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Hann Klüth: Roman
Und alle gratulierten dem Bootsmann.
»Ich dank' euch auch,« sagte Siebenbrod stolz, »ich werd' nun mein Möglichstes tun.«
»Ja,« stellte der wassersüchtige Lotse mit dem Schnürbein, der sich am besten auf Geschäfte verstand, fest, »das Haus is ja auch ganz nett. Das Dach muß ausgebessert werden.«
»Ne, ne,« widersprach Siebenbrod mit einer gewissen Besitzerbehaglichkeit. »Vier Jören – kein Spaß – sparen, sparen.«
»Ja,« mischte sich nun auch oll Kusemann listig ein und redete ganz laut, damit ihn sein Freund Hann in der Stube besser verstehen sollte, »Siebenbrod, kiek, da sind drei Kühe und zwei Schweine. Wenn man sich die ein paar Jahre vermehren läßt, sieh, dann kommt 'ne recht anständige lütte Viehzucht raus. Ich hatt' mal einen Vetter, der – «
»Ne – man ja nicht – und der Rotlauf und die Klauenseuche,« wehrte der neue Besitzer ab und drückte das Zesnerfischerpatent in der Mappe zärtlicher an sich. »Sparen – sparen.«
»Na, dann auch so! – Es is ja wirklich allens ganz nett,« fuhr der Lügenlotse, immer mit erhobener Stimme, bedächtig fort. »Und Mudding Klüth is ja auch noch ganz gut zu Weg. Man muß eben ein Auge zudrücken. Wenn sie sich mein schwarzes Seidenkleid aus Lyon anzieht, dann läßt sie sich noch ganz hübsch wonach.«
»Ja, was sollt' sie nich,« murmelte Siebenbrod dagegen und blickte sich mißtrauisch im Kreise um, ob vielleicht einer Spaß mit ihm treiben wollte. »Frau Klüth is noch sehr bei Kraft.«
»Deutsche Frauen – deutsche Treue,« klang es von dem Kartoffelkahn.
»Na, die Hauptsache bleibt aber doch das Haus und die Schweine,« schloß Friedrich Pagels bestimmt. »Dabei bleibt es.«
»Ja – ja, dagegen läßt sich nichts einwenden,« nickte Siebenbrod sehr vergnügt und drückte allen unter beifälligem Gemurmel die Hände.
Dann trat er in das Klüthsche Familienhaus.
* * *Unter befangenem Schweigen hatte man an der festlichen Tafel gesessen.
Alle scheuten sich, von ihren Tellern aufzusehen. Man hörte die herbstlich-matten Fliegen an der Decke summen und vernahm nur zuweilen das erzwungene »Hum – Hum« des Bootsmannes, der sich bemerkbar machen wollte.
Doch keiner redete.
Es war, wie wenn sich die vier Kinder hinter dieses Schweigen wie hinter einen letzten Wall zurückzögen.
Zuletzt konnte es Siebenbrod nicht mehr aushalten.
»Hum – Hum – Frau Klüth,« begann er endlich, während er ratlos und eingeschüchtert neben der Frau in dem steifen seidenen Kleide hin und her rückte. »Ich glaub', nun wär' es Zeit mit dem Bier.«
»Ja, dann können wir ja nun.«
Rauschend erhob sie sich, rauschend kam sie zur Tür wieder herein und stellte einen großen, braunen Krug auf den Tisch.
Dann ließ sie sich mit ihrem unbeweglichen Gesicht neben dem Bootsmann nieder, aufrecht wie ein Licht, das in den Leuchter gesteckt wird.
»Frau Klüth – ich werd' das selbst eingießen.«
»Schön, Herr Siebenbrod.«
Die Anreden steigerten sich in ihrer Feierlichkeit. Doch auch der Gerstensaft ließ keinen größeren Frohsinn aufkommen, immer wieder blickten acht Augen forschend und anklagend nach der Mitte der Tafel, als säße dort ein Paar, das einen ungeheuren Frevel verüben wollte. Bis endlich Siebenbrod dreimal energisch über seinen Kopf strich und sich halb verzweifelt zu der Witwe wandte: »Frau Klüth, nu muß ich es wohl tun?«
Einen Augenblick Schweigen.
