„Sie haben die Gegend gestern Abend systematisch abgesucht, dabei aber nichts Nennenswertes gefunden“, sagte Shelley, als sie mit zusammengekniffenen Augen zum restlichen Windpark hinübersah, der sich nun vor ihnen erstreckte. „Was hältst du von der Wahl des Tatorts? Ein zu willkürlicher Ort, um hier darauf zu warten, dass jemand vorbeiläuft, oder?“
„Und viel zu ungeschützt“, stimmte Zoe zu. „Das passt nicht ins Schema eines Gelegenheitsverbrechers. Hier ist etwas anderes vorgefallen.“
Shelley biss sich auf die Unterlippe und schaute sich um. Die kurzen Haare an ihrer Schläfe richteten sich im Wind auf. „Warum wartet man nicht an einem schlechter einsehbaren Ort auf sein Opfer, oder geht weiter in den Park hinein?“, sagte sie. Es klang eher so, als würde sie laut denken – und nicht wie eine Frage. „Warum ausgerechnet hier, so nah am Parkplatz? Es muss einen Grund dafür geben, dass er dieses Risiko eingegangen ist.“
Zoe warf einen weiteren Blick auf die Blutspuren am Boden. „Der Körper war so ausgerichtet“, sagte sie und zeigte dabei in eine Richtung. Füße in Richtung restlicher Park, Kopf in Richtung Parkplatz. „Ein Überraschungsangriff eines versteckten Täters erfolgt normalerweise von hinten, wodurch das Opfer nach vorne fällt.“
„Mit anderen Worten: Sie war auf dem Weg zurück zum Parkplatz, als sie attackiert wurde.“
„Vielleicht wollte sie gehen. Er musste hier zuschlagen, bevor es zu spät war.“ Zoe starrte in Richtung einiger Büsche ganz in der Nähe. Auf ihren Blättern waren rote Flecken zu erkennen, die ein wenig wie äußerst makabre Beeren aussahen. „Vielleicht hat sie ihn ja gesehen und ist dann weggelaufen. Aber ich kann keine Anzeichen dafür erkennen – keine aufgewühlte Erde. Man kann erkennen, dass sie an der Seite des Weges entlanggelaufen ist, nicht auf der stärker verhärteten Mitte. Es hätte also Spuren hinterlassen müssen, wenn sie gerannt wäre.“
Shelley schloss die Augen, als würde sie sich die Szene bildlich vorstellen. „Lorna war also auf dem Rückweg, in Richtung Parkplatz. Er erkennt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, bis sie wieder in Sicherheit ist und er keine Gelegenheit zum Angriff mehr hat. Er muss es also jetzt tun. Vielleicht versteckt er sich irgendwo an der Seite, vielleicht da drüben im Gebüsch.“
Zoe schüttelte den Kopf, nachdem sie die Größe der Büsche abgeschätzt hatte. Sie waren nicht groß genug, um sich darin zu verstecken. „Glaube ich nicht“, sagte sie, aber es gab einen einfachen Weg, das zu überprüfen. „Herr Kollege?“
Einer der jungen Männer, die den Tatort abschirmten, sah sich zu ihr um. „Ja, Ma’am?“
„Tun Sie uns doch einen Gefallen. Gehen Sie doch bitte mal dort rüber und versuchen Sie, sich so gut wie möglich im Gebüsch zu verstecken. Knien oder legen Sie sich hin, damit man Sie möglichst nicht mehr sehen kann.“
Der Mann blinzelte kurz und sah zu seinem Chef, der seine Zustimmung signalisierte. Er tat wie ihm geheißen und versuchte, sich zu verstecken. Obwohl er Kleidung in natürlichen Farbtönen trug, war er im saftigen Grün des Gestrüpps deutlich zu erkennen. Die Sträucher waren nicht besonders hoch gewachsen – und dank der großen Lücken zwischen den einzelnen Ästen versperrten sie die Sicht nicht besonders gut.
Shelley ging um die Absperrung herum zur anderen Seite des Weges und sah von dort wieder in seine Richtung. „Ich kann ihn auch von hier noch sehen“, bestätigte sie.
