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Stille Helden
Stille Helden

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Stille Helden

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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»Denke dir, die Heimdorfs hatte schon wieder ein neues Frühjahrskostüm an, sie ging vorhin vorbei. Wie der Mann das gut macht, all den Luxus. – Und denke dir, weißt du, wen ich gesehen habe? Den neuen Oberleutnant, den Freiherrn von Marning. Eine Erscheinung! Vornehm, sag’ ich dir! Er besuchte den Hauptmann. Sie gingen in den Stall. Als ich sie treppab kommen hörte, lief ich in dein Zimmer und paßte hinter den Gardinen auf. Er ist noch oben, gleich geht er – horch – wir wollen achtgeben, du sollst sehen: eine schöne Männererscheinung …«

Und sie rückte schon ein wenig, um sich besser hinter den Mullfalten der Vorhänge zu verbergen.

Klara fühlte sich ja manchmal gequält von dem eifrigen Teilnehmen an den Gleichgültigkeiten rundum.

Aber ihre Dankbarkeit zwang sie zur Geduld und zu freundlichem Eingehen, wenn auch mit noch so flüchtigem Wort. Heute aber war sie auf dem Punkt, sich davon ermattet zu fühlen.

»Was geht mich der Freiherr von Marning an?« sagte sie.

Und plötzlich brach es aus ihr heraus.

»Ich bitte dich – laß die fremden Leute – komm – ich muß mit dir sprechen, dich etwas fragen –«

Sie legte den Arm um die Erschrockene und zwang sie vom Fenster fort.

»Du hast mich lieb. In zehn Jahren, seit ich bei dir lebe, hast du es mir bewiesen. Sag liebe, liebe Lamprächtige, würdest du mich belügen, wenn ich dich etwas fragte?«

»Aber Kind!« Das war ja die alte Frau gar nicht gewohnt, daß Klara so starke Töne anschlug. – Sie war doch fast nie zärtlich, und nie aufgeregt. Und brauchte nun gar die scherzhafte Benennung, die der Geheimrat aufgebracht hatte, in so leidenschaftlicher Weise.

»Wie sollt’ ich dich wohl belügen wollen! Was ist denn?«

»Sage mir, was war mein Vater für ein Mann? Und an was starb er in so frühen Jahren?«

Wie strenge Klara aussah – die geraden Brauen schoben sich näher zusammen, ihre Augen brannten.

Welche Frage! Mein Gott, hatte sie nicht immer gefürchtet, daß das arme Kind irgendwann einmal den alten Geschichten nachfrage!

Und wenn Klara etwas so durchaus wollte! Die kleine gute Alte hatte wohl eine dumpfe Erkenntnis davon, daß sie dem Mädchen nicht gewachsen war. In Klara war irgend etwas Starkes. Man spürte es selten. Aber dann war man ganz klein davor …

»Kind, Liebling, frag mich nicht. Ich muß schweigen.«

»Ah –« Klara beugte sich näher zu ihr, förmlich Angst bekam die alte Frau. – So drang schon diese Bewegung auf sie ein …

»Ah – also es ist etwas zu verschweigen …«

»Ich habe es doch dem Geheimrat versprochen,« klagte sie. »Wäre das nicht wie ein Hochverrat, wenn man ein Versprechen bräche, das dem Manne gegeben worden war?«

»Er soll es nie erfahren, nie, daß du mir die Wahrheit sagtest. Wenn du sie mir nicht sagst, gehe ich zum Pastor, oder zum Standesamt, von Mann zu Mann, bis ich den finde, der weiß …« drohte Klara. Sie war nun völlig außer sich.

Also es gab Schmachvolles zu verbergen!

»Niemand weiß etwas Genaues,« sprach die Alte ängstlich. »Man flüsterte wohl damals … Aber der Geheimrat – du kennst ihn ja. – Er wollte alles versteckt lassen. Und wenn er was will! Dann ist es ja egal, was es kostet. Und er zwingt alle Menschen. Es gelang, alles zu vertuschen.«

Diese Art, von den Dingen zu sprechen und sie nicht zu nennen, wurde für Klara zur Folter.

»Sag doch endlich, was denn – was denn …«

»Nun in Gottes Namen, da du mir gar keine Ruhe läßt, und wenn du mir versprichst, mich nie zu verraten …«

»Ich verspreche es,« sagte Klara hart und fest.

