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Stille Helden
Stille Helden

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Stille Helden

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Ihr Frauengefühl wollte nun erst recht nicht von dem Wunsch ablassen, zu wissen.

»Wegen meiner Mutter?« fragte sie langsam.

Da blitzten die mächtigen Augen sie wieder hell an.

»Ja,« sprach er, »Ihre Mutter – ich habe – sie war – Liebes Kind! Ich habe Ihre Mutter sehr lieb gehabt.«

»Und meine Mutter?« fragte Klara weiter. Ihre Farbe hatte sich verändert, ihr war, als wolle irgend eine dunkle Angst über sie kommen – daß sie mit ihren Fragen an Tragik rührte, die besser ungeweckt und verschleiert bliebe.

Der alte Mann aber sagte mit einer wunderbaren Einfachheit und Gefaßtheit, die das junge Mädchen ergriff: »Ihre Mutter und ich, wir wußten es rasch – wir waren füreinander bestimmt gewesen – sie mein Segen und Trost, ich ihr Halt und Schutz. Aber wir durften es uns kaum gestehen, die Hoffnungslosigkeit war vom ersten Augenblick an mit uns. Meine Frau hätte mich niemals freigegeben – nie – aus kleinlicher Schadenfreude nicht. – Unsere Lage war bitter – sie war gefährlich – aber in unserem Schicksal hatten wir einen wunderbaren Schutz …«

Klara sah ihn wartend an. Da schloß er langsam: »Die Würde deiner Mutter …«

Sie kniete nieder neben seinem Stuhl, etwas zwang sie – und sie küßte seine Hand. Er entzog sie ihr und legte sie auf ihren Scheitel. Unter ihrem schweren Druck richtete sie doch ihr Gesicht ein wenig empor und ihm zu. Sie sah ihn mit grenzenloser Verehrung an.

»Ich wollte, du wärest meine Tochter, oder du würdest es!« sprach er.

Sie lächelte mit Tränen in den Augen.

Sie erhob sich, ganz arglos nahm sie diese Worte.

»Es war immer schon, als wär’ ich’s, wie ein Vater haben Sie an mir gehandelt. Aber nun ist es doch, als sei ich Ihnen noch näher gekommen …«

Ihr Gemüt war ihr nun übervoll. Viel hätte sie wissen mögen – von ihrer Mutter – vom Herzeleid dieser beiden ihr heiligen Menschen – von der Frau, die zwischen dem Manne und ihrer Mutter gestanden. Aber auch ihr eigener, leiblicher Vater mußte ja dazwischen gestanden haben – was war es mit ihm? Weshalb erwähnte der alte Herr nur seine Frau, nicht aber den Gatten ihrer Mutter?

Und in ihr Ohr kam der seltsame Ton zurück, in welchem der Geheimrat gesagt: »Ihr Vater wichtige, treue Dienste? O nein!«

Dies »O nein!« barg eine Ablehnung, so schroff, so wegwerfend, wie sie der Sprecher selbst mit Vorsatz gewiß nicht hatte verraten wollen.

Und plötzlich fiel es ihr noch schwer auf, daß er, der in so starken Worten die Mitarbeiterschaft des Generaldirektors Thürauf rühmte, über die ihres Vaters schweigend hinwegging.

Das hatte irgend einen geheimnisvollen Grund …

»Ich muß wissen,« dachte sie entschlossen. Denn sie war ein mündiger Mensch und brauchte in allen Dingen ihres Innenlebens immer Klarheit.

Aber sie fühlte, daß sie den alten Herrn nicht weiter fragen dürfe – wenigstens nicht in diesem Augenblick. Seine heiße Röte vorhin, das Zittern seiner Hand – das hatte sie erschreckt. Er durfte sich doch nicht aufregen.

Sie hörte, daß die Tür geöffnet wurde. Gottlob, Leupold oder sonst irgend jemand kam, und das half sofort, die Stimmung und das Gespräch in das Alltägliche hinüberzubringen – wie es eben für den noch Schonungsbedürftigen am besten war.

Sie wandte sich um und wußte auf der Stelle: der da herankam, das war Wynfried – der Sohn. Viele Jahre hatte sie ihn nicht gesehen und kaum je wirklich mit ihm gesprochen.

