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Stille Helden
»Ja, du erinnerst dich recht,« sprach der alte Mann langsam, »in ihr waren Schönheiten … ein Wunder war sie …«
Und sein Gesicht bekam einen Schein, als läge Andacht darauf.
Sein Sohn sah ihn an – ihre Blicke begegneten sich, ruhten lange ineinander. Und wieder war dem Sohn, als höre er den Vater sagen: »Was weißt du von mir!«
Ihm fiel ein, wie der Vater damals voll Großmut alles vertuschte, was dem ungetreuen Beamten noch im Grabe den Schein der Ehre hätte nehmen können … Wie er der Frau beigestanden, die nicht lange danach hinstarb – wie er für das Kind gesorgt. –
Und unverwandt sahen sie sich an, Vater und Sohn –
Bis der Vater, wie in einem stolzen Bekennen der Reinheit für sich und eine Tote, hoch und frei sein Haupt erhob …
Da war es Wynfried, als habe er an Pforten gestanden, hinter denen unantastbare Heiligtümer verschlossen gehalten würden …
»Ich habe Klara Hildebrandt seit vielen Jahren nicht mehr gesehen,« sprach er langsam.
Sein Vater reichte ihm die Rechte hin. – Obgleich Wynfried wußte, der junge Doktor Sylvester werde jeden Augenblick erwartet, um die Behandlung mit Massage und Elektrizität zu beginnen, die täglich zweimal vorgenommen wurde, fühlte er doch, daß diese Verabschiedung aus einer seelischen Aufwallung heraus erfolgte. Aber er spürte auch einen festen Druck der Hand – war das Versöhnung? eine stumme Überredung? ein neues Bündnis zwischen zweien, die von der Natur aufs engste verbunden waren, sich aber nicht gekannt hatten bis zu dieser Stunde?
Kannten sie sich denn jetzt?
Und es war dem Sohne, als dürfe er das Wort des Vaters auch für sich in Anspruch nehmen und gegen ihn kehren und auch fragen: »Was weißt du von mir?«
Da durchschauerte es ihn: was weiß ich denn selbst von mir? Und das elende Gefühl der Lebensleere, der Nichtigkeit kam abermals über ihn.
Er ging in sein Zimmer und warf sich wieder auf sein Bett.
Er starrte ins Unbestimmte.
»Eine Kugel durch den Kopf – das wäre das richtigste …«
Aber vor diesem Gedanken erschrak er. Denn ihm war, als sähe er seines Vaters Angesicht. – Er hatte eine Vision. – Sein Vater stand an seiner Leiche, aber der alte Mann weinte nicht – Verachtung war in seinen Zügen, die furchtbar schienen.
Und die Angst vor dieser Verachtung zwang ihn zum Leben zurück – das fühlte er.
Aber wie leben? Unter welchen Möglichkeiten?
Ah – gleichviel unter welchen – wenn sie ihm nur Inhalt für sein Dasein vortäuschten.
Diese Leere trieb ihn sonst doch noch zu dem, was sein Vater verachten würde.
2
Nun war es Sonntag. Aber Leupold fühlte, daß sein Herr sich nicht in der beruhigten Stimmung befand, wie sonst, wenn Fräulein Hildebrandt erwartet wurde.
Vor dem Klubsessel, dem Audienzstuhl, deckte er den Teetisch. Sonst paßte der Geheimrat sogar auf, ob auch schöne Blumen aus den Treibhäusern heraufgeholt worden waren, denn die Blumen durfte Fräulein Hildebrandt nachher mitnehmen. Ja, er hatte sich wohl schon den Teller mit Kuchen zeigen lassen, um nachzusehen, ob die Cremetörtchen vorhanden seien, die Fräulein Hildebrandt gern zu essen scheine. Leupold machte sich manchmal Gedanken über das starke Interesse seines Herrn an Klara Hildebrandt. Er wußte: die Hildebrandts hatten damals schon ihre zweijährige Tochter mitgebracht – wenn also böswillige Menschen davon munkelten, Klara solle die natürliche Tochter des Geheimrats sein, so war das nur böswilliger Klatsch. Anderseits, wenn er so völlig von ihr umsponnen war, weshalb hatte er sie denn nicht schlankweg zu seiner Frau gemacht? Vor einem Jahr noch war der Geheimrat eine wunderbare, stattliche, fürstliche Erscheinung, und es wäre doch nicht das erste Mal gewesen, daß ein fünfundsechzigjähriger Millionär sich das Vergnügen machte, eine zweiundzwanzigjährige junge Dame zu heiraten.