Dann ein tiefes Aufatmen: »Ja, Herr Siebenbrod, nun bleibt wohl nichts mehr übrig.«
»Na, denn – ,« der Bootsmann gab sich einen gewaltigen Ruck, sperrte den Mund auf und blickte jedes der vier Kinder, Nachsicht heischend, an: »Na, denn also – Paul, Bruno, Hann und Line – ich hab' ihr nu.«
»Was haben Sie?« fragte der Theologe langsam, während er seine finsteren Augen nicht von ihm wandte.
»Das Zesnerpatent, Herr Paul.«
Siebenbrod holte das Papier aus der Tasche und hielt es wie einen Schutz oder eine Erklärung vor sich in die Höhe.
»Ja, aber was folgt daraus?« forschte der Student unbarmherzig weiter.
Was daraus folgt? —
Siebenbrod sah sich verwirrt im Kreise um, wischte sich die Nase und machte wieder den Mund auf. Ja, was sollte denn daraus anderes folgen, als was doch so klar war? – Herr Gott – Herr Gott – solch ein studierter Mensch – was für Umstände: »Je,« stotterte er, »daß ich hier nu alles übernehme.«
»So? – Das stand ja aber schon vorher fest. Dabei ist doch nichts Besonderes?«
Als sich der Fischer derartig in die Enge getrieben sah, geriet er in Verzweiflung. Weit schob er die Füße von sich, legte eine Faust auf den Tisch und sagte in völliger Resignation: »Ja, das mag ja nun alles sein, wie es will – aber wir sünd einig – wir heiraten uns.«
Und Frau Klüth blickte mit ihrem starren Gesicht jedes einzelne der Kinder an und setzte traurig hinzu: »Glaubt mir, es geht nicht anders.«
Nach dieser Erklärung waltete neues, drückendes Schweigen. Als jedoch zwischen Mittagbrot und Kaffee der Bootsmann, froh, der schwülen Stille zu entfliehen, ein wenig an den Fluß und an Malljohanns Kahn geschlendert war, da sahen die andern Kinder, wie Paul mit der Mutter in einer Ecke saß, und hörten abgebrochene, geflüsterte Worte von dorther dringen: »Paul – Pauling – tu das nicht.«
»Es ist besser so – ich brauche dann von euch nichts mehr.«
»Aber wie willst du das bloß anfangen?«
»Privatstunden.« —
»O Pauling – ich geb's ja gern – ich tu's doch bloß euretwegen.«
»Ja – ja, aber im Andenken an den Vater – ich kann's nicht mit ansehn – ich zieh – morgen schon in die Stadt.«
Dann umschlang die Mutter ihren Ältesten, und man konnte hören, wie der harte Junge von einem Schluchzen förmlich geschüttelt wurde. Bruno stand dabei abgewandt am Fenster und sah hinaus. Auch ihm war übel zumute. Aber er dachte mehr daran, was seine städtischen Bekannten, was vor allen Dingen wohl Konsul Hollander, der doch ein Gönner des alten Klüth gewesen, zu dieser plötzlichen Verlobung sagen würde. Die beiden Kleinen, Hann und Line, hingegen schlichen mit gesenkten Köpfen hinaus.
* * *In dem verwilderten, struppigen Garten, der wie alle Moorluker Anpflanzungen von dem häufigen Nordoststurm zerzaust und verwüstet aussah, machten die Kinder vor den traurigen, geknickten Sonnenblumenstauden halt.
Das Gelb der Kelche hatte schon etwas Giftiges angenommen, und die mächtigen Blumenhäupter hingen so trostlos, so greisenhaft gebrechlich darnieder, als wüßten sie, daß der nächste Norder sie hohnlachend in den Fluß schleudern würde. Der ganze Fleck hatte etwas Unrastiges.
Schräge, schlecht gezogene Beete, auf denen Rüben und Petersilie wuchsen, und hier und da ein verkrüppelter Apfelbaum, der im Kampf mit dem Winde bucklig geworden.
In den Blättern raschelte ein unfreundlicher Zug, am Himmel fand ein höhnisches Spiel zwischen Sonne und grauen Wolken statt.
* * *Das Dirnchen hatte eine der Sonnenblumenstauden zu sich herniedergebeugt und zupfte nun ein Blatt der kranken Köpfe nach dem andern ab.