„Mach dich etwas kleiner“, rief Zoe ihr zu. „Du bist zweieinhalb Zentimeter zu groß.“
Shelley ging für einen kurzen Moment in die Knie, wodurch sie sich mindestens fünf Zentimeter kleiner machte. „Macht keinen Unterschied“, sagte sie. „Ich kann sowohl seine Füße als auch seine Schultern sehen.“
„Ich danke Ihnen. Sie können wieder rauskommen“, sagte Zoe, sehr zur Erleichterung des Mannes, der sofort damit begann, sich den Dreck von der Kleidung zu klopfen.
„Also ist er gelaufen“, sagte Shelley und kam wieder zu Zoe zurück. „Sie ist nicht weggelaufen, also hat sie ihn wahrscheinlich gesehen und nicht für gefährlich gehalten.“
„Dann kann er keine Machete getragen haben“, merkte Zoe an. „Zumindest nicht offen.“
„Und wenn er die Opfer kannte?“, fragte Shelley, den Blick auf die nicht weit entfernte Stadt gerichtet. „Die Orte sind nicht weit voneinander entfernt. Man könnte beispielsweise problemlos in dem einen Ort wohnen und in dem anderen arbeiten. Es ist also durchaus plausibel, dass der Täter zu beiden Opfern eine persönliche Verbindung hatte.“
„Die meisten Morde, bei denen eine persönlichen Verbindung zwischen Täter und Opfer besteht, sind emotional aufgeladene Affekthandlungen“, sagte Zoe und bezog sich dabei auf die Daten aus verschiedenen Fachbüchern zu diesem Thema. Diese Informationen hatte sie zwar verinnerlicht, aber es gab da etwas, das ihr auch die besten Lehrbücher nicht verständlich machen konnten: die sogenannte ‚Atmosphäre‘, die an einem Tatort herrschte. Aber bei diesem Fall wurde ihr allmählich klar, was damit gemeint sein musste. Einen Mord wie diesen musste man im Voraus planen und es war zu erkennen, dass der Täter nur genauso oft zugeschlagen hatte, wie es zum Abtrennen des Kopfes nötig gewesen war – er war also nicht in Rage geraten, sondern hatte den Mord in aller Ruhe begangen. „Hier wurde emotionslos und berechnend gehandelt.“
„Es könnte trotzdem eine persönliche Verbindung geben. Vielleicht hat ihn ja jemand langsam, aber sicher in den Wahnsinn getrieben. Vielleicht haben wir es mit einem Psychopathen zu tun.“
Das Wort ‚Psychopath‘ ließ Zoe immer noch innerlich zusammenzucken. Zu oft war es ihr selbst an den Kopf geworfen worden. Von ihrer eigenen Mutter, von Klassenkameraden, von all denen, die dachten, sie würde in bestimmten sozialen Situationen nicht angemessen, nicht sensibel genug reagieren. Ihr war schon immer klar gewesen, dass sie anders war, als die meisten ihrer Mitmenschen. Aber es hatte sehr lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass sie deswegen noch lange kein schlechter Mensch war.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, fasste sie zusammen und unterdrückte dabei ihre eigene emotionale Reaktion. „Entweder ist er zunächst ganz unschuldig an ihr vorbeigelaufen, nur um sich dann umzudrehen und sie mit einer vorher versteckten Klinge anzugreifen – oder er hat zunächst ihr Vertrauen gewonnen. Entweder, weil sie sich bereits vorher kannten, oder irgendwie anders.“
„Dann müssen wir erstmal herausfinden, ob Lorna Troye und Michelle Young irgendwelche gemeinsamen Bekannten hatten“, sagte Shelley. Trotz ihrer dunklen Augenringe, die sie dem anstrengenden Nachtflug zu verdanken hatte, wirkte sie jetzt aufmerksam und voll konzentriert. Fast schon gespannt darauf, was sich aus dieser neuen Spur ergeben würde. „Und, hast du Lust, dir mit mir die Leiche anzusehen?“
Zoe setzte ihr zuliebe ein gezwungenes Lächeln auf. „Ich dachte schon, du fragst mich nie.“
KAPITEL SECHS
Das Labor des Gerichtsmediziners glich dem eines jeden anderen Gerichtsmediziners einer amerikanischen Kleinstadt, fand Zoe. Ein ungemütlicher Raum mit Metallbänken für die Leichen – nur zwei davon, denn normalerweise war hier nicht viel los. An einer Wand reihten sich neun vollkommen unschuldig aussehende Schubladengriffe hintereinander auf – und was sich dahinter verbarg, würden die meisten Menschen wohl als unsägliches Gräuel beschreiben. Zoe und Shelley hingegen machten diese Dinge schon lange nichts mehr aus, für sie war es ein Tag wie jeder andere.