Leupold beschloß aber solche Betrachtungen immer mit dem bestimmten Wort: Dazu ist er zu klug! Und er war natürlich mit solcher Klugheit sehr zufrieden, denn er sah, ohne sich dessen bewußt zu sein, seinen Herrn einfach als sein Eigentum an. Durch eine Wiederheirat wäre er in den Hintergrund gedrängt worden. Er war seinem Herrn unentbehrlich, und das wollte er bleiben. Diese Empfindung war sein eigentlicher Lebensinhalt.
Heute nun kümmerte der Geheimrat sich um nichts, sah kaum die Rosen an, die Leupold vorwies, und wehrte unwillig ab, als der Kuchenteller zur Begutachtung gezeigt wurde.
»Was er wohl hat,« dachte der Diener. Das Leben seines Herrn lag so durchsichtig vor ihm hingebreitet, daß er sich trotz aller ihm wirklich eigenen Diskretion nicht enthalten konnte, sogleich zu begrübeln, was er gelegentlich an einer Stimmung nicht verstehen konnte.
Die heutige Undurchdringlichkeit der Herrenlaune schien besonders rätselhaft.
Der Geheimrat hatte freilich so viele schwere Gedanken, daß sie ihm wie zyklopische Blöcke im Gemüt lagen. Seine Intelligenz, seine Lebenserfahrung, sein starkes Gefühl versuchten sich an diesen schweren Dingen. Aber ihnen war nicht beizukommen.
Zum erstenmal geschah es ihm, daß er einfach keine Antwort wußte auf die Frage: Wie fang’ ich das an?
Wynfried war noch am Tage jener Unterredung nach Hamburg gereist und hatte mit dem Rechtsanwalt Koppen alle diese trüben Finanzangelegenheiten durchgesprochen. Damit war das erledigt. Es galt nur noch, sobald Koppen alle Forderungen auf Recht und Reinlichkeit geprüft haben würde, einen Scheck mit einer wahrscheinlich sehr großen Zahl auszuschreiben. Heute mittag war er schon wieder zurückgekommen. Der Vater mochte keinen Zeugen beim Essen haben, denn es war ihm peinvoll, wenn er mit einer Hand Vorgeschnittenes aufgabeln mußte. So aß jeder für sich. Wynfried unten im Speisesaal voll schön stilisiertem Prunk. Der Geheimrat in seinem Sessel, der seine Gruft und sein Thron zugleich war. Bei der Begrüßung erschien es aber dem Vater, als sei der Ausdruck seines Sohnes noch nicht ein bißchen heller und freundlicher. Die gleiche vornehme Apathie, die so empörend auf den kraftvollen Riesen wirkte, der sich noch wie ein Koloß an Willen vorkam, trotz der halbseitigen Lähmung, gegen diesen gleichgültigen jungen Mann …
Er hatte gebeten, was nach des Geheimrats Einbildung »bitten« hieß, in der Tat aber einfach immer wie ein Kommando klang, daß Wynfried doch um fünf Uhr zum Tee heraufkommen möge.
»Dann kann ich dich ihr vorstellen.«
Wynfried wußte von selbst, daß damit Klara Hildebrandt gemeint sei. Er verbeugte sich nur gehorsam zustimmend. Seine Gedanken verschwieg er. Sie lauteten ungefähr: Sie werden sagen, der Vater hat ihn mit dem ersten besten Mädchen verheiratet, bloß damit er in Ordnung kommt. »Sie« – seine Genossen der letzten tollen Lebemannsjahre, all diese jungen Männer, die in ihren Vätern vor allem nur die Geldquellen sahen – und andere »Freunde«, die auf seiner Freigebigkeit und Sorglosigkeit schmarotzten. Und all die »Freundinnen«, die ihn zu trösten und anzupumpen suchten und ihn betäuben halfen – Ja, all diese würden sich totlachen und es sich zuschreien: Wißt ihr, Winni hat man zum Standesamt geschleppt … Aber es war egal, was diese spotteten – alles war egal –
Nun saß der Geheimrat da, wuchtig und groß, in der Umrahmung der gelbgrauen Lederlehne, und versuchte vergebens die Frage vom Fleck zu wälzen: Wie fang’ ich das an?
