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Gesicht der Angst
Gesicht der Angst

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Gesicht der Angst

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Er wusste, dass sie eine Tätowierung auf ihrem inneren rechten Unterarm hatte und dass sie ihre Haare färbte. Er hatte gesehen, wie sie, einen Tag nach dem anderen, ihren Modeschmuck ausführte, und er wusste, dass sie ihr Aussehen jedes Mal, wenn sie hinausging, ein wenig veränderte. Er wusste, dass sie das Haus an den Tagen, an denen sie arbeiten musste, genau um 8.32 Uhr morgens verließ, weil sie genau wusste, wie lange sie brauchte. Er wusste, dass sie sich unterwegs einen Kaffee holen würde, den sie in einer App vorbestellt hatte, um die Warteschlangen zu umgehen, und dass sie ins Hinterzimmer gehen würde, um ihre Uniform anzuziehen, bevor sie im Laden auftauchte, um Kunden zu bedienen.

Er wusste, wann ihre Schicht endete und welchen Weg sie nach Hause nahm.

Er wusste, dass sie sterben musste.

Er konnte es kaum ertragen, sie anzusehen, aber er wusste, dass er zusehen musste. Er musste beobachten. Er tippte abwesend auf den Bildschirm seines Handys, als wäre er in dessen Inhalt vertieft, und beobachtete sie durch eine Sonnenbrille, die seine Augen verdeckte. Er beobachtete ihre Routine bereits seit ein paar Tagen, und er wusste, dass sie hier vorbeikommen würde. Diese Bank war perfekt platziert, um sie vorbeigehen zu sehen.

Die Welt würde ein viel sichererer Ort sein, wenn sie weg war. So viel wusste er.

Er sah zu, wie sie genau nach Plan vorbeiging und aus seinem Blickfeld verschwand. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er wusste genau, wohin sie gehen würde. Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, stand er von seiner Bank auf und begann, auf dem Bürgersteig in dieselbe Richtung zu schlendern, in die sie gegangen war.

An Samstagen hatte sie eine Doppelschicht. Sie bezahlte ihre Studiengebühren selbst, und sie brauchte das Geld. Da an einem Sonntagmorgen keine Vorlesungen stattfanden, ergab es Sinn, dass sie am Tag zuvor arbeitete. Ihre Kolleginnen und Kollegen waren nur allzu froh, nicht selbst samstags arbeiten zu müssen, zumindest nicht so oft, wie sie es tun müssten, wenn sie nicht beide Schichten übernehmen würde. Es war ein Arrangement, das allen entgegenkam.

Ihm passte es auch sehr gut, denn wenn sie nach der Schicht ging und abschloss, um nach Hause zu gehen, würde es dunkel sein. Er würde sich versteckt halten. Sie würde ihn nicht kommen sehen.

Er folgte ihr aus einiger Entfernung bis zum Laden und warf einen Blick hinein, um zu sehen, wie sie gerade aus dem Personalraum kam. Gut. Er blieb nicht länger. Es hatte keinen Sinn. Sie war dort, wo er sie brauchte, und das bedeutete, dass alles nach Plan verlief.

Er kochte innerlich, wenn er an sie dachte, an die bloße Tatsache, dass sie existierte. Sie hatte kein Recht dazu. Wie konnte sie nur alle anderen so in Gefahr zu bringen? Wie konnte sie es nicht sehen, es nicht wissen?

Sie war dabei, Lehrerin zu werden. Das war der größte Witz von allen. Wie konnte man jemandem wie ihr erlauben, in der Nähe von Kindern zu sein? Ihr ihre Ausbildung anzuvertrauen, sich um sie zu kümmern. Ihr so ein Vertrauen entgegenzubringen.

Die Welt würde ohne sie viel besser dran sein.

Im Moment konnte er nichts anderes tun, als zu warten. Er verbrachte seine Freizeit gerne damit, Menschen nachzuforschen und das Übel zu beseitigen, das alles bedrohte, wenn er nichts dagegen unternahm. Er hatte viel Zeit, um sich damit zu beschäftigen.

Und heute Abend, wenn es für sie an der Zeit war, ihre Schicht zu beenden, würde er da sein. Er würde zuschauen. Er würde warten. Bereit, die Welt von ihren Sünden zu reinigen.