Allmählich färbte sich ein gelber Teppich zu ihren Füßen, bis ihn der Wind wieder von dannen fegte.
»Lining,« fing Hann an, der hinter ihr stand und in seiner Trauer seine Furcht vor ihr vergessen mochte, »siehst du, Niklas von oll Kusemann hat recht behalten. Nu is Vater abgesetzt – und sie haben sich verlobt.«
Nun hätte sie fragen müssen, welche Zweifel ihn eigentlich plagten. Indessen sie schwieg. Warum, wußte sie selbst nicht. Aus Eigensinn oder weil sie gewohnt war, mit ihrem treuen Begleiter, der überall hinter ihr hertrollte, nach Laune zu spielen.
Sie schwieg und zupfte schneller.
»Lining,« fuhr Hann eingeschüchtert fort und sah verlegen auf seine Stiefel hinunter: »Verloben? – Das is doch eigentlich was sehr Feierliches.«
Noch immer rührte sie sich nicht, und doch schielte sie ein wenig seitwärts nach ihm hin. Dem kecken, frühreifen Ding kam die Erinnerung, daß ihr treuer Gespiele sie neulich geküßt. – Im Grunde war sie auch seine Braut. Sie spitzte die Lippen.
Was er ihr wohl zu sagen hatte?
»Lining,« stotterte der Junge, bei dem die ersten forschenden Gedanken durchaus nicht in dem groben Gehirn verharren wollten, die vielmehr aus ihrem Käfig ausbrachen wie eine Schar schreiender Gänse auf die Landstraße. »Lining, hinter dem Verloben muß doch noch was stecken, kuck – wir« – er wurde glühend rot – »wir sind doch auch verlobt – wie oll Kusemann sagte – aber – wir – Lining, sei nicht bös – wir mögen uns doch auch leiden – ! Dietrich Siebenbrod aber und Mudding, die mögen sich doch nicht ausstehen und verloben sich doch. – Daß so was erlaubt is?«
Nachdenkend hielt er inne.
Immer wandte sie ihm noch den Rücken. Langsam jedoch, mit einer unbewußt koketten Bewegung bog sie jetzt den Hals und blickte ihn mit ihren braunen Augen suchend und staunend an.
Sie wartete. Er hatte gewiß noch etwas Wunderschönes zu sagen. Wie eine ganz feine, leise Musik begann es in dem herbstlichen Garten um sie herum aufzuklingen. Viel, viel später noch leuchtete diese Szene zu ihr herüber, wie ein farbenschimmernder, erwartungsvoller, verheißender Kindertraum.
In dem frischen Winde flatterte die Schleife in ihren Haaren gleich einem rosigen Wimpel; die vollen roten Lippen bebten vor Frost und vor Neugierde.
»Du magst mich gern leiden?« brachte sie hervor.
»Ja,« entgegnete Hann erschreckt. »Das hab' ich gesagt.«
»Ich mag dich auch gern leiden,« flüsterte Line und streckte ihm mit einer raschen Bewegung ihre runde, rosige Hand hin.
Da verdarb ihm die Philosophie alles. Dieses verwünschte methodische Hinstarren auf die Gedankenkegelbahn, auf der er die ersten ungeschickten Würfe tat.
»Der Amtsvorsteher nimmt Mutter und Siebenbrod am Ende gar nicht an,« gab er dem Gespräch eine andere Wendung, während er sich aus Furcht vor der ausgestreckten Hand beinahe zum Ausreißen wandte. »Wenn er erfährt, daß sie sich nicht gern haben, dann schickt er sie vielleicht nach Hause.«
Noch immer wartete Line. – Langsam sank das Händchen herunter, vor dem Hann bereits bis hinter den Apfelbaum zurückgewichen war.
Ein plötzlicher Windstoß brauste durch die Zweige und warf harte Früchte herab.
Da riß Line in aufflammendem Zorn eine riesige Sonnenblume, die hinter ihr herabhing, von ihrem Stengel und schleuderte sie dem Jungen mit aller Kraft ins Gesicht. Hart klatschte es gegen seine Haut.
»Lining,« rief er bestürzt. »Was tust du?«
In demselben Moment rollte eine Equipage die Dorfstraße entlang und hielt vor dem Klüthschen Hause.