Er fühlte, daß er des Gehorsams Wynfrieds sicher sein konnte und daß dieser pünktlich gegen fünf Uhr eintreten würde.
Sollte er die Zeit vorher benutzen, um Klara vorzubereiten auf seinen Plan und Wunsch? Sollte er hoffen, daß Wynfried, von ihr bezaubert, mit neu erwachendem männlichen Mut darauf ausgehen würde, sich das Mädchen zu erobern? Lag nicht die Gefahr nahe, daß er mit zu offenem Wort das feine herbe Kind kopfscheu machen würde, wie ein scheues Wild von einem ungewohnten Laut vergrämt wird? – War es klüger, zu schweigen oder zu reden? den Dingen ihren Lauf lassen?
Aber wer verbürgte ihm denn, daß ihm Zeit blieb, den Lauf der Dinge abzuwarten? Wußte er so gewiß, daß sein Wille zum Leben siegreicher war als der Dunkle, der neben ihm lauerte?
Und war Wynfried in seiner Schlappheit und blassen Unlust wohl der Mann, dem ein Mädchenherz schnell zufliegen konnte?
Ganz tief in seinem Unterbewußtsein war ja das Gefühl: Sie wird es meinetwegen tun …
Aber dem Gefühl verbot er die Deutlichkeit. – Es sollte doch für sie kein Opfer werden! Sie sollte Aufgaben, Reichtum, Achtung, Zuneigung finden, und damit das Glück …
»Wie fang’ ich es an?«
Er fand keine Antwort.
Und so beschloß er, der sonst die Dinge mit klaren Vorsätzen und starken Händen lenkte, sich zunächst von ihnen lenken zu lassen. Er wollte abwarten, wie weit Gespräch und Stimmung und jenes unwägbare Gefühl für die Gunst oder Ungunst des Augenblicks ihm erlauben würden zu gehen.
Er kam durch diesen Entschluß ein wenig innerlich zur Ruhe. Wunderbar wohl und frisch war ihm zumut, so daß es ihm selbst erstaunlich schien – bei seinem Zustand!
Der Sonntagsfrieden draußen und drinnen hatte für ihn etwas Pastorales. Früher war er nie dazu gekommen, ihn überhaupt zu bemerken.
Sonntäglich war ihm zumut, obschon draußen von pastoralem Frieden keine Rede sein konnte. Düsteres Gewölk flockte sich wie jeden Tag durch den bläulichen Dunst, der die Schornsteine und die düsteren Burgen der Hochöfen und ihrer Genossen, der starren schwarzen Winderhitzer, umspann. Emsig krochen die Erzwagen zwischen dem Gerippe der Schrägaufzüge zur Höhe der Öfen hinan, und die dumpfe Musik von tausend fallenden, zischenden und stoßenden Geräuschen summte durch die Luft.
Aber die Belegschaft, die in Verfolg des automatischen Wechsels der Arbeit jetzt vierundzwanzig Stunden frei hatte, gab sich der Sonntagsfreude oder Ruhe hin. Auf der Landstraße gingen saubere und geputzte Menschen vorbei. Manche blieben stehen, um mit der Fähre nach Schlutup hinüberzufahren, wo es bescheidene Unterhaltungen gab.
Die Sonne schien. Über dem weiten Land lag Helle, und der Fluß glitzerte. Er war belebt von Booten, und weiße Segel wurden vom Winde träge gebläht. Am Himmel zogen Wolken. Ihre Schatten flogen mit und schoben sich über die Felder, goldgrüne Wiesen für eine Weile dunkel fleckend.
Ins Zimmer kamen sie nicht. Das war der Mittelraum des ersten Stockwerkes. Das breite Fenster und der große Erker sahen gegen Osten, auf die Anlagen, das Städtchen und den Fluß und die Landschaft, die drüben hinter dem Städtchen sich weit und breit dehnte. Vom Erker hatte man auch den Blick auf das Werk.
