich hinzuschluchzen.
»Herrgott, Lining, was weinst du?«
»O nichts!«
Damit schüttelte sie sich die Tränen ab und warf ihr Köpfchen kräftig in den Nacken.
»Ich kann nicht reich werden, ich hab' nicht genug gelernt,« ging es durch ihre Gedanken. Und dann blickte sie wieder mit heimlichem Neid auf ihren Gefährten, der nun bald in diesen goldenen Gärten spazierengehen würde.
Plötzlich griff sie in der Dunkelheit heftig nach seiner Hand, und beinahe zornig stürzte es aus ihr heraus: »Sag' mal, kommst du nun bei Hollander auch mit lauter solchen Menschen zusammen, die was gelernt haben?«
Das bejahte er. Lachend über ihre kindliche Wut, und geschmeichelt, daß sie ihn augenscheinlich gleich einem höheren Wesen verehre.
Nun standen sie vor der Brücke. Unten gurgelte und sang der Fluß, vom jenseitigen Ufer blinkten die erleuchteten Fenster der Krugwirtschaft herüber. Und da! – Was war das?
Grobe Tanzmusik drang über das Wasser, hinter den angelaufenen Fensterscheiben huschten blasse Schatten vorbei!
Kling – kling – plump – plump – trala!
Line griff nach dem Geländer der Brücke und wurzelte an. Ihre Augen saugten sich an den kleinen, leuchtenden Fenstern, die so wunderliche Lichtstrahlen in die Finsternis hinaussandten, förmlich fest; ihre Zähne biß sie scharf zusammen.
»Nicht doch! – Was soll das? – Komm, Kleine.«
»Bruno?«
»Ja.«
»Sieh da, bei Gastwirt Krügern da tanzen jetzt die Studenten mit den Fischerfrauen und den Mädchen.«
Auch er warf einen verlangenden Blick hinüber und streckte dann die Hand nach ihr aus.
»Ja, ja – aber was soll das? – Du mußt nach Haus.«
»Du, da drüben möcht' ich auch hin.«
»Da drüben?« Er hielt sie fest. »Hör', – da gehören keine Kinder hin.«
»Ich bin kein Kind mehr. Das sollst du sehen.«
Mit einer schlangenhaften Wendung wischte sie ihm unter der Hand fort.
»Jetzt lauf ich rüber.«
Er geriet in Angst.
»Lining – bedenk doch – wir haben ja Trauer.«
»Oh, bei so einer, die nichts gelernt hat, schadet das nichts. Nein, nein, da schadet das gar nichts. Ich will bloß zusehen.«
»Um Gottes willen, bitte, tu das nicht – mir zuliebe! Ja?«
Seine Stimme zitterte so flehentlich, daß sie stehen blieb und zögerte. Über die hohen Schwebebalken der Brücke glitt der Mond, so daß sich beide genau betrachten konnten. Da öffnete sich drüben in der Schenke eine Tür. Ein Strom von Musik und Gelächter schoß heraus.
Kling, kling, plump, plump, trala!
Das entschied.
Line zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. »Bloß zusehen,« rief sie noch einmal mit geschnürter Stimme, »du kannst auf mich warten!«
Im nächsten Moment flog sie über die Brücke, und wie von unsichtbarer Hand zurückgehalten starrte ihr Bruno nach. Seine scharfen Augen verfolgten die Fliehende, bis sie gleich einem weißen Pfeil durch den Wirtshausgarten schoß. Dann griff er sich an die Stirn und sah sich um. Rechts von ihm ruhte die unendliche, finstere Masse des Meeres, links glitzerte im Mondenlicht der silberne Fluß, und weiterhin zuckte am Himmel ein breiter leuchtender Schein. Unter diesem lag in der Ferne die Stadt, in der er morgen schon wohnen und wirken sollte.
»Line!« rief er laut und ängstlich in unerklärlicher, aufsteigender Bangigkeit.
Aber nichts antwortete ihm.
Nur zwischen den nahen, glitzernden Fenstern glaubte er den weißen Schatten des Mädchens in das Innere des Hauses schlüpfen zu sehen.
Da brach auch bei ihm unvermittelt alle Überlegung zusammen. Die Trauer und den finsteren Ernst des Lebens, der dahinten lag und auf ihn lauerte, alles vergaß er. Er wollte nur die Kleine holen – nur sie überwachen, das unerfahrene Ding, das so hübsch auf seinen Knien gesessen. Noch fühlte er die heimliche Wärme. »Ja, nur sie holen.«
Ein paar leichte Sprünge.