»Dummer Bengel,« rief das Mädchen.
Dann lief sie mit flatternden Röcken auf das glänzende Gefährt zu.
VII
Der Konsul Hollander war ein griesgrämiger Herr.
Wohl hatte er vier der schönsten Pferde im Stalle, doch pflegte er sie aus Trotz gegen sich und gegen seine Familienangehörigen selten zu benutzen. Jeder Luxus schien ihm etwas so Verabscheuungswürdiges, daß er sich von Zeit zu Zeit sogar seines schönen, lebenden Besitztums schämte.
Mußte er notgedrungen, so wie heute, den Bitten seines Töchterchens Dina, die so gar nicht in das stille, vereinsamte Kaufmannshaus paßte, nachgeben, wurde die altväterliche und bequeme Equipage zu einer Spazierfahrt einmal angespannt, thronte der alte, steifleinene Johann in seiner verschossenen Livree wirklich einmal vorn auf dem Bock, dann konnte man sicher sein, daß der Konsul brummig auf seinem Hintersitz hockte, den Stock mit dem englischen Knopf fest gegen das Kinn gepreßt, um ununterbrochen leise Zeichen der Unzufriedenheit vor sich hinzumurmeln.
Das klang ungefähr so: »Alle Krankheiten laufen sich die Tiere auf so einer verwünschten holprigen Chaussee. Diese ruckartige Bewegung ist dem Körper in hohem Grade unzuträglich. Überhaupt das ganze ein Frauenzimmervergnügen. Müssen sich zeigen – und das alles in den wichtigsten Geschäftsstunden.«
Und zu seiner Schwester, einer unverheirateten Dame, die wie ein gepudertes Bild aus der Rokokozeit breitröckig neben ihm thronte, pflegte er mit einer ironisch-höflichen Verbeugung und bittersüßem Lächeln hinzuzusetzen: »Habe ich dich getreten? Das tut mir leid, aber in diesem Kasten kann ich mir nicht anders helfen.«
Derartige Reden waren aber so bekannt, daß die beiden Damen sich nicht sonderlich darum kümmerten. Die Tante erklärte vielmehr ihrer Nichte Dina, die erst kürzlich aus der Schweizer Pension zurückgekehrt war, mit gutmütiger Regelmäßigkeit alle irgendwie hervortretenden landschaftlichen Schönheiten, ohne sich dadurch irgendwie stören zu lassen, daß sie dies bei ihren Ausfahrten jedesmal zu befolgen pflegte. Und das elegante Fräulein, das so blond, modern und vornehm aussah, nickte stets dazu und erwiderte immer: »Danke, danke.«
* * *Als der Konsul in die Nähe des Klüthschen Familienhauses gelangt war, versetzte er plötzlich dem alten Johann mit dem Stock einen leichten Schlag auf den Rücken.
»Anhalten!«
Richtig – hier hatte er ja etwas abzuwickeln.
An den alten Klüth, der einmal Schiffszimmermann auf seiner Werft gewesen, hatte ihn noch etwas Persönliches gebunden.
Nun sollte ja eine neue Generation, eine feinere, kultiviertere mit ihm in Verbindung treten.
Diese mußte er sich erst einmal genau besehen.
Wer weiß, was da wieder dahintersteckte. Er hielt es nicht sehr mit der neuen Zeit.
* * *Die beiden Damen saßen auf zwei Stühlen, welche die kleine Frau Klüth mit unheimlichem Eifer und ohne daß es notwendig gewesen wäre, gereinigt hatte. Der Konsul dagegen stand mitten in der Stube, den Stock wie immer gegen das glattrasierte Kinn gepreßt und sah mit seinen grauen Augen, die so groß unter den weißen Brauen hervorblickten, auf Bruno herab, der schweigend und doch unsicher vor seinem zukünftigen Chef verharrte.
An den Wänden ringsherum befanden sich die übrigen Familienmitglieder. Alle hielten den Atem an, als könnten sie den mächtigen Handelsherrn irgendwie beleidigen, während Siebenbrod von Zeit zu Zeit langsam an seiner eigenen Hose herabfuhr, um jede Bemerkung des Konsuls dann mit einem beistimmenden: »Jawoll, jawoll – so 's recht, Herr Konsul« zu begleiten.