„Das hier ist sie.“ Der Gerichtsmediziner, ein dicker Mann, dessen Gesicht dank seiner Brille dem einer Eule glich, zog mit einer übertrieben anmutenden, ruckartigen Bewegung eine der Schubladen heraus. Für einen kurzen Moment befürchtete Zoe, sie müsse gleich eine herunterpurzelnde Leiche mit den Armen auffangen, aber zum Glück schaukelte der Körper der Frau auf der Leichenmulde nur leicht hin und her.
Die Leiche wurde von einem weißen Laken abgedeckt – und an der Stelle, an der normalerweise der Kopf gewesen wäre, sackte das Laken einfach in sich zusammen. Zoe zog das Laken zurück, wohlwissend, dass Shelley inzwischen wahrscheinlich etwas übel war.
Es war ein grauenhafter Anblick. Auf dem nackten Frauenkörper zeichneten sich keinerlei Kampfspuren ab, wenn man davon absah, dass ihr Hals nun einem unsauber abgehackten Baumstumpf aus Fleisch und Blut glich. Unter dem rohen, rötlichen Fleisch waren die sauber, aber in mehreren, unterschiedlichen Einschnittwinkeln durchtrennten Knochen der Wirbelsäule zu erkennen. Die verschiedenen Einschnittwinkel deuteten auf mehrere Schnitte hin.
„Was hältst du davon?“, fragte Shelley mit leiser Stimme, die von dem Respekt vor der Toten zeugte, obwohl diese sie auch dann nicht hätten hören können, wenn sie noch am Leben gewesen wäre – schließlich hatte sie keine Ohren mehr.
„Mehrere Einschläge auf den Hals“, sagte der Gerichtsmediziner in trockenem Tonfall, schob dabei mit einem seiner dicken Finger seine Brille die Nase hoch und zeichnete mit der anderen Hand Schnittbewegungen in die Luft. „Wahrscheinlich eine leichte Klinge. Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber ich würde auf eine Machete tippen. Davon würde man zumindest normalerweise ausgehen.“
„Normalerweise?“, fragte Zoe.
Der Gerichtsmediziner zuckte peinlich berührt mit den Schultern. „Na ja, ich habe so etwas zwar selbst noch nie gesehen“, sagte er. „Aber ich kenne die Statistiken. Eine Machete ist wahrscheinlicher als etwa ein Samuraischwert. Wobei das wohl die zweitwahrscheinlichste Variante ist. Es gibt Leute, die solche Schwerter aus Japan mitbringen oder im Internet bestellen.“
Zoe widerstand dem Drang, ihn darauf hinzuweisen, dass solche Schwerter eigentlich Katanas genannt wurden, und konzentrierte sich stattdessen auf die Leiche. Sie zählte die am Hals der Leiche sichtbaren Einschnittwinkel. Zwei mehr als am Tatort zu sehen gewesen waren, aber die ersten zwei waren so flach, dass die Tatwaffe dabei vermutlich nicht in den Boden eingeschlagen war. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viel Kraft bei den vier Schlägen aufgewendet wurde?“
„Auf jeden Fall nicht genug Kraft, um den Kopf mit einem Schlag abzutrennen“, sagte der Gerichtsmediziner. „Sie können die gegenläufigen Flächen hier und hier sehen: Jeder Einschlag erfolgte in einem leicht abweichenden Winkel, deshalb sieht man hier diese rauen Kanten und Unebenheiten … vier Einschläge, ja, genau wie sie gesagt haben.“
„Würden Sie den Täter als nicht besonders stark einschätzen?“, fragte Shelley, als sie sich endlich ein wenig von dem scheußlichen Anblick erholt hatte.
Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. „Lässt sich ohne Zeitmaschine schwer sagen. Ich kann nur die Einschlagskraft beurteilen. Aber ob das jetzt eine ältere Frau war, die unter Adrenalin stand und all ihre Kraft mobilisierte, oder ob hier Arnold Schwarzenegger am Werk war, der einfach einen schlechten Tag hatte? Keine Ahnung.“
„Können Sie nicht einmal sagen, ob wir nach einem Mann oder nach einer Frau suchen?“
„Nein, das kann ich auch nicht besser beurteilen als Sie“, erwiderte der Gerichtsmediziner. „Mit Blick auf Motiv, Gelegenheit und so weiter sind Ihre Kollegen vermutlich eher im Stande, diese Frage zu beantworten.“
Das war zwar keine besonders hilfreiche Antwort, aber sie war immerhin ehrlich. „Ich glaube wir haben genug gesehen“, sagte Zoe und machte einen Schritt zurück, damit der Mann genug Platz hatte, um den Leichenschrank wieder zu schließen.
„Danke Ihnen“, sagte Shelley zu dem Mann und folgte dann Zoe, die sich schon auf dem Weg in Richtung Ausgang befand.
Draußen war die Sonne inzwischen vollständig aufgegangen und das Sonnenlicht war so grell, dass Zoe sofort ihre Sonnenbrille aus ihrer Tasche kramte. Zudem war die Hitze geradezu erdrückend. Zoe verweilte für einen kurzen Moment im Schatten des Leichenschauhauses und blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung ihres Autos, um genau zu berechnen, wie heiß es darin jetzt wohl sein mochte. Keine schöne Vorstellung.
„Wo fahren wir als Nächstes hin?“, fragte Shelley.
„Zu Lorna Troyes Familie“, erwiderte Zoe. „Vielleicht haben die ja eine Spur für uns. Vielleicht etwas, das sie mit Michelle Young in Verbindung bringt.“
„Laut Akte hat sie nicht mehr viele Angehörige“, sagte Shelley. Sie konnte sich offenbar daran erinnern. Sie musste diesen Teil der Akte schon gelesen haben. Zoe hatte sofort ein schlechtes Gewissen, dass sie selbst das noch nicht getan hatte. „Die Eltern starben vor etwa zehn Jahren bei einem Autounfall. Sie hat nur noch eine Schwester.“
Zoe nickte. „Okay.“ Sie dachte einen Moment lang nach. Beide blieben auf der Stelle stehen; Shelley freute sich entweder genauso wenig auf die Hitze im Auto wie Zoe, oder sie versuchte einfach, Zoe etwas Raum zum Nachdenken zu geben. „Wir wissen noch nicht wirklich, wonach wir eigentlich suchen.“
„Es könnte ein Mann oder eine Frau sein, stark oder auch nicht, und wir kennen keinerlei Körpermerkmale“, seufzte Shelley. „Hoffentlich finden wir bald einen Zeugen. Hast du eine Idee, wo wir mit dem Täterprofil ansetzen sollten?“
Zoe schüttelte leicht den Kopf. „Das könnte man so oder so sehen. Die Vehemenz des Übergriffs lässt auf einen männlichen Täter schließen. Wie wir wissen entscheiden sich Frauen meist für weniger physische Methoden. Andererseits ist deutlich zu erkennen, dass Lorna Troye sich nicht unwohl fühlte, als sie angegriffen wurde. Möglicherweise hat sie dem Täter oder der Täterin sogar vertraut und sich in deren Nähe sicher gefühlt. Das könnte man als Hinweis auf eine weibliche Angreiferin werten.“
„Was ich an der ganzen Sache am auffälligsten finde, ist die Tatsache, dass die Tat im Freien – und nicht gerade gut versteckt – stattgefunden hat.“
„Das zeugt von großem Selbstbewusstsein“, sagte Zoe. „Oder von Wahnsinn. Auf jeden Fall von der Überzeugung, nicht erwischt zu werden. Vielleicht sind die Schläge nicht mit voller Kraft erfolgt, weil der Täter oder die Täterin nicht in Eile war. Als hätte er oder sie sich unantastbar gefühlt. Als wäre die Welt für den Moment des Angriffs stehengeblieben.“
„Mhm“, murmelte Shelley zustimmend und lehnte sich dabei an die kühle Steinwand des Gebäudes. „Irgendwie müssen wir das noch genauer eingrenzen. Uns ein besseres Bild davon machen, was hier tatsächlich vorgefallen ist.“
„Dann wollen wir mal hoffen, dass Lorna Troyes Schwester uns dabei helfen kann“, sagte Zoe und machte widerwillig einen Schritt in die gleißende Hitze und in Richtung ihres Autos.