Und da Schwätzer immer fest auf die Verschwiegenheit anderer Leute bauen, nahm sie dies Versprechen für einen Schwur.

Ganz erschöpft war sie, und dennoch im tiefsten Innern vielleicht wie erlöst, daß ihr endlich die Last des Schweigens abgezwungen wurde.

»Ja,« sagte sie, »dein Vater wollte wohl eins, zwei, drei reich werden. Großes Gehalt, Tantieme. – Das schaffte nicht genug, – woher ihm diese Gier nach Geld kam, weiß ich nicht. Es hieß, er fahre oft nach Berlin, und habe da … Aber nein … na genug, sehr treu war er seiner Frau wohl nicht. – Und er spekulierte. – Obwohl sein Kontrakt es ihm verbot, machte er private Geschäfte, waghalsige Sachen mit Tendenz sogar gegen des Geheimrats Unternehmungen – oder unter Benutzung von ihm bekannten Chancen, die ›Severin Lohmann‹ hätten zugute kommen müssen. – Und so derlei. – Und dann kam ein Tag, wo alles zusammenbrach. So was hat immer kurze Beine und läuft nicht lange. Eines Morgens wurde mein Lamprecht, der ja Arzt bei ›Severin Lohmann‹ und allen Beamten war, aus dem Bett geholt, und es hieß, den Generaldirektor Hildebrandt hat der Schlag gerührt. – Deine Mutter hat eine fabelhafte Geistesgegenwart bewiesen. – Sie ließ keinen von den Dienstboten in das Zimmer, und mein Lamprecht dachte ja gleich: so ein Tod hat böse Gründe. Er ging sofort zum Geheimrat. – Und der nahm alles in seine Hand – die Hand kennen wir – stark, sicher! Noch am selben Tag wurde dein Vater eingesargt und auf Befehl vom Geheimrat mußte mein Lamprecht dabei sein, wie der Deckel geschlossen wurde – damit die Männer nicht das Taschentuch lüfteten, das dem Toten über die zerschossene Stirn gelegt worden war.«

Klara stand regungslos.

Nun war der Mund einmal in Bewegung, nun floß die Rede und trug weiter, und die alte Frau legte sich keine Hemmung an.

»Mein Lamprecht sagte mir, daß wir unverbrüchlich schweigen müßten, der Geheimrat habe es ihm befohlen – später befahl er selbst es auch noch mir, als du zu mir kamst. – Solchem Befehl zu widerhandeln, hätte meinem Mann die Stellung und mir später vielleicht das bißchen Pension gekostet – und dich hätte er mir nicht gelassen. – Das Finanzielle nahm der Geheimrat alles in die Hand. Es muß ihn ziemlich was gekostet haben. Und deine Mutter bekam obendrein noch Pension. Na, und wie er für dich sorgte, weißt du selbst am besten. Mein Lamprecht glaubte immer: das sei alles wegen deiner Mutter – die hätte er wie ’ne Heilige verehrt. Gerade so große Männer haben ja manchmal irgend einen geheimen Idealismus – und in jenen Tagen ist es ihm auch mal so entfahren, er hat zu meinem Lamprecht gesagt: ohne die Frau wär’ ich ’n rauher Autokrat geworden. – Ja Kind – nun weißt du es! Aber – o Gott, wenn du mich an ihn verrätst!« jammerte sie.

»Ich habe versprochen, zu schweigen,« sprach Klara, »nimm das für einen Schwur.«

Die alte Frau hörte die tonlosen Worte – aber zugleich blitzte durch ihre Erregung ihr kleines Altweiberinteresse am Nebenmenschen.

Sie hörte nämlich Schritte treppab kommen und sich durch den Flur der Haustür nähern.

Mechanisch – es trieb sie – war sie, husch, wieder am Fenster.

»Der Freiherr von Marning!« flüsterte sie wichtig.