Eingehend erkundigte sich Hollander nach Brunos Vorbildung und Kenntnissen, und merkwürdig, bei jeder neuen Wissensposition, die sein künftiger Lehrling zu besitzen behauptete, entfuhr dem Kaufmann stets ein zweifelhaftes »Na, na!«
»Englisch?«
»In meinem Zeugnis steht gut!«
»Na, na!« grunzte Hollander, und nachdem er sich noch die Handschrift seines Schülers betrachtet und ebenfalls verdächtig mit dem Kopf geschüttelt hatte, sagte er hart und abweisend, als wenn er dem Neuaufzunehmenden in der Tat nicht viel Vertrauen entgegenbrächte: »Das mag alles recht schön und gut sein. Aber die Hauptsache liegt ganz woanders. – Wissen Sie, wo?«
»Nein,« entgegnete Bruno nach einigem Besinnen offenherzig.
»In der Treue und Ehrlichkeit liegt sie,« knurrte Hollander.
»O Herr Konsul,« erlaubte sich bei dieser Stelle die kleine Frau Klüth anzufügen, »so was ist doch wohl selbstverständlich!«
»Na, na – wollen sehen, ich meine auch eine Ehrlichkeit, wie sie jetzt in Geschäften selten geworden, so eine Treue im großen. Und nun, lieber junger Mann, müssen Sie sich vor allen Dingen nicht überspannten Ideen darüber hingeben, was Geschäft heißt. Ich hab' da mal so ein Buch gelesen von einem Gustav Freytag – >Soll und Haben< – . Sehr schön. Wenn Sie so was erwarten, dann können Sie gleich zu Hause bleiben. Kaufmann ist der Stand der Demut, wer nicht bescheiden ist, bringt's da sicher zu nichts. Und nun sagen Sie mal, mein junger Freund, was glauben Sie denn nun, werden Sie zuerst bei mir zu besorgen haben?«
Bruno kämpfte das niederdrückende Gefühl tapfer nieder und versicherte, er denke, man werde ihm vielleicht zu Anfang eines der untergeordneten Bücher zur Führung übergeben.
»So, so?« lachte Hollander kurz und stieß sich mit dem Knopf gegen das Kinn. »Untergeordnete Bücher? Sehr hübsch! Untergeordnete Bücher, das ist ein guter Anfang. In einem anständigen Betrieb gibt es überhaupt keine untergeordneten Bücher. Aber damit Sie es gleich wissen, mein liebes Jünging, Sie fangen eben so an, wie ich auch begonnen habe. Also zuerst schließen Sie früh morgens sieben Uhr hübsch die Kontore auf, dann fegen Sie die Dielen auf. – Sollte Ihnen das nicht passen, dann wollen wir gar nicht erst beginnen. Dann wischen Sie Staub ab. Den Papierschrank in Ordnung halten und kopieren lernen, das ist schon die nächste Stufe, und so geht es weiter. Immer in Bescheidenheit, so fängt der Deutsche an. Das Feine, so mit englischer Tischzeit und so weiter wollen wir den Herren in London überlassen. Haben Sie sich alles so vorgestellt?«
Bruno machte eine Verbeugung und versicherte mit Herzklopfen, daß er sich große Mühe geben würde.
»Schön,« meinte Hollander, »wollen sehen. Wohnen und essen werden Sie zunächst bei mir, und morgen früh schicke ich meinen Wagen heraus, damit er Sie und Ihre Sachen abholt! Gut – abgemacht!«
Er streckte ihm die Hand hin, drückte sie gewichtig und ging dann fest auf Frau Klüth zu.
»Haben Unglück gehabt,« sagte er, »braver Mensch gewesen, Ihr Mann, hat mir lange Jahre, als ich selbst noch nichts war, treu gedient. – Na, wollen sehen, kann dafür vielleicht aus Ihrem Jungen was machen. Komm, Dina!«
Die beiden Damen verabschiedeten sich, indem sie jedem der Anwesenden die Hand reichten.
Als Dina die Finger der kleinen Line in den ihren hielt, wandte sie sich erfreut zu der Rokokotante und flüsterte »Wie hübsch!«
Dann verbeugten sie sich und bestiegen wiederum die Equipage, deren Schlag von Siebenbrod aufmerksam und ehrfurchtsvoll gehalten wurde.