KAPITEL NEUN

Zoe wartete darauf, dass ihr Computer die Suche startete, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust.

„Hast du schon etwas?“, fragte Shelley.

„Gib dem System eine Minute“, sagte Zoe. Sie fühlte sich immer noch ein wenig mürrisch von vorhin, und sie fühlte sich in Shelleys Gegenwart zu wohl, um sich die Mühe zu machen, es zu verstecken. „Dies ist kein Film. Die Dinge brauchen tatsächlich Zeit, um hier verarbeitet zu werden.“

„Schon gut, schon gut“, sagte Shelley. „Ich bin nur aufgeregt. Das könnte eine große Spur sein.“

Zoe beäugte sie und fragte sich, wie jemand so schnell von Gefühl zu Gefühl springen konnte. Wie Shelley verzweifelt und zu Tränen gerührt sein konnte, wenn sie eine Leiche betrachtete oder einen Menschen befragte, der jemanden verloren hatte, und auf der anderen Seite dann wieder so aufgeregt wie ein Schulkind über die Aussicht, den Fall zu lösen.

Der Bildschirm vor ihr blinkte und bekam wieder ihre volle Aufmerksamkeit, als eine Liste von Ergebnissen auftauchte. Es schien, dass ihr zweites Opfer, Callie Everard, seit einigen Jahren ein vielbeschäftigtes Mädchen gewesen war. Es gab mehrere Aufzeichnungen über sie im System des örtlichen Polizeireviers, einschließlich einiger Verhaftungen wegen Besitzes illegaler Substanzen.

„Da haben wir es“, sagte Zoe. „Sie wurde einige Male zum Tod eines gewissen Clay Jackson befragt. Das muss er sein.“

„Clay Jackson? Okay“, wiederholte Shelley und startete ihre eigene Suche am Computer, der in ihren vorläufigen Untersuchungsraum gebracht worden war.

Es war manchmal anstrengend, so zu arbeiten. Immer unterwegs, von Stadt zu Stadt. Sich erst einzuleben und dann woanders hinzugehen. Nur für die Gerichtstermine wiederzukommen, die immer unerwünscht und unweigerlich unangenehm waren.

Zoe klickte auf seinen Namen im System, um zu den Aufzeichnungen der Untersuchung zu gelangen. Sie wartete immer noch darauf, dass die Seite geladen wurde, als Shelley sich hinter ihr meldete. Es überraschte keinen von ihnen, dass alle Suchmaschinen im Internet schneller arbeiteten als das System der Bezirkspolizei.

„Hier ist etwas. Clay Jackson Memorial Social-Media-Seite. Auf ihr sind ein paar wenige Beiträge und Bilder zu sehen, die jedes Jahr an seinem Todestag oder Geburtstag gepostet werden. Er hatte eine Menge Tattoos.“

„Viele?“

„Mehr als Callie. Ich glaube, ich erkenne ein oder zwei davon. Sie haben, glaube ich, eine besondere Bedeutung auf der Straße. An dieser Gang-Theorie könnte etwas dran sein.“

Zoe schnaubte und schüttelte den Kopf. Sie stand auf, um über Shelleys Schulter zu schauen und sich die Bilder von Clay Jackson anzusehen. Auf seinen letzten Bildern war er 1,82 Meter groß und wog 64 Kilo. Drogenabhängig und er hatte vermutlich kaum noch gegessen. Er sah so aus, als wäre er vor seiner Sucht fit, gesund und muskulös gewesen. Auf den Fotos schrumpfte er langsam. Er hatte diesen Kurs nie bis zu seinem Ende verfolgt – er wurde mitten in der Transformation getötet.

„Warum tun Kriminelle so etwas?“, fragte sie.

„Warum tun Kriminelle was?“

„Sie markieren sich für uns. Sie machen es uns leicht mit ihren Gang-Tattoos.“

„Ich glaube nicht, dass das der Sinn dahinter ist“, sagte Shelley und schenkte ihr ein schiefes Lächeln über die Schulter. „Das ist eine Art soziale Konformität. Zu zeigen, dass man zu einer bestimmten Gruppe gehört.