»Hier, Wynfried, ich kann dich nun meinem Pflegetöchterchen vorstellen – Fräulein Klara Hildebrandt.«

Klara reichte ihm freundlich die Hand.

»Wie freue ich mich für Ihren Vater, daß Sie hier sind.«

»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein, ob ich Anspruch auf gemeinsame Kindheitserinnerungen erheben darf,« sagte er.

»Aber nein – garnicht. Solche wollen wir nur nicht konstruieren. Sie waren nicht nur durch die sechs oder acht Jahre, die Sie mehr haben, von mir getrennt. Sie waren immer nur von fern sichtbar, mit dem Hauslehrer oder Ihrer Mutter.«

»Ja – ich durfte mich nie austoben. Mama war so ängstlich mit mir – ich weiß noch: Damals erschien es mir als das Herrlichste von der Welt, nur einmal eine kolossale Prügelei haben zu dürfen.«

»Der sieht freilich aus, als hätte er viel Kummer gehabt,« dachte sie mitleidig, während er sprach. Welche Sorge für den Vater – den einzigen Sohn so seltsam förmlich, so unjung, als wäre er eigentlich lieber nicht hier, zu sehen. Draußen in der Welt hätten sie ihn »zerzaust«, hatte sein Vater vorhin gesagt. Ruhe müsse er haben, sich besinnen. Und ihre natürliche Mädchenneugier fragte sich: Unglückliche Liebe? Das machte ihn ihr doch gleich interessant.

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie meinen Vater besuchen und erheitern.«

»Das Dankenmüssen ist ganz auf meiner Seite. Alles, was ich bin, bin ich durch Ihres Vaters Güte. Aber ich komme nicht aus Dankbarkeit. Es ist mein Stolz und mein Glück, daß ich kommen darf.«

Sie sah den alten Herrn mit innigem Blick an, und er nickte ihr zu.

Wynfried hatte ein unbehagliches Gefühl – als sei er hier zwei Verbündeten ausgeliefert. Wußte dies Mädchen um seines Vaters Wünsche? Unmöglich! Dann konnte sie nicht so unbefangen sein.

Die klaren und unverbindlichen Antworten, die sie ihm gab, machten es ihm schwer, weiter mit ihr zu sprechen. Er sah wohl, daß sie sehr schön war und denselben Zauber der Weiblichkeit hatte, wie einst ihre Mutter ihn besaß. Das drückte sich so erkennbar in jeder leisen Bewegung, im Klang der sanften Stimme aus.

Diese Art von Schönheit, deren eigenster Reiz die Verbindung von strengen Linien mit weicher Anmut war, hatte ihn nie zu fesseln vermocht.

Aber er war sozusagen mit allen Interessen und Nerven auf Frauen eingestellt – die alte Gewohnheit, auf jede einzugehen, ihr angenehm sein zu wollen, wurde unbewußt wach in ihm. Dazu kam das neugierige Wissen, daß dies die Frau sei, die sein Vater für ihn bestimmt hatte – und der halbklare Wunsch, seinem Vater guten Willen zu zeigen.

Er holte sich einen Stuhl und setzte sich Klara gegenüber an den Tisch, der neben dem Krankheitsthron stand.

»Ich sehe, Leupold hat für drei aufgedeckt. Es ist also vorgesehen, daß Sie mir auch gütigst eine Tasse Tee gönnen sollen.«

Während Klara ihn bediente, meinte sie: »Wenn Ihr Vater jetzt auch Sie hat – überflüssig komme ich mir doch nicht vor. Männer, die die ganze Woche von der Arbeit zusammen sprechen, würden es auch noch Sonntagnachmittags tun, wenn da nicht jemand wäre, der sehr wenig davon versteht.«

»Ah, Sie wissen, daß ich hier bleiben werde?«

»Ist es ein Staatsgeheimnis? Ich habe es Fräulein Hildebrandt erzählt,« warf der Geheimrat ein.

Wynfried verbeugte sich im Sitzen leicht gegen Klara, als wolle er sagen, daß er sich keine willkommenere Mitwisserin seiner Angelegenheiten denken könne.

»Und Sie haben die Geduld und den Mut, gnädiges Fräulein, die Kinder der Arbeiterschaft zu unterrichten?«

»Nun, irgend etwas mußte ich doch tun, um meine Kräfte zu brauchen und mein Brot zu verdienen,« sprach sie ruhig.