Es hatte den Geheimrat viel gekostet, sich an den Raum zu gewöhnen. Quälende Erinnerungen hingen daran. Es war einst das Zimmer seiner Frau gewesen. Aber es lag so bequem neben seiner Schlafstube, daß man es wohl oder übel hatte als Tagesaufenthalt einrichten müssen, seit seine Lähmung ihn hinderte, die Treppen hinabzukommen. Aber er freute sich doch auf die nächste Woche, dann sollte der Lift fertig sein, der für seinen Gebrauch eingebaut worden war und der ihn und seinen Stuhl hinab in das Erdgeschoß und zugleich in den Park befördern sollte. Diese Aussicht erschien ihm wie das Ende einer Gefangenschaft, und bald vielleicht, bald konnte er sich hinüberfahren lassen aufs Werk – und bald vielleicht auch kam in sein Haus das Glück, und es begann zu blühen – wirklich zu blühen …
O nein, er wollte noch nicht sterben! Und er empfand wieder jenen wunderbar trotzigen Willen zum Leben.
Früher hatte er nie an den Tod gedacht und das Leben als etwas Selbstverständliches hingenommen. Nun war in ihm ein förmlich künstlerisches Verständnis erwacht für das Wunder, das man Leben nennt. Und er wußte, wie klug, dankbar und vorsichtig man damit umgehen muß.
Sein Sohn, der spielte noch frevelhaft damit. So war es seine Vaterpflicht, über diesen Sohn zu verfügen, wie man eben Spieler entmündigen muß. Denn sie sind die Schädlinge, in deren Händen alles zerrinnt. Wohlstand, Ehre, Frieden, Glück. Ganz einerlei, womit sie spielen – welchen Namen ihr Spiel hat: Karten, Börse, Weiber, Pferde – im letzten Grunde ist es immer Spiel mit dem Höchsten, was man hat: dem Leben selbst.
So grübelte dieser Starke, der stark war, weil er sein ganzes Dasein hindurch ein Arbeitender gewesen.
Und da unterbrach ihn die eine, an die er mit väterlicher Zärtlichkeit sein Herz gehängt hatte.
Leupold meldete Fräulein Hildebrandt an, und schon erschien sie in der Tür und eilte mit raschen Schritten auf den Stuhl zu, aus dem sich ihr weit eine Rechte entgegenstreckte.
»Wie sie ihrer Mutter gleicht,« dachte er, jedesmal neu von der Ähnlichkeit ergriffen.
Vielleicht war die in der Tat gar nicht so ungewöhnlich, jede Möglichkeit zu vergleichen fehlte ihm. – Er besaß kein Bild von der längst Dahingeschiedenen. Seine Erinnerung, seine Phantasie waren vielleicht die unzuverlässigsten Maler. Wer wollte entscheiden.
Klara selbst war stolz und glücklich, wenn man ihr sagte, sie gleiche der Mutter. Denn verwaiste Töchter kennen kein schöneres Ideal als die Gestalt einer ihnen früh geraubten Mutter.
Jedenfalls hatte sie die gleiche mittelgroße Gestalt, das braune, reiche, lockere Haar, die tiefen dunkelgrauen Augen und in den feinen Zügen den etwas herben Mund. Ihre dunklen Brauen zeigten eine auffallend gerade Linie; dies vor allem gab dem Gesicht einen Ausdruck der klassischen Strenge und zuweilen des Leides, dem aber ihr unbefangenes Wesen voll gelassener Freundlichkeit zu widersprechen schien. Weil es Sonntag war, hatte sie das schulmeisterliche dunkle Kleid abgelegt, und sie trug zu einer weißen Bluse einen hellgrauen Rock. Hut und Jacke waren unten in der Garderobe geblieben, denn der alte Herr mochte nicht haben, daß sie wie ein Besuch dasaß, der gleich wieder fort muß.