Manchmal ist die Stärkung von Loyalität und Kameradschaft, die jemand durch dieses Gefühl der Zugehörigkeit erfährt, größer als die Notwendigkeit, sich selbst zu schützen oder die Angst, verhaftet zu werden.“

„Ich würde mir nie ein Gang-Tattoo stechen lassen. Selbst wenn es eine Voraussetzung für den Beitritt zur Gang wäre. Besonders dann nicht. Was für eine blöde Regel.“

Shelley rutschte auf ihrem Stuhl umher und warf Zoe nun einen amüsierten Blick zu. „Du würdest sowieso keiner Gang beitreten, oder? Das würde ja eine Menge Smalltalk erfordern. Ich glaube nicht, dass dir das gefallen würde.“

„Ich würde mir sowieso unter keinen Umständen ein Tattoo stechen lassen“, antwortete Zoe und wies damit auf den anderen Teil des Problems hin. „Ich verstehe nicht, warum es jemand tun würde. Was könnte so wichtig sein, dass es eine dauerhafte Tätowierung auf dem Körper erfordert?“

„Du magst wirklich keine Tattoos, oder?“

Zoe wusste nicht, ob Shelley sich über sie lustig machte oder nicht. „Sie sind ein Zeichen von geringerer Intelligenz. Es ist statistisch gesehen viel wahrscheinlicher, dass Straftäter Tattoos haben als gesetzestreue Bürger. Und wenn sie älter werden, sehen sie unweigerlich dumm aus. Warum grinst du so?“

„Weil es etwas an mir gibt, wovon du nichts weißt.“ Shelley schob ihren Stuhl ein Stück von ihrem Schreibtisch zurück und stellte ihren Fuß auf die Sitzfläche des Stuhls. Bevor Zoe die Gelegenheit hatte, zu protestieren oder sie zu fragen, was sie da tat, hatte Shelley den Saum ihrer Hose angehoben, um die nackte Haut an ihrem Unterschenkel zu enthüllen.

Dort war eine Miniaturmohnblume in leuchtendem Rot und Schwarz zu sehen, fast realistisch genug, dass Zoe dachte, sie könne die Hand ausstrecken und sie pflücken.

„Du hast ein Tattoo?“, fragte Zoe, obwohl es mehr als offensichtlich war. Es war einfach ein zu großer Schock. Sie hätte sich Shelley niemals als jemanden vorgestellt, der ihren Körper mit Tinte beschmutzen würde.

„Sieht aber sehr gut aus, finde ich“, sagte Shelley. Sie lächelte, und obwohl Zoe dachte, es könnte nett gemeint sein, war sie sich nicht sicher. „Ich habe es mir stechen lassen, als ich auf der Uni war. Der Name meiner Großmutter war Poppy. Nachdem sie gestorben war, dachte ich, es wäre eine nette Art, sich an sie zu erinnern.“

Zoe kehrte zu ihrem eigenen Stuhl zurück und ließ sich darauf nieder. Sie fühlte sich, als sei ihr der Wind aus den Segeln genommen worden. „Hast du noch andere?“

„Nein“, lachte Shelley. „Das hier tat schon höllisch weh. Danach habe ich ihnen abgeschworen.“

„Ich wusste gar nichts über … diesen Teil von dir.“

„Welchen Teil? Den kriminellen, wenig intelligenten Teil?“

Zoe schluckte. Sie hatte zwar die meiste Zeit mit menschlichen Emotionen und sozialen Normen zu kämpfen, aber eines wusste sie: Hier war eine Entschuldigung fällig.

„Ich habe es nicht so gemeint“, sagte sie. „Ich wusste ja nicht, dass…“

„Du hast eine Vermutung angestellt“, sagte Shelley. „Ich weiß, dass du mich nicht für einen schlechten Menschen hältst, also musst du dir eingestehen, dass deine Vermutung nicht ganz richtig war. Es sind nicht nur Kriminelle und Idioten, die sich tätowieren lassen.“

Zoe nickte und wählte ihre nächsten Worte sorgfältig aus. „Ich gebe zu, dass ein Zeichen des Respekts und der Erinnerung an einen verlorenen geliebten Menschen auch ein triftiger Grund sein kann, sich für so etwas zu entscheiden.“