»Aber gab es nicht reizvollere Beschäftigungen, die Ihnen mehr Freude gebracht hätten? Etwa der Posten einer Gesellschaftsdame in einem großen Hause, wo viele Menschen verkehren, wo man reist, Kunst genießt, tanzt – Vater mit seinen Beziehungen hätte Ihnen doch leicht dergleichen verschaffen können.«

Der Geheimrat wartete mit Vorfreude auf die Antwort – diese ganze Szene unterhielt ihn überhaupt auf das Spannendste. Er selbst war ja der Mann der ersten Eindrücke, der raschen Entschlüsse. Er fühlte, oder vielmehr er bildete sich ein: man wird schon heute sehen, ob es geht mit den beiden!

Klara schüttelte nur leise den Kopf.

»Hier kam ich her, als ich zwei Jahre alt war, so weit reichen meine Erinnerungen natürlich nicht zurück. So ist es mir, als sei ich hier geboren. Hier bin ich aufgewachsen – inmitten des Werks habe ich meine ersten Eindrücke gehabt – später hab’ ich an seinen Grenzen gelebt, immer in der Umwelt, die durch das Werk Verdienst, Wohlstand und Inhalt hatte. Meinen Unterhalt, seit ich Waise war, verdanke ich Ihrem Vater, ihm meine Ausbildung und daß ich nun auf eigenen Füßen stehe und selbstverdientes Brot essen kann. Nie hab’ ich etwas anderes im Gefühl gehabt, vor mir gesehen als dies eine, daß auch ich für ›Severin Lohmann‹ tätig sein müsse. Wie sollt’ ich’s? Als Buchhalterin? Stenographin? So im Bureau sitzen? Ach nein, das wäre nicht mein Fall gewesen – dabei wäre ich mir nur wie ein Instrument vorgekommen. Ich mag erziehen – auf andere ein wenig wirken können, Entwicklung zu sehen macht doch Freude. So drängte es sich auf, daß ich Lehrerin werden mußte. Ich könnte in der Stadt an der höheren Töchterschule unterrichten. Aber da hätte ich keinen Teil gehabt an ›Severin Lohmann‹. Indem ich die Kinder von Severinshof unterrichte, kommt’s mir vor, als ob ich ein wenig, ein ganz klein wenig und sehr von fern für Ihren Vater und in seinem Sinn arbeite. Konnte es wohl anders sein?«

»Nein, liebe Klara, anders konnte es nicht sein,« sprach der Geheimrat. »Sie sind mit mir, mit uns, mit dem Werk für immer verbunden …«

Er mußte sich Mühe geben, nicht mehr zu sagen.

Wynfried horchte ein Weilchen stumm ihren Worten nach … Er fühlte so beklemmend, daß er, der Sohn und Erbe, seinem Vater und dem Ganzen hier ferner und fremder war als dieses Mädchen, das mit allem unlöslich verwachsen schien … Er bekam eine Ahnung, daß seines Vaters Wunsch noch in anderen Dingen wurzelte als in dem Verlangen, des Sohnes Leben in Ordnung zu bringen und gleichzeitig die Tochter einer vielleicht einst geliebten Frau zu versorgen …

Klara blieb heute länger als sonst. Sie war gewohnt, zu warten, bis der alte Herr durch irgend ein Wort ihr das Gefühl gab, sie dürfe gehen. Heute, wenn das mühsam sich hinschleppende Gespräch ganz verstummen wollte, suchte er es im Gegenteil immer neu zu beleben.

Sie war zu arglos, um es auffallend zu finden, daß seine Fragen sie nötigten, viel von sich zu sprechen. Von ihren Jugendjahren bei der sehr zärtlichen, unentschlossenen, umständlichen und zum Erziehen eigentlich gar nicht berufenen Doktorin Lamprecht, die ihr auch heute noch eine treue Mama, aber in gar keiner Hinsicht strenge und autoritativ sei, erzählte sie mit einem leisen Humor. Von ihren durch ihren Beruf geregelten Tagen mußte sie berichten, und von den bescheidenen kleinen Zerstreuungen. Man hörte wohl heraus: wenn alte Damen zu Kartenspiel und Kaffeeschwelgereien zusammenkamen, saß sie still dabei mit einer Handarbeit und hatte ihre Gedanken für sich. Es gab mal ein paar Vorträge im Winter, einen Kasinoball und ein Sommerfest, die man mitmachte, denn der Geheimrat hatte selbst für die Doktorin Lamprecht und ihre Pensionärin die Mitgliedschaft bei der von ihm unterstützten Kasinogesellschaft erwirkt und bezahlte für die Damen den Beitrag. Und Klara sagte, es gebe da immer einige, die sie fühlen ließen, daß sie als Volksschullehrerin nicht recht unter die Honoratioren gehöre – und man spürte, daß ihr derlei nicht verletzend, sondern nur ein lustiges Pröbchen von Dummheit war.