Da ging Klara hinaus. In ihrem Zimmer stand sie noch minutenlang …

Sie starrte ins Unbestimmte, sah nicht draußen den Hof mit dem zu hoch aufgeschossenen Lindenbaum und seiner sperrigen Krone, darin der Abendschein Goldglanz entzündet hatte, während unten der schwarze Stamm und die rotbraun gestrichene Stalltür, die seine Linie überschnitt, in melancholischem Schatten lagen …

Sie sah ein mächtiges graues Haupt und blitzende Herrenaugen …

Sie wandte sich, blickte im Zimmer umher – ihre Augen blieben an der Uhr hängen – die gelbbronzene kleine Pendelscheibe, eine starke Handbreit unter der größeren gelbbronzenen Zeigerscheibe, ging hin und her und her und hin zwischen den Alabastersäulen, und der kleine Amor von weißem schimmernden Stein fiedelte sein fröhliches stummes Liebeslied …

Nun schlug die Uhr siebenmal, hell und klingend.

Es war, als habe der letzte Ton Klaras Haltung getroffen und zerschlagen …

Sie legte die Hände vors Gesicht und weinte – weinte.

Was hatte er alles getan – für sie und ihre Mutter!

Wie ihm jemals genug danken!

»Wenn ich doch sterben könnte, um ihm damit Gesundheit zu erkaufen!«

Aber sie wußte wohl, auf solchen Austausch läßt sich das Schicksal nicht ein.

Wie ihm jemals genug danken?

Ein Leben reichte dazu nicht aus. – Mit welch heißer Freude würde sie es für ihn hingeben.

Ihr ganzes Wesen war wie durchglüht von der Begierde, sich für ihn opfern zu dürfen.

3

Es sei ein Wunder, sagten alle Leute. Von einem erstaunlichen Reorganisationsvermögen sprachen die Ärzte, als sie wieder einmal von Kiel, Hamburg und Lübeck zur Beratung und Kontrolle sich bei dem alten Herrn zusammenfanden. Niemand schrieb die Fortschritte, die in den letzten vierzehn Tagen sich gezeigt hatten, ganz allein der täglichen Behandlung des Doktors Sylvester zu, der mit Massage und Elektrizität morgens und abends die Lähmung der linken Körperseite zu bekämpfen suchte.

Vielmehr waren alle überzeugt, daß die Wiederkehr des Sohnes und die Versöhnung mit ihm den Willen zum Leben in dem alten Herrn neu geweckt habe. Daß zwischen Vater und Sohn nicht alles in Ordnung gewesen sein konnte, hatte man fühlen müssen, als der Sohn nicht an das Krankenbett des Vaters kam.

»Man sieht es wieder,« sagte Professor Rößler, »je intelligenter, nervöser und leidenschaftlicher ein Kranker ist, desto weniger hängt, unter gewissen Umständen, seine Genesung von der Wissenschaft, desto mehr aber von den Dingen ab, über die wir keine Gewalt haben.«

Und die Herren reisten wieder ab, in der Hoffnung, daß sich vielleicht noch eine leidliche Bewegbarkeit der linken Körperhälfte allmählich werde erzielen lassen; und mit der Gewißheit, daß Schlaf, Appetit und Stimmung des Patienten sich auffallend gebessert hatten. Leupold, dessen Auskünfte den Ärzten immer die maßgebendsten waren, konnte sagen, daß der Geheimrat die Dienerschaft nicht mehr in ungewöhnlicher Frühe herausklingle, sondern, auch wenn er wache, geduldig bis halb sieben liege. Und das war immer seine Stunde gewesen. Geduldig – das war gewiß ein Symptom! In dem Ablauf all der kleinen Lebensumstände, die mit der Uhr zusammenhängen, in seinem Verhältnis zu den Dingen der häuslichen Umwelt war ja der Geheimrat von der bedrohlichsten Ungeduld. Geduld kannte er nur in den großen Aufgaben der Arbeit. Wie besänftigt mußten also sein Gemüt, wie angenehm seine Gedanken sein, wenn er still wachend liegen mochte.

»Die wissen viel, was mir neuen Mut gebracht hat!« dachte der Geheimrat spöttisch hinter ihnen her.

In den vergangenen Monaten hatte er geglaubt, sein Leben und sein Werk brächen zusammen. Nun blühten neue Hoffnungen vor ihm auf.

Wie einfach.