***Lorna Troyes Schwester lebte in einer kleinen Wohnung nahe am Stadtzentrum, direkt über einem Eisenwarenladen. Der Eingang der Wohnung, der einen schönen Blick auf einen Hammerständer bot, führte sie kurioserweise erst in einen blassgelben Flur und dann in ein Wohnzimmer, das in verschiedenen Schattierungen von Pink und fast ausschließlich in Samt gehalten war.
„Und ich kann Ihnen ganz sicher nichts bringen?“, fragte Daphne Troye, Lornas ältere Schwester, mindestens zum sechsten Mal.
„Ganz bestimmt nicht, Miss Troye, vielen Dank“, versicherte Shelley ihr mit einem Lächeln.
„Oh, es muss Mrs. Troye heißen“, erwiderte Daphne ebenfalls lächelnd und deutete auf ein dumpf glänzendes Armband an ihrem Handgelenk. „Meine Frau hat meinen Namen angenommen, als wir geheiratet haben.“
„Mrs. Troye“, korrigierte sich Shelley. „Das ist sicher eine schwierige Zeit für Sie. Wir wollten Sie nur kurz nach ein paar Dingen fragen, die uns vielleicht dabei helfen könnten, den Mörder Ihrer Schwester zu finden.“
Das ohnehin gezwungen wirkende Lächeln auf Daphnes Lippen verschwand nun vollends. „Ja”, sagte sie und lehnte sich in ihrem Samt-Sessel zurück. Scheinbar hatte sie nun akzeptiert, dass sie ihren Gästen nichts anbieten konnte. „Natürlich. Bitte, fragen Sie ruhig.“
„Was können Sie uns über gestern sagen?“, fragte Shelley. „Hatten Sie Kontakt zu Lorna?“
„Ein bisschen.“ Ihre Augen wanderten kurz zu einem verschlossenen Zimmer am anderen Ende des Flurs, den man durch die offene Tür des Wohnzimmers überblicken konnte, bevor sie wieder zu Shelley sah. „Lorna und Rhona – meine Frau – verstehen sich nicht gut. In letzter Zeit haben wir nicht oft miteinander gesprochen. Zumindest nicht persönlich. Aber ich habe ihr morgens manchmal eine SMS geschickt.“
„Wussten Sie, dass Lorna vorhatte, wandern zu gehen?“
„Ja.“ Daphne griff nach ihrer eigenen Tasse, goss sich eine milchige Flüssigkeit ein, die so stark verdünnt war, dass es sowohl Tee als auch Kaffee hätte sein können, und nahm einen winzigen Schluck. „Das hatte sie mir erzählt. Sie wollte eigentlich mit einer Freundin gehen, aber die hat in letzter Sekunde abgesagt.“
„Wissen Sie, wie diese Freundin heißt?“, fragte Zoe und schlug ihr Notizbuch auf.
„Ähm“, Daphne hielt kurz inne. Sie kniff sich in den Nasenrücken und schloss die Augen, während sie nachdachte. „Lassen Sie mich kurz … Cora! Sie heißt Cora.“
„Nachname?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Den weiß ich leider nicht.“
„Das macht nichts“, sagte Shelley. „Cora ist kein besonders häufiger Name. Wir werden schon rausfinden, wer das ist.“
„Wenn ich darf, würde ich Ihnen gern ein Foto zeigen“, sagte Zoe. Sie sah, wie Daphne die Augen aufriss und zu zittern begann und fügte sofort hinzu: „Nicht vom Tatort. Keine Sorge. Es ist das Foto einer Frau. Wir würden gerne wissen, ob Sie diese Frau kennen – und insbesondere, ob Sie Lorna jemals mit ihr zusammen gesehen haben.“
Sie nahm das gedruckte Foto von Michelle Young aus ihrem Notizbuch und legte es vor Daphne auf den Tisch, damit sie es gut sehen konnte.