„Das ist zumindest ein Fortschritt“, sagte Shelley. Sie lächelte immer noch, und Zoe hatte das Gefühl, dass es immer noch auf ihre Kosten war. Aber sie hatte es vermasselt und etwas gesagt, das vielleicht verletzend gewesen war, also schien es fair zu sein. „Wie geht deine Suche voran?“

Zoe erkannte den nicht sehr subtilen Hinweis und schaute auf ihren Monitor zurück, wo Clay Jacksons Polizeiakte endlich geladen war. Sie pfiff leise und schüttelte den Kopf über die Länge der Ergebnisse, die ihr angezeigt wurden. „Er ist vorbestraft, okay. Sieht aus, als gehörte er, wie wir vermuteten, zu einer örtlichen Gang.“

Nun war Shelley an der Reihe, herüberzukommen und sich über Zoes Schulter zu beugen. Sie lasen die Ergebnisse zusammen. Sie erzählten keine besonders schöne Geschichte.

Clay Jackson war Mitglied einer Gang in LA gewesen, einer berüchtigten Straßengang, die unter anderem in den Handel mit illegalen Drogen verwickelt war. Die Art von Drogen, mit denen Callie zu tun hatte. Es war nicht sonderlich schwer zu erkennen, woher sie ihre Vorräte bekommen haben könnte.

Clays Tattoos waren nur der Anfang davon. Er war ein Hauptmitglied der Gang und wurde verdächtigt, Angriffe in rivalisierendem Territorium geleitet zu haben und der Drahtzieher hinter mehreren Geschäften zu sein, die stattfanden, um die Gang mit Lieferanten und Käufern in Verbindung zu bringen. Er wurde mehrfach verwarnt, sowohl wegen Drogen- als auch wegen Waffenbesitzes, worauf eine tatsächliche Verhaftung und verschiedene weitere Strafen folgten. Er hatte einige Zeit im Gefängnis verbracht, kam aber immer nach ein paar Monaten wieder raus und wurde nie für etwas wirklich Schlimmes erwischt, das ihm hätte das Genick brechen können.

Bis zu dem Moment, als auf einmal alles vorbei war. Er wurde in einer Gasse niedergeschossen. Seine Leiche blieb in einem blutigen Haufen liegen, nur um kurz danach, nachdem Anwohner Schüsse gemeldet hatten, von der Polizei entdeckt zu werden. Es gab nie wirkliche Beweise dafür, wer der Täter war, nur Indizienbeweise und Verdächtigungen, die in dem Muster der Befragungen und Verhaftungen, die dem Verbrechen folgten, leicht erkennbar waren.

„Sieh dir das mal an“, sagte Zoe und tippte auf ihren Bildschirm. „Die einzige Anklage, die sie während der gesamten Untersuchung durchsetzen konnten, war der Besitz einer illegalen Schusswaffe. Der Kerl, von dem sie glaubten, dass er es am ehesten getan haben könnte, nur konnten sie es nicht beweisen. Das war alles, wofür sie ihn drankriegen konnten. Er bekam fünf Jahre.“

„Such mal nach ihm“, sagte Shelley. „Wie ist sein Name? Cesar Diaz?“

„Ja genau“, antwortete Zoe und wartete, bis die Seite geladen war. „Seine Gang hatte enge Verbindungen zu mexikanischen Schmugglern. Es scheint, als hätten sie um das Territorium gekämpft. Wer in diesem Gebiet verkaufen durfte.“

„Es passt alles zusammen. Wenn Clay ein hohes Tier in seiner Gang war, die neue Geschäfte machte und neue Verkäufe abschloss, dann hätten ihre Rivalen es besonders auf ihn abgesehen, um zu zeigen, wem was gehört.“

Die Informationen zu Cesar Diaz tauchten auf dem Bildschirm auf.

Beide lasen den letzten Eintrag, dann hielten sie inne und sahen sich gegenseitig an.

Das war eine große Sache.

„Cesar Diaz wurde vor ein paar Monaten auf Bewährung entlassen“, sagte Shelley und sprach aus, was beide dachten.