Er war bereits jenseits der Brücke. Ganz nahe drang durch geschlossene Türen die Musik – hinter ihm versank still und schweigend die Stadt, in der er morgen einziehen und leben sollte.
Er sprang in den Saal.
Und draußen tauchte alles wieder in nächtliche Versunkenheit; die Ufer und die Landstraße und die raschelnden Binsen am Moor. – Nur unten, wo der Strom um die Brücke gurgelte, da sah Malljohann, der zur selben Zeit nachdenklich auf dem Dach seiner Kajüte hockte und zu dem Mond hinaufmurmelte, wie sich vorsichtig ein winziges Männchen aus dem Wasser hob, und wie es in die Hände klatschte und in ein scharfes Kichern ausbrach.
Das war nichts Menschliches.
Und Malljohann wußte recht gut, so lachte nur der Klabautermann, den ja Line für ihren Vater ausgab, und der sich nun über sein flinkes Dirnlein freute.
X
Der Mond tanzte auf den Wassern.
Durch den schwarzen, glatten Spiegel streckte er überall sein feuchtes Gesicht hindurch, zwinkerte mit den Augen und spie goldene Funken nach Hann.
Es war gerade um die Zeit, als Line mit feurigen Wangen das erste Mal durch den Saal schlich.
Siebenbrod war eingeschlafen, er schnarchte. Kein Lüftchen regte sich; mitten auf der toten Fläche stand das Boot unverrückbar still.
Die großen Stellnetze waren bereits eingezogen, ein paar andere hatten sie ausgelegt; mitten in dem Boot schillerte fast fußhoch ein dicker Haufe zappelnder Heringe.
Die zuckten und sprangen und leuchteten einen fahlen, blauweißen Glanz.
Von fernher hallte ein einsamer Glockenschlag. Dann kroch wieder dieses ungeheure tote Schweigen über den Spiegel. Der Junge, des Nachtdienstes ungewohnt, hockte vorn am Bugspriet und kämpfte gegen den Schlaf. Zuweilen neigte sich sein plumpes Haupt schwer gegen den Bordrand, doch ein letzter verlöschender Blick auf den Stiefvater, der, das Steuer im Arm, zu einer unförmigen Masse zusammengesunken schien, ließ ihn immer wieder zur Höhe taumeln.
Der Bootsmann hatte ihm anbefohlen, wach zu bleiben. Und die Furcht wirkte stärker als die Müdigkeit.
Allmählich aber begann er zu zittern. Ein eisiger Frost stieg aus der schwarzen Tiefe auf und legte sich wie ein enger Mantel um seine Brust.
Voller Angst und in der Sucht, sich an etwas festzuhalten, an etwas Lebendigem, blickte er überall umher.
Dort der Mond. – Er kam und ging.
Es war, als wenn er sich wasche und immer um das Boot herumschwimme!
Was war eigentlich der Mond?
Der Junge rieb sich den Kopf, aber das Richtige sprang nicht heraus. Er fuhr mit der Hand in die glitzernde Scheibe, aber das Wasser war so eisig, daß er zusammenschrak.
Immer toller grinste das Gesicht aus den Fluten. Deutlich sah der Einsame, wie die großen Augen auf und zu klappten. Dazu verzog sich der Mund und wies blitzende Zähne.
Herrgott – Herrgott – was war eigentlich der Mond?
Das Gesicht wurde immer deutlicher und runder. Jetzt hob es sich aus dem Wasser, jetzt tauchte es unter, im nächsten Augenblick klappte das Maul auf und fing an zu reden.
»Jesus!«
Der kalte Schweiß lief Hann herunter. Er war der Nacht und dieses fürchterlichen Schweigens noch ungewohnt.
»Siebenbrod – Siebenbrod!« schrie er auf.
Vom Steuer tönte ein Ächzen, dann rührte sich nichts mehr.
Nein, er mußte wissen, was der Mond war. Die Unwissenheit bedrückte ihn, wie kurz vorher Line. In wildem Schrecken versuchte er fortzusehen, doch kaum gedacht, schwoll das Haupt riesengroß an, ein Zischen quirlte um es her, und dann grinste es wieder tückisch unter der zitternden Flut.
Da kam Hann ein Gedanke.