Wynfried sah so in ein Mädchenleben hinein, das ihn wie eine Legende anmutete. Das gab es? In solchen Beschränkungen konnte ein weibliches Wesen es aushalten? Und sie schien zufrieden? Ganz und gar. Das fühlte er durchaus.

Und dies am meisten, diese Klarheit und Wunschlosigkeit in der Begrenzung machte ihn betroffen.

Aus welchen Quellen kam das empor, so erstaunlich wohltuend und beruhigend?

Sein Herz war in schwülen Feuern verbrannt – vielleicht für immer. Seine Phantasie war ermattet, im atemlosen Rausch immer neuer Vergnügungen an immer wechselnden Schauplätzen.

Welch ein Gegensatz zwischen der Welt, in der er seine ersten Jünglings- und Mannesjahre vertan, und diesem Idyll. Ihm war, als sehe er vor seinem geistigen Auge dicht neben einem glitzernden Durcheinander von Seidenglanz, funkelnden Steinen, flatterndem Chiffon, dunkelummalten Augen, roten Haaren, rosigen Wangen, wippenden Federn ein stilles, grünes Stückchen Wald …

Und das Mädchen bäumte sich nicht einmal auf? Empörte sich nicht, daß Schönheit und Jugend in Gefahr war, unbemerkt zu verblühen, daß die Möglichkeit vorlag, ihr ganzes Leben in der Enge versanden zu sehen? – Seine Mama fiel ihm ein. In welch schneidender Mißlaune sie immer gewesen war während der wenigen Monate im Jahr, die sie neben der Arbeitsstätte ihres Gatten verbringen mußte – wie sie floh, sobald sie konnte. Und damals erschien ihm seine Mama immer als ein Opfer …

Er sah: diese Klara gab keine Rolle. Die freundlich-ruhige Stimmung war ihr wirklicher Seelenzustand! So unglaubhaft es ihm schien, er fühlte sich dennoch gezwungen, zu glauben.

Er wurde nach und nach sehr schweigsam.

Und Klara fing an, bedenklich zu werden: blieb sie nicht unbescheiden lange? Warum gab der Geheimrat nicht wie sonst ein Zeichen? Und die Doktorin Lamprecht, die es nicht kannte, daß ihr Schützling nicht mit uhrenmäßiger Pünktlichkeit heimkam …

Sie stand auf.

»Darf ich jetzt gehen? Tante Lamprecht ängstigt sich sonst.«

»Wynfried bringt Sie nach Haus,« bestimmte der alte Herr.

»O nein – danke sehr – nein –,« lehnte Klara ab.

Er verneigte sich höflich, sich widerspruchslos in die Ablehnung ergebend …

»Klara, liebes Kind, ich habe einen Wunsch,« sagte der alte Herr, ihre Hand in seiner Rechten haltend. »Sie wissen, ich mag keinen Tischgenossen an meiner Krankentafel – Wynfried muß unten allein essen – kommen Sie doch diese nächsten Tage – bis er etwas eingelebt ist – etwa diese ganze Woche, und essen mit ihm. Ihr Weg führt Sie ja doch vorbei, Leupold soll eins von den Fremdenzimmern für Sie als Tagesquartier einrichten. Nachmittags bekomm’ ich dann auch mein Stündchen, als wäre alle Tage Sonntag.«

Wynfried fand diesen Vorschlag »faustdick«. Er meinte, sie müsse merken, was sein Vater wünsche … Er stellte auch fest, so gebieterisch sich auch noch die alte Wucht und Größe seines Vaters aufzurecken vermochte, so ungebrochen auch durch die Krankheit sein Wesen noch schien: wurden nicht neue, weichere, ein wenig greisenhaft kindliche Züge zuweilen bemerkbar?