»Also, liebe Klara, ich muß Ihnen ganz etwas Neues erzählen: mein Sohn ist wieder da!«
»Das hat mir Frau Doktor schon erzählt,« sagte Klara, »der junge Herr Severin Lohmann sei bei uns vorbeigefahren, kurz vor Tisch.«
»Hätt’ ich mir denken können. Ihre alte Lamprecht ist der reinste Spion, und wenn wir sie auch die Lamprächtige getauft haben – ’ne kleine alte Klatschbase bleibt sie doch.«
»Ach Gott, so ein beschränktes Altfrauenleben,« sagte Klara und zuckte entschuldigend die Achseln … »Sie meint es doch rührend mit mir.«
»Na, das wollten wir uns auch ausgebeten haben.«
Sie schenkte, als sei sie hier die Haustochter, den Tee in die Tassen und sprach unbefangen weiter: »Schön für Sie, daß Sie nun den Herrn Sohn hier haben. – Er war so lange nicht zu Haus.«
»Mehr als drei Jahre nicht. Das waren keine guten Dinge, die ihn so lange fernhielten. – Liebe Klara – in der Welt draußen haben sie meinen Einzigen tüchtig zerzaust. Er bedarf der Ruhe. – Er muß sich besinnen, daran denken, daß er noch mein Sohn ist. Er muß so gewissermaßen von vorn anfangen. Wo könnte er’s besser als hier. Arbeit und Familie – das ist die Gesundheit.«
»Ach,« dachte Klara, »wie ist dieser Sohn zu beneiden, mit diesem Vater zusammen ein Familienleben zu führen; zu solchen Aufgaben berufen zu sein …«
Sie sagte: »Ich, die ich ohne Elternhaus aufwuchs, und fast ohne Tradition – ich denke es mir herrlich, einem so festgegründeten Haus anzugehören. – So ein Haus bekommt Geschichte. – Wie Sie die Gründung Ihres Vaters weiterführten, so wächst nun Ihr Sohn in all dies hinein.«
»Wer weiß – wenn sein persönliches Geschick die glückliche Wendung nimmt, die ich erhoffe – dann gewiß! Er müßte ja auch zu sehr aus der Art geschlagen sein, wenn er nicht Liebe zum Werk bekäme – wo so das Herzblut und der Angstschweiß von Vater und Großvater daranhängt. – Ein wenig müßt’ ihm doch der Mut des Großvaters und die Zähigkeit des Vaters imponieren. – Wenn ich an meinen Vater denke! Welche Phantasie! Welche Kühnheit! Welche Sorgen! Ich sage Phantasie – denn wissen Sie, liebes Kind, man denkt immer: die ist ein Göttergeschenk des Künstlers – seins allein! Kein Schaffender kann ohne sie schaffen, denn er muß das, was sein Wille und seine Hoffnung vorausschaut als eine große Möglichkeit, das muß er vor sich sehen, kraft seiner Phantasie. Kein Politiker, kein Industrieller, kein großer Handelsherr ohne Phantasie. Hätte Bismarck keine Phantasie gehabt, wären wir kein einiges Deutschland geworden! Mein Vater, der scheinbar so kleine bescheidene Ingenieur, besaß einen ganzen Posten davon – mehr als Geld – das weiß Gott. Aber er besaß die Wunderkraft der Menschen, die an ihr Ziel glauben. Und dann hatte er diese fanatische Heimatsliebe der Hanseaten, die auf so zähen Stolz gebaut ist. Vielleicht sind sie darin den Schweizern noch über, denke ich oft. Und er erkannte: Industrie, große Industrie muß sein – sie allein kann dem alten Stadtstaat wieder Blüte bringen – und dies Landgebiet, das sie an den Ufern der Trave hat, so nahe der Ostsee. – Daß man hier ein Hüttenwerk anlegen könne, das schien fast unglaublich. Die Menschen, die was davon verstanden, die sagten: eines muß doch von Natur aus da sein: Erz oder Kohle – aber beides heranschaffen – das macht ja die Produktion zu teuer. Aber er blieb fest. Er rechnete vor: wenn das Heranschaffen von Erz und Kohle auch große Kosten verursache, dafür habe man den billigen Wasserweg für das fertige Produkt und die Zufuhr von fremden Erzen, die sich schließlich die Binnenlandwerke auch auf weiten Transportwegen heranbringen lassen müssen. Mit was für Engelszungen muß er geredet haben! Wer widerwillige Scheckbücher zum Aufblättern bringt – na, der muß schon was Suggestives an sich haben.«
Klara hörte andächtig zu. Sie hatte ein unersättliches Interesse an allem, was sein Werk und sein Leben und sein Haus betraf.