„Cesar Diaz ist wieder draußen und vielleicht auf der Suche nach Rache. Das erklärt Callie. Die Dinge auslöschen, die Clay wichtig waren, um zu zeigen, dass er wieder zurück ist, und um zu zeigen, dass er nicht weich geworden ist. Dass er immer noch das Sagen hat.“

„Aber was ist mit John Dowling? Das ergibt für mich immer noch keinen Sinn.“ Shelley runzelte die Stirn. „Könnte es eine Verbindung zwischen John und Cesar geben?“

Zoe überflog seine Seite und suchte nach allem, was ihr ins Auge stach. Nichts. Aus einer Laune heraus tippte sie die letzte Seite im System an und kehrte zu Clay Jacksons Profil zurück.

Unter seinem Namen, Bild und seinen wichtigsten Daten, befanden sich einige Links, die zu längeren Textabschnitten führten. Einer davon führte zu Verbindungen zwischen bekannten Personen. Zoe klickte darauf, um weiterzulesen.

„Warte mal eine Sekunde“, sagte sie und bemerkte etwas, das ihr bekannt vorkam. „Alicia Smith. Das scheint ein gewöhnlicher Name zu sein, aber …“

Sie stand auf und nahm die Akte von John Dowling vom Tisch. Sie blätterte ein paar Seiten durch, bevor sie endlich fand, wonach sie suchte.

„Was ist es?“, fragte Shelley und beobachtete sie nervös, während ihre Finger mit dem Pfeilanhänger spielten, der um ihren Hals hing.

„Alicia Smith wurde vor ein paar Tagen von uniformierten Polizisten im Rahmen der Untersuchung von John Dowlings Tod befragt.“

„In welcher Verbindung stand sie zu John Dowling?“

Zoe lächelte, ein wenig siegessicher. „Alicia Smith ist die Mutter von John Dowling.“

„Aber was …“ Shelley lehnte sich nach vorne und betrachtete erneut den Bildschirm. „Warte mal. Alicia Smith ist auch Clay Jacksons Tante mütterlicherseits.“

„John Dowling ist Clay Jacksons Cousin. Das ist die Verbindung zu Callie Everard.“

Auf einmal fügte sich das Puzzle zusammen.

Shelley sprang auf, tippte auf Zoes Bildschirm und bewegte die Maus ungeduldig, während die Seite erneut geladen wurde. „Hier sind die Bewährungsunterlagen von Cesar Diaz. Wir sollten ihm lieber einen Besuch abstatten.“

KAPITEL ZEHN

Zoe beobachtete alles von der einen Seite des Raumes, um angeblich die an der Wand hängenden Zertifikate zu untersuchen. Von dort aus konnte sie zusehen und zuhören, musste sich aber erst dann selbst am Gespräch beteiligen, wenn sie bereit war.

Craig Lopez sah nicht wie ein durchschnittlicher Bewährungshelfer aus, zumindest nicht wie die Art, die sie sich beim Hören des Begriffs im Kopf vorgestellt hatte. Er war kräftig gebaut, 1,80 m groß und hatte etwa 90 Kilo Muskelmasse. Als wäre das noch nicht genug, waren auch die meisten Muskeln, die um das Polohemd herum sichtbar waren, tätowiert. Von geschmierten Kritzeleien bis hin zu kunstvollen Kunstwerken war alles dabei.

Dann war da auch noch eine gezackte Narbe an der Seite seines Halses, wo sich einmal eine Kugel durch sein Fleisch gerissen haben musste, ohne ihn zu töten.

Offensichtlich war er wegen seiner einzigartigen Erfahrung eingestellt worden. Da er in seiner Jugend Mitglied mehrerer Gangs war, fand er einen Zugang zu denjenigen, die ebenfalls in solche Dinge verwickelt waren. Er konnte sie verstehen.

„Ist Cesar wieder in Schwierigkeiten?“, fragte er, sein ganzes Verhalten schwer und enttäuscht. „Er schwor mir, dass er clean werden würde. Raus aus der Gang und rein in etwas Besseres.“

„Wir sind uns noch nicht sicher“, betonte Shelley. „Wir müssen ihn erst befragen.“

Craig öffnete die Schublade eines Aktenschranks und blätterte den Inhalt durch, bevor er ein Blatt Papier herauszog. „Das hier ist seine Bewährungsauflage. Sie sollten vorsichtig sein. Wenn er wieder in Gang-Machenschaften verwickelt ist, wird er wahrscheinlich ein Gefolge haben. Er hat für die Gang gesessen, also hat er etwas Prestige gewonnen. Sie werden ihn beschützen wollen. Wenn sie mit gezogenen Waffen reingehen, könnte es böse enden.“