Eine schwache Neugier auf ihre Antwort wollte sich in ihm regen. Aber er war ja eigentlich sicher, daß sie beseligt zugreifen würde. Und er konnte dann bei diesen Diners zu zweien (an was für andere Diners zu zweien war er gewöhnt, fast ironisch huschte es durch sein Gedächtnis) weitere Betrachtungen darüber anstellen, welche Figur er künftig abgeben werde, als Gatte dieser offenbar beinahe vollkommenen jungen Dame, die der Aufgabe, ihn zu einem Tugendbold zu erziehen, ja schon von Berufs wegen so gewachsen sein würde.

Um seine Lippen zuckte es. Er wollte spotten.

Aber in ihm war zugleich so viel Unsicherheit – so überflüssig erschien er sich neben diesem Mädchen und seinem Vater.

Klara war wohl etwas erstaunt über diese Einladung, doch vor allen Dingen verlegen, weil sich eine derartige Einrichtung, auch nur eine Woche lang, nicht mit ihren Pflichten vereinbaren ließ.

»Ja, wenn Ferien wären! So kann ich es aber nur am Mittwoch,« sagte sie kurzweg.

Der Vater sah hierbei zum Sohn hinüber. Fast ein wenig triumphierend. Hatte er nicht prophezeit: du wirst dich dazu halten müssen, angenommen zu werden.

Als Klara gegangen war, kam erst Leupold, den Tisch abzuräumen. Und Leupold konnte sich wieder Gedanken machen, denn zwischen Vater und Sohn herrschte vollkommenes Schweigen. Sonst wurden keine Gespräche wegen dieser Dienerohren unterbrochen, nicht einmal die Geheimrätin hatte früher ihrer scharfen Rede Zügel angelegt, während er die Schüsseln anbot. Und ungeachtet seiner Anwesenheit und Zeugenschaft warf der Geheimrat bisweilen den spitzen Reden ein Donnerwort entgegen, daß sie dann stumm sich hinter zusammengekniffenen Lippen zurückhielten.

Somit stand es für Leupold fest: wenn in seiner Gegenwart geschwiegen wurde, gab es Dinge von höchster Ärgerlichkeit oder geheimnisvollster Wichtigkeit. –

Der Geheimrat wartete nur, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, um zu fragen: »Nun?«

»Was – nun? Forderst du von mir, daß ich, nach dem Zusammensein von einer Stunde, mich schon bereit erkläre, das Mädchen zu heiraten?«

»Nein,« sagte der Vater, »da sei Gott vor. Aber den Eindruck möchte ich wissen.«

»Wohltuend – ganz und gar – ja. Aber ich muß sie doch erst ein wenig näher kennen lernen – muß mich erst einmal in Ruhe fragen, ob ich so etwas wagen kann, darf. Junge Mädchen träumen von einer großen Liebe – wie sollt’ ich die vorlügen und vorheucheln können! Ich werde mich nicht in sie verlieben. – Ich? – Nach allem: nein! Und sie? Glaub mir, ich habe keinen Eindruck auf sie gemacht.«

»Man lernt sich in der Ehe lieben,« sagte sein Vater.

»Oder hassen,« setzte der Sohn hinzu, und er dachte an seine Mutter, die seinen Vater gehaßt hatte.

»Heiraten, das ist ein Entschluß von großer Tragweite,« sprach er weiter.

Es schien dem Alten trotz der seinen Wünschen günstigen ersten Worte, als höre er nur Lauheit, Energielosigkeit, Ablehnung.

»Eine Heirat allein kann deinem Dasein neuen Inhalt und Richtung geben. Was solltest du sonst anfangen mit deinem Leben?« fragte er schweren Tones – der grollte gleichwie aufkochender Zorn.

»Ich weiß es nicht, Vater,« sagte der Sohn zerquält. –

Klara aber schritt mit eiligen Füßen über die Straße dahin, auf die Treppe zu, um hinunter zur Fähre zu kommen. Aber sie konnte nicht ohne Aufenthalt vorwärts kommen. Eine Arbeiterfamilie begegnete ihr. Die Kinder drängten sich an sie und wollten »Fräulein« durchaus die Anemonen schenken, deren Stengel in den kleinen Fäusten schon warm geworden waren. Und die Mutter erzählte schmeichlerisch, daß die Kinder immer nur von Fräulein und Fräulein schwärmten, und wollte wissen, ob Artur und Lieschen auch artig seien.