»Das Kapital war aber viel zu klein, mit dem er anfing – er selbst verstand auch nichts von Hüttenchemie – kann sein, daß er nicht von vorn an die rechten Leute neben sich hatte. Es war ein Tasten und Ringen – ein Sorgen und Arbeiten, und immer die Gefahr des Zusammenbruchs neben sich. Ja: toll! Was für Jahre! Und die Ehrenhaftigkeit meines Vaters, an dem die verzweifelte Angst zehrte, fremdes Geld könne durch ihn verloren gehen … Na, das hat ihn ja auch vor der Zeit aufgerieben. – Als Junge von vierzehn mußte ich schon hinaus – lernen – lernen. – Wenn man so im Sorgendunkel aufwächst, sieht man scharf ins Helle hinaus. – Und ich sah bald, woran es bei uns lag. Ich biß die Zähne zusammen und schwor mir: ich mach’s! Als der Vater starb, war ich ein Jüngling von zwanzig und beim Grafen Stürkgen in Schlesien in Stellung – zwanzig Jahre, und sollte ein verschuldetes Werk übernehmen, das teilweise falsch angelegt war und auch an seiner Kleinheit krankte – gewisse Unternehmungen brauchen von vornherein große Dimensionen.
»Nun, der Graf Stürkgen hatte ja wohl Vertrauen zu mir. Er gab mir seinen Direktor mit – einen Mann von kolossalem Wissen und Können. – Der sah sich alles an, prüfte alles durch. Und Stürkgen wagte es, auf den Bericht hin, mich zu stützen. Da fingen Jahre an! Donnerwetter! Die ersten sieben forderten was … Dann sah man: es kommt! Im zehnten hatt’ ich den Sieg! Und vor fünfzehn Jahren gewann ich mir Thürauf als Mitarbeiter. Er ist der eigentliche Schöpfer all unserer Nebenproduktionen, die unsere Erträge fast verdoppelten …«
Er verlor sich in Nachdenken.
Das junge Mädchen wagte kaum, sich zu rühren.
Sie spürte wohl, dieser Rückblick war nicht leicht. Aller Stolz kann den Sieger nicht vergessen machen, was der Kampf ihn gekostet.
»Ja, das Schicksal hat mich an die rechte Stelle gesetzt,« sprach er dann weiter, »ich hatte gerade die Fäuste, die hier zum Anpacken nötig waren. Eins war bitter … Mein Vater hätte noch erleben müssen, was aus ›Severin Lohmann‹ zu werden begann. Er war keiner von den verblendeten Vätern, die den Söhnen nichts zutrauen. Er schickte mich ja gerade so früh hinaus, weil er mich als Mitarbeiter haben wollte. Bin ihm auch immer dankbar, daß er dem Werk seinen eigenen Namen gab, es nicht nach einem symbolischen Vogelvieh oder nach einem griechischen Gott taufte, was ihm vielleicht nicht ganz fern gelegen hätte. Na, nun sind Werk und Mann eins – auch dem Namen nach – und daß mein Junge den sentimentalen Wynfried vor seinem Severin Lohmann tragen muß, das war eines von den Ärgernissen, in deren Erfindung meine Frau groß gewesen ist.«
»Nun weiß ich doch aus Ihrem eigenen Munde die ungefähre Geschichte von Severin Lohmann,« sagte Klara. »Aber wenn ich so bedenke, wie über alles Maß anderer Menschen hinaus Sie gearbeitet haben, wird es mir immer rätselhafter, daß …«
»Daß was, liebes Kind?«
Sie schlug die Augen zu ihm auf. Sah ihn gerade an. Bat um eine offene Antwort, mit aller Kraft ihrer sprechenden Blicke.
»Daß Sie so viel Zeit, so viel Gedanken und so viel Güte für mich hatten und haben. Darüber habe ich oft nachgedacht. Zahllose drängen sich an Sie mit Bitten um Hilfe. Aus Ihrer Beamtenschaft starb mancher hinweg und hinterließ Witwe und Waisen. Ich weiß es, daß Sie alle mit Geld gestützt haben, solange es Ihnen nötig schien. Keiner Waise haben Sie sich angenommen wie meiner.«
»Aber Kind, wie kommen Sie gerade jetzt darauf, mich das zu fragen?« antwortete er ausweichend und sehr beunruhigt.
Klara stand jetzt neben seinem Stuhl, eine von ihren Händen, die Linke, lag auf der Lehne seines Stuhles. Er schaute unwillkürlich auf diese Hand, die so sehr den edlen beredten Händen der geliebten Toten glich.