„Ich … ich glaube nicht“, sagte Daphne nach einer ganzen Weile und schaute dann wieder zu Zoe auf. „Wer ist das denn?“
„Sie heißt Michelle Young“, sagte Zoe. „Kommt Ihnen der Name bekannt vor?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Halten Sie diese Frau für … die Täterin?“
Ihre Stimme klang zugleich ängstlich als auch hoffnungsvoll. Zu wissen, wer die Tat begangen hatte, wäre sicher eine Erleichterung für Daphne gewesen, keine Frage. Der erste Schritt zu einer Art Verständnis davon, warum man ihr die Schwester genommen hatte. Es tat Zoe leid, dass sie ihr dieses Gefühl nicht geben konnte.
„Nein, Mrs. Troye“, sagte Zoe und nahm das Foto wieder an sich. „Wir glauben, dass es sich bei dieser Frau um ein weiteres Opfer desselben Täters handelt.“
Daphne stockte für einen Moment der Atem, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube hinnehmen müssen. „Lorna war nicht die einzige?“
„Das können wir noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen“, sagte Shelley mit beruhigender Stimme – eine automatisierte Reaktion, die sie schon in ihrer Ausbildung verinnerlicht hatte. Nie etwas mit absoluter Sicherheit sagen, bevor der Fall nicht gelöst war. „Aber es gibt gewisse Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen. Wir ermitteln in diese Richtung.“
Daphne schluckte schwer und senkte den Blick auf die Tasse, die vor ihr stand. Sie sagte jetzt kein Wort mehr. Es schien ihr sichtlich schwer zu fallen, diese neue Information zu verarbeiten.
Zoe tauschte kurze Blicke mit Shelley aus. Sie beschlich das Gefühl, dass sie die Befragung hier am besten beenden sollte – und als Shelley ihr zunickte, wusste sie, dass sie die Situation richtig eingeschätzt hatte. „Vielen Dank, Mrs. Troye“, sagte sie. „Wir lassen Sie nun besser in Ruhe. Sie können uns jederzeit anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte.“
Die Frau vor ihnen zeigte kaum eine merkliche Reaktion, abgesehen von einem angedeuteten Nicken und einer fast nicht zu erkennenden Auf- und Ab-Bewegung der Schultern. Shelley und Zoe standen zögerlich auf, sie beide wollten Daphne so nicht allein lassen – aber sie wussten ja, dass sie nicht auf sich allein gestellt war. Ihre Frau war vermutlich in dem Zimmer am anderen Ende des Flurs, hinter der verschlossenen Tür, um sie bei der Befragung ungestört zu lassen. Die beiden Frauen würden diese schwere Zeit gemeinsam überstehen.
Allerdings würde ihnen das leichter fallen, das war zumindest Zoes Erfahrung, wenn sie mehr darüber wüssten, wer ihnen Lorna genommen hatte – und wenn diese Person ihre gerechte Strafe erhielt.
„Wir fahren besser zur lokalen Polizeiwache und richten dort eine Ermittlungszentrale ein“ sagte Zoe und hielt kurz inne, bevor sie in den Leihwagen stieg. „Je früher wir eine Spur finden, desto besser. Am besten fangen wir bei der Freundin an, Cora.“
„Vielleicht haben wir ja Glück“, sagte Shelley mit schwarzem Humor. „Vielleicht war die es ja.“
Aber als sie sich hinters Lenkrad setzte, dachte Zoe für sich, dass das leider ganz und gar nicht wahrscheinlich war.