„Verstanden“, sagte Shelley. „Was wenn wir allein hineingehen, nur wir beide? Zeigt das, dass wir nur reden wollen?“

Craig neigte den Kopf. „Sicherer ist es schon. Aber stellen Sie sicher, dass jemand weiß, wo sie sind. Nur für alle Fälle.“

Shelley atmete unruhig ein, als sie nickte. Zoe beobachtete sie und dachte, dass Shelley wahrscheinlich noch nie zuvor in einer solchen Situation gewesen war. Sie war in allem so gut, dass man manchmal vergaß, dass sie noch nicht lange aus Quantico fort war. Es gab viele Szenarien, die für sie immer noch einschüchternd sein würden, frisch und neu.

Beim Thema Gangs kannte sich auch Zoe nicht sonderlich gut aus.

„Sind sie so etwas wie der lokale Experte für diese Gangs?“, fragte Zoe und wandte sich an Craig.

Er blickte überrascht auf – es war das erste Mal, dass sie während des gesamten Austauschs gesprochen hatte – und zuckte die Achseln. „Das kann man wohl sagen, denke ich. Zumindest das, was diese Seite des Gesetzes betrifft. Warum? Brauchen sie Informationen?“

„Es geht um Clay Jackson, den Mann, den Cesar wahrscheinlich getötet hat“, sagte Zoe.

„Oh, er hat ihn getötet. Er hat es nur so gut gemacht, dass sie ihn nicht kriegen konnten.“, sagte Craig. „Ich habe mal sowas Ähnliches wie ein Geständnis von ihm gehört, obwohl er zu schlau ist, es wirklich auszusprechen.“

Zoe nickte, zumindest froh über die Bestätigung. „Seine Tante, Alicia Smith. Sie wurde damals zu dem Mord befragt.“

Craig verengte die Augen und sah dann nachdenklich zur Decke. „Bin mir nicht sicher, ob ich den Namen kenne.“

„Ihr Sohn, John Dowling, ist eines der Mordopfer, die wir derzeit untersuchen.“

Craig verstand. „Sie fragen mich nach ihrer Beziehung. Ob Cesar diesen John Dowling ermorden würde, sobald er rauskam, um seinen Standpunkt klarzumachen.“

„Ganz genau.“

Craig schürzte die Lippen und trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. „Ich wüsste nicht warum. Clay Jackson war wie viele von diesen Typen. Die Gang war seine Familie. Echte Blutsverwandte verblassten im Vergleich dazu. Soweit ich mich erinnere, hatte er zu den meisten seiner Verwandten keinen Kontakt. Seine Eltern wollten nichts mit einem Sohn zu tun haben, der in einer Gang war.“

Das war interessant. Es war eine Lücke in ihrer Theorie, aber andererseits war es kein Beweis. Craig kannte diese Männer, aber er gehörte nicht zu den Gangs. Zumindest nicht mehr. Es gab Dinge, die sie vielleicht vor seinem Verdacht verbergen konnten.

„Danke“, sagte Shelley und streckte die Hand aus, um seine zu schütteln. „Wir melden uns, wenn wir noch etwas brauchen.“

***

Bei der Adresse, die Craig für sie auf einem Zettel notiert hatte, handelte es sich um ein heruntergekommenes, einstöckiges Gebäude mit kaputten, alten Autos, die quer über das, was der Vorgarten hätte sein sollen, geparkt waren. Eines von ihnen stand auf Betonblöcken statt auf Reifen. Nicht gerade das, was man von der Wohnung eines Drogenbarons erwarten würde.

Vielleicht hatte Craig recht, und Cesar war wirklich aus dem Spiel. Das bedeutete aber nicht, dass er keine Rachepläne mehr hegte, dachte Zoe und kaute auf ihrer Lippe herum, als sie sich umsah.

Es schien niemand in der Nähe zu sein, der sie beachtete oder ihnen hätte Schaden zufügen können. Niemand, der sie von Fenstern oder Veranden aus beobachtete, keine Autos, die langsam durch die Nachbarschaft fuhren. Keine Anzeichen dafür, dass jemand im Haus war.