Sie hielt freundlich stand.

Und doch brannte in ihr eine große Ungeduld. Sie dachte nicht mehr an Wynfried, der doch nun eine neue Gestalt im hiesigen Leben war. Sie dachte nur an den einen einzigen Augenblick, in dem der Geheimrat mit ausweichendem Blick, feindseligem Ton und zitternder Hand von ihrem Vater sagte: »Treue, wichtige Dienste – o nein!«

An der Fährbrücke unten an der Treppe mußte sie noch warten, der Kahn kam erst vom anderen Ufer heran. Vier, fünf junge Männer saßen auf der umlaufenden Bank. Im Hutband trugen sie einen kleinen Buchenzweig oder ein paar Primeln. Halbverwelkt hing der Schmuck auf die Filzränder der Hüte herab. Aber die jungen Männer hatten sich doch den Frühling anheften wollen, wie ein Zeichen. Der Fährmann stand aufrecht im Kahn und trieb mit starkem Ruderschlag seinen Kahn scheinbar zu weit oberhalb des Anlegesteges auf die Uferböschung zu, der sachtfließende schmale Strom drückte aber so sehr gegen den Kahn, daß die endliche Landung genau an der Stufe der Brücke erfolgte. Die Männer stiegen aus, und Klara stieg ein. Und wieder hinüber ging die Fahrt auf den hellen Hang zu, dessen weißsandige Wand von dem roten Städtchen überkrönt war. Dies Hin und Her von Ufer zu Ufer war sonst immer für Klara voll Reiz. Das dunkle tiefe Wasser glänzte, der Ruderschlag rauschte leise … es war so viel Ruhe darin und ein wenig von der Romantik alter Zeiten.

Aber sie war bei dieser heutigen Heimfahrt zu erregt, um die Stimmung zu genießen. Ganz verworrene und plötzlich beängstigend werdende Erinnerungen tauchten auf – sahen nun, da sie vor dem Auge einer Gereiften erschienen, ganz anders aus, als die Tatsachen sich einst dem Kind dargestellt hatten. – Die Zehnjährige hatte nur an einem Morgen voll unaussprechlicher Ängste erfahren, daß ihr Vater über Nacht einem Herzschlag erlegen sei. Das Grauen vor der Nähe des Todes, der stumme Jammer der Mutter – ein seltsames Hasten und eine scheue Angst im Haus – dazwischen dann die Gestalt des Geheimrats – düster und beherrschend. – Und daß niemand, niemand den Toten hatte sehen dürfen. – Am selben Tag noch wurde der Sarg geschlossen – die Schrauben knirschten so – man hörte sie. – Die Mutter bebte nebenan und preßte ihre Tochter heftig an sich. – Damals dachte Klara, das sei immer so, wenn ein Mensch sterbe – all diese Einzelheiten. – Heute mit einem Male wußte sie: da war etwas zu verstecken gewesen …

Es gibt jähe Erkenntnisse, nach Jahren kommen sie, es ist, als griffe eine Hand nach einem und risse eine Binde von unseren Augen.

Und so, gejagt von dem Vorsatz, die Wahrheit zu wissen, vom angstvollen Wahn sich sogleich heilen zu lassen oder auch dem Traurigsten ins Gesicht zu sehen – so kam sie in der kleinen Wohnung an …

Das Häuschen der alten Frau Lamprecht lag am Kirchplatz. Es hatte über dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk, und vom Ziegeldach sah noch ein Giebelfenster hinüber nach den Linden, die die Backsteinmauer der Kirche umstanden. Das erste Stockwerk war an den Hauptmann von Likowski vermietet. Seine beiden Pferde hatte er im Stalle auf dem Hofe, wo einst das Doktorwägelchen stand, wenn es durch die Toröffnung neben dem Hause hereingefahren.

Vier überraschend geräumige Zimmer gaben den Frauen Behaglichkeit genug. Die Küche lag hinter der Treppe mit den Fenstern nach dem Durchgang zum Stall. Seit Klara nach bestandenem Examen zurückgekommen und alsbald angestellt worden war, hatte sie ihr Wohnzimmer für sich. Damit war sie von ihrer Pflegmutter als selbständiger Mensch anerkannt worden.