Er wollte sein Abendgebet hersagen, denn seine Furcht war groß. So faltete er die Hände:
»Ich bin klein,Mein Herz ist rein,Soll niemand drin wohnenAls Gott allein.«Er betete es noch immer, obwohl er ein großer Junge geworden. Er hatte kein Gefühl für die Lächerlichkeit.
Als er den Spruch gesagt, schielte er von neuem auf seinen Feind. Der hatte sein Antlitz in tausend goldne Runzeln gezogen und lag grämlich und zitternd da.
Und immer wieder ging es durch den dummen Jungenschädel: »Was ist eigentlich der Mond?«
In der Schule war er so weit nicht gekommen. Ob Line das wohl wußte? Ja, wenn er heute nacht nach Hause kam, dann wollte er doch an die Nebenwand klopfen, hinter der sie schlief, um einmal anzufragen. Ja, ja, Line hatte es gut. Die lag nun weich in ihrem Bett.
Gutmütig nickte er.
Das war auch ganz in Ordnung, daß sie nicht mit auf der schwarzen See weilte. Sie sollte nicht arbeiten. Dazu war sie zu fein.
Und als er von neuem in das glitzernde Gebilde starrte, kam es ihm vor, als ob sich dort drin etwas verändere, als ob ein ganz kleines Püppchen darin herumtanze.
Wahrhaftig, so warf Line die Beinchen.
Freudig reckte er sich vor, so daß das Boot schwankte. Alle Bangigkeit war vergangen. Statt des gespenstischen Hauptes nahm er mit einmal eine goldene Stube wahr, in der Line herumhuschte.
»Ja, ja,« wohlgefällig lachte er dazu, und ganz hinten am Steuer, wo die formlose Masse des Bootsmanns hockte, räusperte sich etwas, und Siebenbrods knastrige Stimme fragte gemütlich: »Wat is de Klock?«
* * *Um Mitternacht fuhr das Boot in Moorluke ein. Eine Viertelstunde später stießen die beiden Fischer auf Frau Klüth, die in der Dunkelheit vor dem Lotsenhäuschen stand und die Hände rang. Als Siebenbrod sich erkundigte, erfuhr er, daß Line und Bruno diese Nacht nicht nach Hause gekommen wären. Paul, der Student, sei bereits trotz Nacht und Nebel in die Klosterruinen gelaufen, wo man die beiden zuletzt gesehen.
»Und dabei soll es da drüben spuken,« jammerte Frau Klüth.
»Na, sie werden sich wohl wieder zufinden,« tröstete Siebenbrod in ziemlicher Ruhe und gähnte mächtig. »Die Hauptsache is nu, daß wir schlafen gehen. Puh – ich schuddere man so durch den ganzen Leib. – 's is niederträchtig kalt. – « Und während er die Witwe und Braut an die Hand nahm, murmelte er noch: »Leg dich man auch nieder, Frau Klüth. Es sind ja große Gören.«
Die kleine Frau ließ sich nach einigem Sträuben ins Haus ziehen.
Hann aber stand vor der Tür und zitterte vor Frost. Mit blödem Blick und schweren Augenlidern sah er in die Nacht hinein.
Hatte er das geträumt? Spukte der Mond noch vor seinen Augen.
Line war weg?
Schwerfällig schüttelte er den Kopf, als wär' ihm das Merkwürdige noch immer nicht klar, dann schauerte er wieder zusammen, und alle seine Glieder zuckten vor Kälte.
Line war weg?
Plötzlich überkam ihn eine seltsame Wut; die Mattigkeit wich von dem jungen Körper, mit voller Wucht schlug er mit der Faust gegen die Hausmauer, immer fester, immer ärger, als hätten die Steine nicht genügend über die Kleine gewacht.
Warum kam sie denn nicht wieder? – Wo war sie? Wenn sie nun beide, Bruno und das Mädchen, im Rick lägen? Laut heulte er auf und hieb wieder auf die Steine ein.
Aus der Hand sprang Blut.
Da klappte etwas auf der Dorfstraße.
Dicht am Rick entlang kam eine Fischersfrau in Holzpantoffeln daher. Es war die Frau des taubstummen Klaus Muchow, die ihren Mann aus dem Krug nach Hause holen wollte. Als der Junge in der Dunkelheit auf sie zufuhr, erschrak sie.
»Huching.«
»Line – Line is weg,« stammelte er.