»Früher,« sagte sie, »wenn mich ab und zu die Doktorin Lamprecht zu Ihnen schickte, mit dem Vierteljahrszeugnis, zu Neujahr, zu Ihrem Geburtstag, da war ich ein etwas furchtsames Kind – es ist so natürlich, sich vor Ihnen zu fürchten,« schaltete sie ein, – »ich wäre bereit gewesen, mich für Sie totschlagen zu lassen. Aber so geradewegs dreist mit Ihnen sprechen? O nie! Dann kam ich ja zwei Jahre nach Hamburg in Pension und machte mein Examen. Und nachher war ich wohl couragierter und fühlte, wie gütig Sie mich ansahen und wie milde Sie sprachen. – Bitte, Herr Geheimrat, lachen Sie nicht über mich – aber Ihre Stimme ist ganz anders, wenn Sie zu mir sprechen, als zu andern Leuten.«
Er sah sie tief an – und mit einem so rätselhaften Ausdruck, daß es sie etwas befangen machte.
Weniger zutraulich, zögernder fuhr sie fort: »Aber auch dann hatte ich keine Gelegenheit, recht mit Ihnen zu sprechen. Wie wäre mir das zugekommen, Ihre Zeit mehr als für Minuten in Anspruch zu nehmen! Kaum daß ich Ihnen zu danken wagte, daß Sie mir meinen Wunsch erfüllten und mich hier an der Schule anstellten.«
»Jetzt aber, heute kommen Sie mit der Sprache heraus?«
»Seit Sie erkrankten, seit ich mich anbot, Sie zu pflegen, was freilich alles nicht angenommen wurde – aber ich darf doch jeden Sonntag kommen …«
»Ja, und bei dem alten Mann im Krankenzimmer die Zeit verbringen, die gesünder im Freien verbracht würde,« unterbrach er sie ablenkend. Sie aber blieb bei ihrem Wunsch, zu wissen, endlich zu wissen …
»Und da habe ich nach und nach gelernt, mich hier heimisch zu fühlen. – Ihre Güte erlaubte mir das, und nun traue ich mich auch, zu sprechen. Bitte Herr Geheimrat, ich hab’ manchmal gedacht: vielleicht hat Ihnen mein Vater sehr wichtige Dienste geleistet?«
Der alte Mann erschrak, auf solche Auffassung war er nicht vorbereitet gewesen. – Ihr Vater … dem er Treulosigkeit, Schädigung und Selbstmord zu verzeihen gehabt! – Aber sie war ja ahnungslos. Er hatte manchmal gedacht, die Doktorin Lamprecht würde den Befehl, zu schweigen, nicht zu halten imstande sein, wo sie sonst etwas an triebhafter Geschwätzigkeit litt – aber so sind Frauen: schwatzen und klatschen – und können dennoch manchmal völlig schweigen – wo sie lieben und schonen wollen …
Welche Lage! Mußte die Tochter nicht doch einmal die Wahrheit über ihren Vater erfahren? Lüge oder auch nur Unwissenheit läßt sich nicht für immer aufrechterhalten. Die Wahrheit schleicht wie auf einem Nebenweg doch immer schritthaltend mit, und plötzlich gibt eine böswillige Hand oder ein Zufall ihr einen Anstoß, und sie fällt dem Ahnungslosen vor die Füße.
Aber er wollte nicht der Grausame sein, dem Kinde zu sagen: Dein Vater war ein Sünder, an allem, was er besaß, an Weib, Kind und Amt …
Nein, er nicht … und gerade jetzt nicht in dieser Stunde.
Er wußte nicht, daß er sich trotz allen Kraftgefühls doch recht verändert hatte seit seinem Schlaganfall und daß er nicht mehr in so eiserner Selbstbeherrschung seine Nerven zu bezwingen vermochte wie früher. Seine Stirn war ganz rot, seine Hände zitterten bemerkbar …
Aber da waren ja diese beredten Blicke, die ihn mit unwiderstehlicher Innigkeit um die Wahrheit baten.
Und er antwortete, während er diesen Blicken auswich: »Ihr Vater? O nein! Wichtige und treue Dienste? O nein!«
Sie schwieg betroffen. Viele viele Herzschläge lang. Seine Röte, – die heisere Stimme, wie Menschen sie haben, die an ihren Worten würgen. – Das sehr starke Zittern seiner ungelähmten Hand, und vor allem sein abgleitender Blick. – Dies Auge wich ihr aus? – Dies gebieterische Herrenauge, das sonst andere bezwang – was bedeutete das?