„Wir sollten reingehen“, entschied Zoe, öffnete die Fahrertür und stieg aus.

Shelley folgte ihr kurz darauf. Sie wartete nicht lange, aber sie wartete. Zoe fragte sich, ob Shelley kalte Füße bekam. Wie auch immer sie es anstellen würden, sie mussten hier Untersuchungen anstellen. Egal, was sie auch vorschoben, irgendwann würden sie hier landen.

Zoe versuchte, Selbstvertrauen auszustrahlen, das sie nicht hatte, als sie zur Haustür ging und anklopfte. Dreimal, in dem kleinen Haus unüberhörbar.

Keine Reaktion.

Sie wechselte einen Blick mit Shelley, die nun dicht hinter ihr stand, und klopfte erneut an. Fester. Fünf Mal. Nicht so leicht zu ignorieren.

Da war nichts. Nicht das Knarren einer Diele oder das Flackern einer Bewegung hinter den dünnen Vorhängen. Das Wohnzimmerfenster, das man von dort sehen konnte, wo sie standen, zeigte in einen leeren Raum.

„Hier ist niemand“, sagte Zoe nach einem Moment. Es fühlte sich nicht so an, als würde man sie einfach ignorieren.

„Was nun?“, fragte Shelley, als sie auf das Auto zurückblickte. „Warten wir im Auto?“

Zoe folgte ihrem Blick und sah einen älteren lateinamerikanischen Mann, der sich auf den Stufen eines Grundstücks auf der anderen Straßenseite niedergelassen hatte. Dreiundsiebzig Jahre alt, schätzte sie. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht“, sagte sie und ging lässig auf ihn zu.

Es wirkte immer etwas unbeholfen, auf jemanden so zuzugehen. Der alte Mann beobachtete sie und wusste, dass sie zu ihm wollten. Er wusste, dass sie kamen, um mit ihm zu sprechen, aber er war immer noch zu weit weg, um ihn zu begrüßen. Wo sollte man hinschauen? Auf den Boden? In die Ferne, die Gegenwart des Mannes ignorierend, als hätten sie vor, einfach an ihm vorbeizugehen? Auf sein Gesicht, um Blickkontakt herzustellen, der für die lange Zeit, die sie brauchten, um die Sprechdistanz zu erreichen, unangenehm wäre?

Zoe entschied sich für eine Mischung aus allen dreien, was irgendwie noch schlimmer war, und rief ihn schließlich doch, sobald sie auf halber Strecke war.

„Entschuldigen sie, Sir?“

Er stellte sich nicht hin oder kam ihnen näher, sondern beäugte die beiden misstrauisch, aber er schenkte ihnen zumindest seine Aufmerksamkeit.

„Wir suchen den Mann, der auf der anderen Straßenseite wohnt. Wissen sie, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhalten könnte?“, fragte Zoe, wobei sie ihre Worte etwas neutral hielt. Kein Grund, alles auf einmal zu verraten.

Der alte Mann grunzte. „Du meinst Cesar?“

Die Katze war also aus dem Sack. „Ja, Sir.“ Zoe blieb respektvoll. Sie hatte bemerkt, dass der Grad der Kooperation, den man bei älteren Zeugen vorfand, oft in direktem Zusammenhang damit stand, wie oft man sie "Sir" oder "Ma'am" nannte.

„Draußen an der Grube.“

„Die Grube?“, wiederholte Zoe. Es gab doch nichts Besseres, als wenn Anwohner Außenstehende durch lokales Wissen, dumm dastehen ließen.

Der alte Mann grunzte wieder und gab ihr ein ungeduldiges Schulterzucken. „Die Grube. Wo all die Jungs hingehen.“

„Meinen sie die Gangmitglieder, Sir?“ Shelley übernahm, ihr Tonfall tief und weich.

Der Lateinamerikaner rieb sich die knochigen Finger über den Scheitel, der bis auf ein paar verbleibende Strähnen fast kahl war, und nickte. „All diese Jungen. Das ist hier kein Geheimnis.“

„Könnten sie uns den Weg zeigen, Sir?“, fragte Shelley. „Wir sind nicht von hier.“

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