Aber die ganz großen Wendungen im Dasein haben ja immer etwas wunderbar Einfaches. –

Am Tage nach der Abreise der Ärzte troff der Regen herab, kalt und trostlos. Über dem Hochofenwerk ballte sich das Dunstgewölk, und zerdrückte Rauchschlangen schlichen sich, niedergepreßt von Wind und Regen, seitwärts weg. Drüben vor der kleinen Stadt um den aufrechten Kirchturm auf hohem Sandufer strichen die Tropfenlinien nieder, so daß es aussah, als stehe eine gerillte Glasscheibe vor dem Bilde. Das fernere Gelände verschwamm im Grau. Auf dem Fluß zog ein Dampfer vorbei; seine hochgestapelte Bretterladung sah ganz ockerfarben aus von all der Nässe. Die schwedische Flagge hing als durchfeuchteter Lappen hinten am Heck. Er ließ aus seiner Sirene einen jammervoll aufheulenden Ton entweichen, als er an den Schiffen vorbeikam, die tief unter den weitausreichenden Skelettarmen der eisernen Entladebrücken ankerten. Dieser Schrei, der wie eine Klage durch die Luft schnitt, war der höfliche Gruß des Schweden an seine Kameraden.

Das ganze Bild zeigte Düsterheit. Aber das konnte die Stimmung des alten Herrn nicht in Unmut auflösen. Dazu war sie zu fest von frohem Glauben getragen.

Er saß in seinem Erker und schrieb. Den Bogen konnte er sich gut auf eine Unterlage mit Reiszwecken befestigen. Dann lag das Papier glatt und fest vor ihm, und er konnte es beschreiben. Denn so weit vermochte er die Linke noch nicht zu erheben, um mit ihr den Briefbogen niederzuhalten.

Ihm war zumute, als schreibe er den wichtigsten und beglückendsten Brief seines ganzen Lebens.

An Klara war er gerichtet, und er redete sie an:

»Mein teures Kind!

Es ist mir seit Ihrer frühen Jugend eine liebe Angewohnheit gewesen, Sie so zu nennen. Aber nun könnte wohl aus der Angewohnheit ein Recht werden, wenn Sie die Frage bejahen, die mein Sohn heute nachmittag an Sie richten wird. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, Sie, meine liebe Klara, darauf vorzubereiten, daß er zu Ihnen kommen wird. Heute, weil es Mittwoch ist, brauchen Sie nicht zum zweitenmal zur Schule. Wynfried darf also darauf rechnen, Sie zu Hause zu finden.

Ich selbst habe Ihnen, ehe Wynfried Sie spricht, noch etwas zu sagen, und das ist, noch mehr als der Wunsch Sie vorzubereiten, der Grund, weshalb ich schreibe.

Nur ein ganz kurzes Wort! Dieses: daß Dankbarkeit Sie nicht bestimmen darf, sich für Wynfried zu entscheiden! Ganz gewiß erraten Sie mit Ihrem Herzen, daß es für mich eine große Freude sein würde, Sie als Tochter umarmen zu können. Und Sie rufen sich vielleicht ins Gedächtnis in dieser Stunde, daß ich es war, der die bitterste Not des Lebens von Ihnen und Ihrer Mutter ablenken durfte …

Mein teures Kind, Sie wissen es: ich habe Ihre Mutter geliebt! Ich durfte sie nicht besitzen und sie nicht die Meine nennen. Wenn Liebe so um ihr heiligstes Recht betrogen wird, bleibt ihr nur eine Art von Linderung und Erlösung: für den geliebten Menschen und das, was ihm teuer ist, ein wenig sorgen zu dürfen. Das war das bescheidene stille Glück, das ich mir gönnen konnte.

Sehen Sie es so, und Sie sehen es richtig. Und dann verstehen Sie auch: Sie stehen nicht in meiner Schuld!

Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.

Glauben Sie das einem alten Mann, dessen Leben rauh war und voll Haß. Und dem es vielleicht niemand zutraut, daß er immer tief in seinem Gemüt einen großen Schmerz, einen sehr glücklichen Schmerz mit sich herumtrug.

Selbst wenn Sie sich gegen meine Hoffnungen entscheiden – nichts, gar nichts kann mich hindern, zu bleiben

Ihr väterlicher Freund

Severin Lohmann.«

Er war sehr bewegt, und als ihm das Wort von dem glücklichen Schmerz in die Feder kam, feuchtete sich sein Auge.

Er dachte: sind nicht vielleicht unsere Schmerzen mehr unser köstlicher Besitz als unser Glück?