Es hatte der alten Dame viele Erwägungen und umständliche Besprechungen gekostet, bis ihre Sachen auf den Boden gebracht wurden und dafür Klaras Einrichtung, die von der verstorbenen Mutter stammte, heruntergeholt werden konnte.

Diese Einrichtung war Klaras einziges Erbe, und sie wußte es, daß sie den Besitz nur dem Geheimrat verdankte. Ganz vollständig war alles beisammen geblieben, so wie es einst im Wohnzimmer der Mutter gewesen: der Sekretär, der halbhohe Teeschrank, die Kommode, Sofa und Stühle von dunkelblankem Mahagoni, mit den graublauen Stoffen von dickem Seidendamast; die Bücher, die Uhr mit dem gelbbronzenen Zifferblatt zwischen kleinen Alabastersäulen, die auf ihren Kapitälen einen Steg von Alabaster trugen, auf dem fiedelnd ein Amor entlang zu tänzeln schien – der Schöpfer dieser Uhr hatte sicher den anmutigen Gedanken gehabt, daß demjenigen, für den die Stunden schlugen, die Liebe heiteren Inhalt geigen möge.

Und Klara dachte oft, mit welch schweren Empfindungen ihre Mutter das heitere kleine Bilderwerk oberhalb der Zeiger betrachtet haben möge.

Denn sie ahnte immer, daß ihre Mutter nicht glücklich gewesen sei.

Heute war aus der Ahnung eine Gewißheit geworden.

Klaras Zimmer lagen nach hinten. Ihre Straßenaussicht hätte die alte Frau keinem Menschen geopfert, und sie sagte, Klara wäre es ja doch einerlei, ob sie auf den Hof oder auf den Kirchplatz hinaussähe. Jetzt lauerte die Doktorin schon lange hinter den Scheiben, und der graue Kopf bog sich alle paar Sekunden sehr schräg nah an das Glas hin, um die Stelle zu erspähen, wo die Straße in den Platz einmündete und wo Klara zuerst sichtbar werden mußte. Kaum erschien sie in Blickweite, so deuteten ihr auch schon lebhafte Gesten an, daß sie mit Unruhe erwartet wurde, und das erste Wort, das sie hörte, war das erwartete: »Wo bleibst du, ich ängstigte mich.«

Und zugleich nahm sie schon ihren Kneifer ab und legte ihn auf den Nähtisch vor sich, was immer eine Art von Zurüstung auf ein ausführliches Gespräch bei ihr bedeutete.

»Es kam mir so vor, als wünsche der Geheimrat, mich länger dazubehalten. Ich wußte nicht recht, was ich sollte.«

»Hast du den Sohn kennen gelernt? Wie war er?« fragte sie in brennender Neugier.

Denn in dem Städtchen liefen allerlei Gerüchte herum – auf sachten, aber sehr emsigen Füßen, von Haus zu Haus. Und sie hatten ihren stillen bösen Gang begonnen damals, als Wynfried nicht am Lager seines Vaters erschien …

»Doch. Flüchtig. Er war sehr höflich,« sagte Klara. Sie wußte längst, daß Zurückhaltung gegenüber der alten Frau geboten sei. Sie kannte es schon, welchen Genuß und welche Genugtuung es der Doktorin bereitete, bei ihrer Skatpartie die zu sein, die am genauesten über die Vorgänge im Hause des Geheimrats unterrichtet war.

Aber Neugier spürt nicht so leicht das Ausweichen eines anderen. Und die Fragen klangen auch noch minutenlang durch das Zimmer. Wie sah er aus? Sehr verlebt? Schienen Vater und Sohn gespannt? Will er hier bleiben? Wird er gleich offiziell Teilhaber? Kam es dir vor, als ob er gern hier sei?

Klara antwortete auf alles sehr beruhigend, und als sie sagte, das Verhältnis zwischen Vater und Sohn sei ihr ganz natürlich und herzlich vorgekommen, war die Doktorin zufrieden. So hatte sie doch etwas als ganz »wahr und wahrhaftig« weiterzuerzählen. Ihr unruhiges kleines Gehirnchen war dann schon wieder bei ganz anderen Wichtigkeiten.

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