Die Frau dachte nach. »Ne,« berichtete sie dann, »die hab' ich bei Gastwirt Krügern gesehn, mitten unter die Studenten.«
»Bei Gastwirt Krügern?« echote Hann, der es nicht glauben konnte, und riß den Mund auf.
Warum schlug ihm das Herz dabei so gewaltig an die Rippen? Noch war sein Verstand zu dumpf, um ihm das zu beantworten.
»Na, ich sag man, die tanzt fein,« meinte die Frau und lachte. Dann machte sie den Vorschlag, daß Hann sie begleiten solle, sie würde ihn mit hineinnehmen.
»Darf ich denn da hin?« stotterte Hann.
Die Frau warf ihm einen zweifelnden Blick zu: »I ja, warum denn nicht?« entschied sie, »wenn ich mit dabei bin – komm man, mein Jünging.«
»Na, denn nehm' ich's an,« brachte der Junge halb betäubt hervor und schüttelte sich, um sich zu erwärmen. »Dann hol' ich Line.«
»Ja, das tu man.«
»Es is wegen der Trauer,« entschuldigte Hann voller Scham.
»Ja, ja, das ist auch so.«
Und dann verschwanden die beiden.
– —»Line, jetzt komm nach Haus,« drängte der Sekundaner wiederum.
Er hatte sie einen kurzen Moment an der Hand, doch sie entzog sich ihm wieder.
»Gleich – gleich, Bruno.«
»Nein, du gehst jetzt.«
Sie lachte wild: »Ich tu ja nichts«
Dabei schimmerten ihre Wangen in heller Röte, aus dem leicht geöffneten Munde stieß kurz und rasch der Atem, und in den schwarzen Augen züngelten hundert glänzende, kleine Feuer.
Ihre Füßchen trippelten ungeduldig, und jetzt, jetzt wo die Musik wieder einsetzte, da wiegte und dehnte sich der Körper so leicht, so frank und frei, als wäre das weiße Kinderkleidchen längst von ihr abgeglitten, als stände sie nackt und aller Hüllen ledig und würde bald einen unerhörten Tanz beginnen.
»Line – Line.«
»Laß mich doch, Bruno, ich tu ja nichts.«
»Du hast mit dem großen Studenten da drüben getanzt.«
»Das ist nicht wahr – laß mich jetzt los – bitte, bitte.«
»Nein, du darfst nicht mehr.«
»Oder tanz du selbst mit mir.«
Er erschrak über ihr Verlangen und starrte sie an. In ihrer Stimme lebte soviel kindliche Leidenschaft. Hinter ihm paukten und schmetterten ein paar Musikanten, die aus der Stadt herausgekommen waren, scharrendes Geräusch schleifender Füße mischte sich drein.
»Hopsa – hopsa – hopsasa,« sang plötzlich oll Kusemann neben ihnen, der in seiner Extralotsenuniform bei jedem Ball die Stellung eines Tanzkommandeurs bekleidete, »hopsasa,« sang er und hob das rechte Bein unternehmend in die Höhe: »Komm, Dirning, tanz mit mir! – Ich hab' spanische Korken in die Stiefel – siehst du so.« Er sprang hoch in die Luft. »So ein paar Dinger schenk, ich dir auch, wenn du hübsch artig bist und mir einen Kuß gibst – fix, Marjelling.« Hoch nahm er sie in seine Arme und schwenkte sie weit in der Luft herum.
Ihre Röckchen wirbelten, die schwarzen Zöpfe rasten um sie herum, von der einen Wade war der Strumpf heruntergestreift und entblößte die braune, seidige Haut.
»Huch,« schrien die Fischerweiber schamhaft.
Solchen Tanz hatten sie noch nicht gesehen. Der taubstumme Riese Klaus Muchow lachte dazu, daß die Wände dröhnten, während die Studenten ihre Seidel schwangen, um Line ein donnerndes Hoch auszubringen.
»Line – hurra,« schmetterten die jungen Stimmen.
»Line hurra,« knatterte es aus allen Winkeln.
»Line hurra,« greinte oll Kusemann und spitzte seiner Tänzerin, die noch nicht den Erdboden berührt hatte, die Lippen entgegen.
»Ich will nicht mehr,« keuchte die Kleine, vor deren Blicken alles verschwamm, und begann mit dem Lotsen zu ringen. »Ich will runter.«
Ihre Fußspitzen suchten den Estrich.