Seine Zuversicht war groß. Er bezweifelte im Grunde nicht, daß Klara seinen Sohn mit Freuden annehmen werde. Sie war seit jenem Sonntag so verändert! In ihrer Stimme bebte ein Nebenklang mit – sie war wie von zärtlicher Ergebenheit gefärbt und umschmeichelte den Hörer wie Liebkosung. Ihr Wesen zeigte eine neue Art von Demut und Hingebung – ihre Hand schien noch pflegsamer, leiser geworden, und der gemessene Ernst, der ihr schon im Schatten ihrer Kindheit angeflogen war, wich einer Weichheit, die sich in Blick und Bewegung deutlich verriet.

Gerade von dem Tag an, wo sie seinen Sohn kennen gelernt hatte.

Und obschon der alte Herr sich ganz gewiß nicht für einen Frauenkenner hielt, glaubte er doch so viel von einem Mädchenherzen vermuten zu dürfen, daß es in aufwallendem Gefühl dem Vater sich nähere, – weil es dem Sohn aus holder Scheu sich nicht verraten wolle … Welche Glückseligkeit dieser Gedanke! Und er sah auch so viel Gerechtigkeit darin, wenn Tochter und Sohn zweier Entsagenden sich finden würden.

Wie machte dieser Wahn ihm auch den Weg zum Sohne leicht!

Er hatte keine Achtung vor ihm haben können. Und das zu verbergen, war seiner Natur in all ihrer Wahrhaftigkeit und Offenheit sehr schwer gewesen, obschon er begriff, daß seine Verachtung den Sohn vollends zerstören mußte.

Nun fühlte er: wenn dieses Mädchen ihn lieben konnte oder im Begriff war, ihn lieben zu lernen, dann gab es noch Werte in seinem Sohn. –

Sein Verkehr mit ihm wurde milder und gleichmäßiger.

Und als Wynfried ihm gestern erklärt hatte, daß er bereit sei, um Klara zu werben, hielt er lange stumm die Hand des Sohnes in der seinen. Wynfried sagte, daß der Wunsch des Vaters und die Leere und Zwecklosigkeit seines Lebens ihn bestimme; die Liebe freilich, die ein Mädchen zu erwarten pflege und die es verlangen könne, die könne er nicht vorheucheln. Sie sei ihm sympathisch. Das sei alles.

»Darüber sprecht euch nur unter vier Augen aus,« hatte der Vater geantwortet. »Wenn nur einer liebt, ist es genug. Denn das weckt auch nach und nach die Liebe des anderen. Und sie liebt dich. Sie ist auf das rührendste verändert, seit du hier bist.«

Das glaubte Wynfried. Er war es so gewohnt, daß die Frauen ihn liebten. Aber er hatte keine, auch nicht die leiseste Regung von Eitelkeit dabei, er stand so unberührbar fern von diesen Dingen – sein Herz war tot.

Und nun war dieser vorbereitende Brief geschrieben. Leupold sollte ihn in das Schulhaus tragen, genau um zwölf Uhr sollte er ihn, nach der letzten Unterrichtsstunde, überreichen … Dann las sie ihn, kehrte heim – konnte in Ruhe nachdenken – sich vielleicht, wenn sie wollte, mit der Pflegemutter aussprechen – war gefaßt und klar in ihrem Entschluß, wenn Wynfried um drei hinüberführe. Wohldurchdacht war alles.

Jetzt freilich hatte die Uhr von der Zimmertiefe her noch nicht acht Schläge herklingen lassen. –

Und die, an die der wichtige Brief gerichtet war, verließ erst gerade ihre Wohnung, um ihrem Beruf nachzugehen.

Klara erschrak beinahe vor dem Wetter. Oft war’s ja draußen viel erträglicher, als es von drinnen schien. Heute zeigte es sich umgekehrt. Die schönen Frühlingstage hatten die Haut schon an Wärme und Sonne gewöhnt. Nun schlug der unnatürlich kalte Regen ihr ins Gesicht. Der Schirm nützte wenig. Aber Klara war wettersicher angezogen. Auf dem braunen Haar saß eine Art Sportmütze von pastellblauer Wolle. Und ihre Gestalt war ganz und gar in einen dunklen Regenpaletot eingeknöpft.