»Nach Hause,« befahl Hollander, nachdem er sich wieder auf seinem Platz befand. Und als er Brunos unter den Fenstern noch einmal ansichtig wurde, blickte er ihn nochmals prüfend an und murmelte: »Na also – wollen sehen!«
VIII
Mächtig verhaltene Aufregung war über die Familie gekommen. Kaum hatte der Konsul das Haus verlassen, da begab sich die Mutter auf die Bodenräume und begann klopfenden Herzens Brunos Sachen in einen Koffer zu verpacken.
Siebenbrod half ihr dabei; er wollte auch etwas Väterliches leisten.
Inzwischen hatte sich der Wind gelegt. Warme Abendsonne lag über dem Dörfchen, und überall waltete eine Frische, die alles Ferne nah und klar erscheinen ließ.
Da litt es den aufgeregten Bruno nicht länger in der weiten, niedrigen Stube, eine Furcht war über ihn gekommen, die er sich selbst nicht erklären konnte. – Wenn nur die Rede des Konsuls über seine neuen Pflichten nicht gewesen wäre!
Eine merkwürdige Ahnung der Zukunft beschlich ihn. Er fühlte, etwas Unfertiges, Halbes war in ihm, er war zu wenig gerüstet, der Welt, die er nun bezwingen sollte, entgegenzutreten.
Unbestimmte, ferne Dämmerungen taten sich vor ihm auf. Und immer wieder plagte ihn der phantastische Eindruck, als höre er drinnen aus der Stadt, von der er nur die Türme ragen sah, Tanzmusik, Goldklingen und Mädchenlachen. Das war gräßlich. Aber er vernahm es immerfort. Halb verzweifelt bedeckte er sich mit dem modischen Hut, der auch bereits in der Stadt gekauft war, und lief hinaus.
Ah, hier war doch Bläue, Frische, Abendsonnenschein.
Was kümmerte es ihn, daß auch die beiden Kleinen, Line und Hann, mit ihm zugleich aus der Tür traten? Als sie ihm nachriefen, rannte er nur umso schneller dahin.
Nein, nein, er mußte erst mit diesen törichten und doch quälenden Dingen, die er nur aus unreifen Büchern aufgelesen haben konnte, fertig werden.
»Bruno – nimm uns mit!«
Er hörte nicht.
So schlichen denn die beiden dem Voraufgegangenen nach, immer nach ihm ausspähend, doch beide von dem einen Ehrgeiz besessen, mit dem erwachsenen Bruder diesen letzten Abend noch gemeinsam verbringen zu dürfen.
Gegenüber von der gemütlichen Krugwirtschaft, aus der gerade Gesang von Studenten schallte, überschritt Bruno eine baufällige Brücke, die in das Nachbardorf hinüberleitete.
Und immer auf die fernen Türme der alten Hansestadt starrend, die im Abendflimmer wuchsen und sich verbreiterten, schritt er weiter. So war er in den uralten Wald gelangt, in jenen dunklen Götterhain, der seit grauen Zeiten ein Wahrzeichen der Gegend bildet.
Unter riesigen Eichen ragten hier Ruinen und zerstörte Kreuzgänge eines alten Zisterzienserklosters auf, und da hatte auch Bruno seinen Lieblingsplatz. Aus roter, zertrümmerter Mauer brach in halber Manneshöhe eine mächtige, verwitterte Grabplatte hervor. Gott allein wußte, welch weltfremder Abt hier bestattet liegen mochte. Die Schriftzüge der Tafel waren lange verwischt; nur unten sprang in groben Buchstaben ein Wort hervor: »Mors.«
Dort ließ sich der Sekundaner nieder. Eine Weile blieb er allein, dann hallten Tritte durch den Wald.
Verwundert merkte er, daß die beiden Kinder mit ihm waren.
»Was wollt ihr?« fragte er gezwungen lächelnd, denn hart und verletzend wie sein älterer Bruder konnte Bruno sich niemals geben.
Treuherzig antwortete Hann: »Bei dir bleiben!«
Da ließ er sie beide neben sich auf den steinernen Sitz. Und stumm und ohne sich viel zu rühren saßen die drei nun nebeneinander.