KAPITEL SIEBEN
„Also dann“, sagte Zoe, als sie sich vor den Tisch setzte, den sie gerade durch zwei zusammengeschobene Schreibtische gebildet hatten. „Was haben wir bisher?“
Shelley warf einen Blick auf die auf beiden Seiten des Tisches ausgebreiteten Akten. Auf der einen Seite waren die zu Michelle Young, auf der anderen die zu Lorna Troye. „Zwei junge Frauen, etwa gleichen Alters. Beide am helllichten Tag ermordet, was auf ein gewisses Selbstbewusstsein des Mörders schließen lässt. Beide Morde geschahen in der gleichen Region, wenn auch in unterschiedlichen Städten, innerhalb eines Bundesstaates. Die eine Frau blond, die andere brünett. Beide zum Tatzeitpunkt allein unterwegs. In beiden Fällen keine Zeugen.“
„Und die Tatwaffe scheint in beiden Fällen die gleiche gewesen zu sein“, fügte Zoe hinzu. „Eine Machete, mit der die Opfer enthauptet wurden. Wo sich die Köpfe befinden, ist bisher unklar.“
Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Zu Beginn der Ermittlungen in einem Fall mit mehrfachen Morden musste man danach Ausschau halten. Was hatten die Opfer gemein, das sie aus Sicht des Täters herausstechen ließ und deshalb zu potentiellen Zielen machte? Und inwiefern unterschieden sie sich voneinander?
Das ähnliche Alter und das gute Aussehen der beiden Frauen waren ein erster Anhaltspunkt. Gelegenheit mag eine Rolle gespielt haben, oder auch nicht, wie sie bereits diskutiert hatten.
Aber was waren die Unterschiede zwischen den beiden Opfern?
„Die Distanz zwischen den beiden Orten könnte relevant sein. Mit dem Auto braucht man vierzig Minuten.“
„Könnte sein, dass er aus der Gegend kommt“, merkte Shelley an. „Oder vielleicht ist er auf Reisen?“
Zoe neigte ihren Kopf. „Laut Statistik schlagen die meisten Mehrfachmörder innerhalb eines bestimmten Radius um ihr Zuhause herum zu. Nicht so nah, dass sie sich nicht mehr sicher fühlen würden. Weit genug weg, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber nah genug, um sich innerhalb des Gebietes leicht von A nach B bewegen zu können. Ein Zwei-Stunden-Radius um beide Städte herum erscheint mir realistisch.“
Shelley warf einen Blick auf eine Landkarte. „Dann sind immer noch zu viele Ortschaften in dem Gebiet“, sagte sie. „Das müssen wir noch weiter eingrenzen.“
Was blieb ihnen sonst noch?
„Lorna hätte nicht allein sein sollen, als sie ermordet wurde“, dachte Zoe laut nach. „Das heißt, wenn unser Täter auf sie gewartet hat, dann wusste er entweder, dass ihre Freundin abgesagt hatte, oder er wartete nicht auf jemand Bestimmten und wusste nicht genau, wer sein Opfer werden würde.“
Shelley kaute auf einem ihrer Fingernägel und zupfte dabei mit den Zähnen an der Haut herum. „Die Freundin, die abgesagt hat“, sagte sie. „Die sollten wir doch ausfindig machen können. Haben wir Lornas Handy?“
„Noch nicht“, sagte Zoe, nachdem sie eine Beweismittelliste überflogen hatte, die der Sheriff ihnen gegeben hatte. „Sieht so aus, als wäre da jemand dran. Das Handy war passwortgeschützt. Deshalb müssen wir wohl auf eine richterliche Anordnung warten, die den Hersteller dazu zwingt, uns Zugang zu gewähren.“
„Dann müssen wir es mit Social-Media-Konten probieren“, sagte Shelley entschlossen und nahm sogleich ihr eigenes Handy zur Hand, um darauf herumzutippen.
„Ich weiß nicht, ob wir ihre Benutzernamen schon haben“, sagte Zoe und blätterte dabei in dem Bericht zu Lornas persönlichen Gegenständen herum.
„Die brauchen wir nicht“, sagte Shelley mit einem Lächeln. Sie zeigte ihr den Bildschirm ihres Handys. Darauf war eindeutig ein Bild von Lorna zu sehen, auf einer Facebook-Seite. „Es gibt nicht viele Lorna Troyes hier in der Gegend.“
Zoe rutschte etwas näher heran und lehnte sich über den Tisch, um besser sehen zu können „Ist da in irgendwelchen Posts von einer Cora die Rede?“
Shelley scrollte ein wenig herunter. „Ja, guck, hier: Vor ein paar Wochen hat sie sich und Cora bei einem Restaurantbesuch getaggt. Cora Day.“
„Gute Arbeit“, nickte Zoe. „Aber sie hat nicht zufällig auch Michelle Young auf ihrer Freundesliste?“