Wie trübselig die Linden um die roten Kirchenmauern standen; aller Frühlingsglanz war aus ihren Wipfeln herausgespült. Die Blechrinnen, die am langen Dachsaum des Kirchenschiffes zu beiden Seiten hinzogen, waren so übervoll, daß allerwärts Tropfenfälle ihre Linien begleiteten; ihre Abflüsse, die grauen Drachenköpfe aus Zink, spieen einen dicken Strahl von Wasser hinab. Es rauschte und plätscherte überall. – Keine fröhliche Morgenfrühe. –

Klara bemerkte, daß der Hauptmann von Likowski mit einem Kameraden vor ihr herging – die Herren schienen ebenfalls den Weg zur Fähre hinab zu nehmen. Sie hatten hohe Stiefel an und braune Handschuhe. Ihre Mützen waren wie bestäubt von Regentropfen.

Den Hauptmann kannte sie sehr gut, wohnte er doch mit ihr unter einem Dach. Und die engen Verhältnisse sowie die übereifrige Dienstwilligkeit der alten Doktorin Lamprecht für ihren Mieter brachten es mit sich, daß Likowski oft im Erdgeschoß vorsprach.

Es hieß, er sei ganz wohlhabend. Aber er führte das einfache, regelmäßige Dasein des preußischen Offiziers, der sich für seine scharfe Arbeit frisch zu halten hat.

Er war ziemlich groß, etwas steif von Haltung, und in seinem rötlichen Gesicht stand der weißblonde Schnurrbart aufgebürstet über einem Mund mit vorstrebenden Lippen und entschlossenem Ausdruck. Auch seine hellblauen Augen blickten unternehmend. Haltung und Miene eines künftigen Divisionärs – zum mindesten! Doch neckten ihn die Kameraden mehr wohlwollend als spöttisch mit seinem Feldherrnwesen.

Richtig – die Herren blieben dicht vor ihr. Nun ging’s die Fahrstraße hinab. Sie war so steil, daß es dem Abwärtsschreitenden immer schien, als schubse ihn etwas vorwärts. Und ihr Pflaster war grob. Denn die Hufe der Pferde wären ohne den Halt, den ihnen die kräftigen Kopfsteine gaben, beim Hinauf- und Hinabfahren schwerer Lastwagen oft ausgeglitten. Die Straße mündete an der Anlegebrücke, die dem Ufer des Eisenhüttenwerkes schräg gegenüber in den Fluß hineingebaut war. Sie bezeichnete auch gewissermaßen einen Abschnitt in der Linie seines Laufes. Von seiner Quelle an war die liebliche Anmut wiesenreichen Binnenlandes seine Begleitung; dann zog er an der uralten Hansestadt vorbei und spiegelte deren rote Giebel und zahlreichen hohen Kirchtürme wider. Von da ab hatte Wasserbaukunst ihm viele Windungen abgeschnitten und ihm gerade Richtung aufgezwungen, ohne sein idyllisches Wesen merklich verändern zu können. Aber in dieser Gegend häufte die Industrie ihre grauen und toten Farben auf das Grün der Ufer. Und unmittelbar hinter dem Punkt, wo das Städtchen auf ragendem Ufer lag, weitete er sich zu einer gerundeten Bucht, die, östlich von größeren Waldungen begrenzt, schon durch den Geruch ihres Wassers die Nähe des Meeres ahnen ließ. Es war Salzatem darin. Im Volksmunde hieß der Fluß auch von da ab, wie ihn schon die alten Geschichtsbücher nannten: die Salzentrave.

Und die Navigationszeichen, die schweren Bündel der mächtigen eingerammten Stämme, der Duc d’Alben, wie auch die ziegelroten Markierungsstangen, die den Schiffen den Fahrweg durch das Wasser der Bucht zeigten, gab ihr einen großartigen, an die freie, weite See erinnernden Charakter.

Scharf wehte der Wind über die vom Regen bestrichene und gegen den Strom aufgewühlte Wasserfläche daher. Klara fühlte ihn im Gesicht, als strichen ihr kalte, nasse Hände über die Haut.

Vom Punkt aus, wo die Fahrstraße auf die Anlegebrücke stieß, mußte man noch ein Streckchen am Fuß des Abhangs, dicht am Wasser, uferaufwärts gehen, um an die kleine Fährstelle zu kommen. An ihr ragte ein geteerter Pfahl mit einer Glocke und einer weißen Inschrifttafel. Und hier mußte nun Klara auf den Hauptmann von Likowski und seinen Kameraden treffen.