Durch die dunklen Bäume schimmerte das Blau der See, durchschnitten von ungeheuren, blutroten Brücken, die die scheidende Sonne über die Fläche gezogen hatte. Und über diese Stege sahen die Geschwister tausend und aber tausend bunter, perlender Kugeln auf sich zu rollen.
Ein stiller – klarer – deutscher Abend!
Über ihnen, in einem der zerstoßenen Fenster des Klosters nistete eine Meisenfamilie. Die schwirrten in scharfem unhörbarem Flug den langen Hauptgang herunter, verschwanden im Dunkel des Laubes und kehrten sausend zurück.
Aus dem Binsensumpf kurz vor der See drang ein Surren und Summen. Sonst schwieg alles, wie die drei auf dem Stein.
Auch der Wald regte sich nicht. Er sann und träumte wie sie.
* * *Aber einer war unter ihnen, der war bereits dazu bestimmt, einem Beruf anzugehören, der ihn immer wieder hart und rauh aus solch goldenen, undurchdringlichen Jugendträumen herausriß.
Von der Seite, wo das zerstörte Bauwerk mit dem Dominium zusammenstößt, drängte sich durch die Eichengebüsche eine große, vierschrötige Gestalt.
»Hann!« schimpfte Siebenbrod, der sich mühsam auf die Spur der Kinder gefunden hatte und nun entrüstet war, mindestens eine Stunde Zeit zu verlieren.
»Jung! Was ist nun wieder? Was sitzst du hier und kuckst in die Luft? Weißt du nicht, daß wir raussegeln müssen? Bist ja ganz dumm, Bengel. Steh auf, hier ist es nicht hübsch.«
Damit packte er ihn bei der Hand, und ohne daß er die beiden anderen eines Blickes gewürdigt oder zugelassen hätte, daß Hann sich auch nur verabschiede, zog er seinen Schutzbefohlenen mit sich fort.
In dem dämmrigen Kreuzgang wurde es wieder ruhig. Dann bemerkten die beiden Zurückbleibenden, wie ein einzelnes Boot sich von der Mündung löste und mehr und mehr die See gewann.
Die braunen Segel blähten sich, undeutlich gewahrten sie hinten am Steuer einen plumpen Kopf, der nach dem Hain und den roten Ruinen sehnsuchtsvoll zurückzuspähen schien.
Dann wurde der braune Punkt winziger und verging.
IX
In dem Walde wurde es neblig. Line fröstelte. Sie saß noch immer in dem weißen Kleidchen, von dem die rosige Schleife in Hanns Augen so wundervoll abgestochen hatte.
»Ob er nun nicht bald nach Hause geht?« dachte das Mädchen, für das der neue Lehrling mit seiner geschmeidigen Figur und den immer gut und städtisch sitzenden Anzügen von jeher einen vornehmen Herrn bedeutet hatte. Unwillkürlich legte sie dabei ihre Hand auf seine Finger.
Die fröstelnde Haut brachte den Nachdenklichen zu sich.
»Was willst du eigentlich hier, Kleine?« fragte er freundlich, während er ihr leicht über die Haare strich.
Er sah sie an.
Das Verhältnis zu der niedlichen Pflegeschwester war immer nur das eines erwachsenen Jungen gegen ein unbedeutendes spielendes Ding gewesen.
»O nichts,« versetzte sie ein bißchen schnippisch, »kümmere dich nicht um mich.«
Dabei führte sie den Finger an die Lippen und ließ sie leicht gegeneinanderschnellen.
Das sah liebenswürdig und trotzig zugleich aus. Bruno gefiel das so sehr, daß er plötzlich hell auflachte und die Kleine bat, dieses Spiel noch einmal zu wiederholen.
Sie jedoch schüttelte verwundert das Haupt. »Wozu?« versetzte sie gekränkt. »Ich bin kein Kind mehr. Das mußt du nicht glauben.«
»So? – Ach was? – Sag mal, wie alt bist denn eigentlich?«
»Das weißt du nicht?«
Ihre Stimme nahm einen immer verletzteren Klang an, doch den Lehrling schien dies nur in seiner heiteren Laune zu bestärken.