Sie warteten; gerade kam der Fährmann heran und hielt mit starken Fäusten sich und damit den Kahn an der Eisenkette fest, die auf dem Brückchen aus einem Ringe heraus lief. Er stand ein wenig gebückt, sein Südwester war blank vom Regen, sein Rock von Wachsleinwand glänzte naß.

Der Hauptmann stieg zuerst ein – es bedurfte dazu nur des einen Schrittes hinab auf den flachen Boden des Kahnes. Er wollte Klara aufmerksam die Hand reichen. Aber sie, mit Büchern und Schirm beladen, tat schon selbständig diesen einen tüchtigen Schritt hinab. Ihr folgte der andere Offizier.

»Guten Morgen, Fräulein Hildebrandt.«

Klara nickte – sie schloß gerade ihren Schirm.

»Mit dem aufgespannten Schirm – im Winde – das ist mehr Hindernis als Schutz,« sagte sie.

»Immer tapfer in jedem Wetter in den Morgen hinaus!« sprach er wohlwollend.

»Man muß! Ich weiß auch längst, daß das sehr gesund ist. Sie können sich für Ihren Dienst ja auch nicht nur Schönwetter aussuchen,« meinte sie.

»Bitte –« sagte jetzt der Kamerad.

Und Herr von Likowski stellte vor: »Freiherr von Marning – Fräulein Hildebrandt …«, und er setzte auch gleich erläuternd hinzu: »Das gnädige Fräulein ist die Pflegetochter meiner fürsorglichen Hauseigentümerin.«

Gerade schrie der schwedische Dampfer seinen Kameraden, die unter den Entladebrücken drüben ankerten, seinen klagenden Sirenengruß zu. Und der Fährmann wartete im Kahn. Es war geraten, den Dampfer erst vorbei zu lassen, denn die Fährstelle lag ja noch im schmalen Flußlauf.

Klara sah den Offizier mit unbefangener Freundlichkeit an. Und sie war sogleich eingenommen von diesem bartlosen Gesicht. Beinah erstaunt, als sei es ihr kein neues, fremdes! Den Farben nach war es das eines dunkelhaarigen. Die Züge hatten festen männlichen Schnitt. Die braunen Augen fielen besonders auf. Eine seltsam eindringliche Leuchtkraft war in ihnen; aber es waren doch keine Schwärmeraugen. Vielmehr hatte man sogleich das Gefühl, aus ihnen blicke ein sicherer Wille. Diese ganze Erscheinung gefiel ihr – sie wirkte auch förmlich kriegerisch, in dem feldmarschmäßigen, betropften Anzug, an dessen hohen Stiefeln schon die Spuren schlammiger Wege klebten.

So stand er vor ihr. –

Und das ganze, weite, vom Wetter umdüsterte Bild um ihn her war wie ein Rahmen – voll Bedeutung.

Der Nachen schaukelte mehr und mehr. Obgleich der Fährmann, gebückt, mit angespannten Muskeln, gewaltsam die eiserne Kette umklammert hielt. Strom und Wind zerrten am Fahrzeug. Und nun zog in vorsichtiger Ruhe der Dampfer vorbei, in der hier gebotenen, verminderten Geschwindigkeit.

Drüben rauchte und rumorte das Hochofenwerk; da und dort glühte feuriger Schein zwischen seinen Bauten.

Der ungeheure Himmelsraum war grau, und dunkle Wolken jagten in der Höhe.

»Gnädiges Fräulein haben keine Furcht, bei solchem Wetter sich übersetzen zu lassen?« fragte der Freiherr von Marning.

»Ich fahre oft bei viel größerem Unwetter. Drüben habe ich ein Amt. Ich bin Lehrerin. Unterrichte an der Schule von Severinshof. Wenn ich da wohnen wollte, müßte ich die alte Dame verlassen, bei der ich seit meinem zehnten Jahr lebe. Das täte ihr zu weh,« sagte Klara einfach.

Nun stieß der Kahn ab, und Likowski und Marning hielten sich lachend aneinander fest – denn beinahe hätten sie im ersten Anstoß das Gleichgewicht verloren.

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