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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
»Das ist der Vater!« denkt Josi und freut sich, daß er solch einen Vater hat. Die Augen des Knaben sind flehentlich auf den Glottermüller, der das Gemeindefernrohr in den Händen hält, gerichtet.
»Darfst einmal durchgucken!« quiekt der kahlköpfige Müller, der eine Stimme wie ein Weib hat, »schau nur, wenn ihr das Mehl schon lieber in Hospel holt als bei mir.«
Jetzt hält es Josi! Durch das Glas scheinen die Bindfaden Seile, die Strohhalme Kännel, auf einem davon steht ein Mann. Man kann sein Gesicht nicht erkennen, aber man sieht jede Bewegung der Glieder, durch das Rohr scheint alles nah und man erkennt erst recht, was für fürchterliche Felsen die Weißen Bretter sind. Bis in alle Höhen keine Planke, nirgends eine Rinne, wo ein Büschel Gras hervorwachsen könnte. Senkrecht sind sie, kahl und nackt, entsetzlich glatt und hart. Nur in den Wildleutfurren ist weiches Gestein, da ragen wie von Geistern gesetzt die Klippen und Türme des harten Felsens, während der weichere Stein im Laufe der Jahrhunderte abgewittert ist.
Das alles sieht Josi mit klugem Auge, aber nun strecken sich die Hände anderer nach dem Glas. Er reicht es weiter. Das Bild seines Vaters hat er fest gefaßt. seiner Lebtag wird es ihm in Erinnerung bleiben, wie der Mann dort oben zwischen Himmel und Erde auf den schwankenden Känneln steht und sich von einem zum anderen schwingt. Immer deutlicher wird übrigens auch ohne das Fernrohr seine Gestalt, sie tritt aus dem Schatten, den der Schmelzberg bis jetzt auf die Wand geworfen hat, in die Sonne, die auf die Weißen Bretter zu leuchten beginnt. Der Vater prüft die gewaltigen eisernen Kloben, die Matthias Jul so fest in die Felsen vermörtelt, verkeilt und verankert hat, daß sie jetzt noch Jahrhunderte halten werden. Sie sind alle gut. Viele der leichten eisernen Reife, die durch die kurzen verdickten Enden der Kloben gehen, sind von der Gewalt der Lawine zerrissen und müssen ersetzt werden, manche haben nicht gelitten, sondern die Kännel sind einfach aus ihnen herausgeschleudert worden. Mit einer Stange, an der ein eiserner Haken ist, holt Seppi die neuen Schlaufen ein, die an einem Seil an der Wand herniederhangen. Das Einpassen in die Kloben geht leicht, die Nietenköpfe des einen Endes passen in die Löcher des anderen Endes, mit einem einzigen Griffe schließen sich die Reife. Im Lauf der Zeiten hat man manche Vorteile gelernt, die Bearbeitung des Eisens und die Handgriffe beim Legen der Leitung sind eine besondere Wissenschaft der Leute von St. Peter, ein Stück bäuerlicher Ingenieurkunst. Und dafür, daß immer ein genügender Vorrat von Seilen, Känneln und Schlaufen da ist, sorgt der Garde; in Dingen, die das helige Wasser angehen, giebt es keine Knauserei und keinen Widerspruch.
Die Stunden wandern und die Spannung der Zuschauer ermattet. Seppi Blatter arbeitet sicher. Von Zeit zu Zeit erneuert das Glöcklein der Kapelle sein Bimmeln, es mahnt: »Betet, betet für den Mann, der einsam an den Felsen schwebt!« Bis am Abend darf die gemeinsame Fürbitte nicht aufhören. Die Frauen, die auch heraufgeschlichen sind, um an die Weißen Bretter zu sehen, eilen wieder zur Kapelle, einzelne Männer folgen: »Man darf nicht nachlässig sein in einer so ernsten Angelegenheit, wegen Seppi Blatter nicht und wegen seiner selbst nicht; man könnte einen Schaden auflesen, wenn man nicht aus vollem Herzen für ihn fleht.«
Der Presi, der die Signalfahne seit einiger Zeit dem Glottermüller übergeben hat, hält scharfe Ordnung; er jagt die müßigen Weiber zur Kapelle hinunter: »Plärrt doch lieber, als Maulaffen feilzuhalten!« Den Männern, die auch jetzt ihr Pfeifchen anstecken wollen, schnauzt er zu: »Himmelsakrament, wer denkt ans Nebeln, solang einer da oben hängt!« und Bälzi, der das Rauchen doch nicht läßt, schlägt er die Pfeife aus dem Mund.
Binia steht etwas verloren zwischen den Leuten. Sie ist nicht so behend wie sonst und ihr Gesichtchen blaß. Die dunklen Augen schauen auf den Teufelsgarten. Das ist nicht mehr der wilde unberührte Blumenjubel der letzten Tage. Die Männer haben ihn mit ihren schweren Schuhen niedergetreten, die Mädchen haben ihn abgerauft, die Buben haben den Königskerzen die Köpfe abgeschlagen und wälzen sich jetzt scherzend auf der verdorbenen Pracht.
Binia sieht Josi, Josi sieht sie; aber die beiden Kinder, die sich so gut waren, wissen nichts mehr miteinander anzufangen – es ist etwas zwischen ihnen, das vorgestern noch nicht war.
»Bini, was machst auch für ein barmherziges Gesicht?« Sie schrickt zusammen. Der Vater! Freundlich sagt er: »Du wirst gar verbrannt in der glühenden Sonne, geh ein bißchen an den Schatten!«
Folgsamer als je gehorcht sie. Sie wandelt zur Ruine hinüber. Dort stehen und sitzen Männer, der Kaplan Johannes, Bälzi, der Gemeindeweibel und andere. Die Schnapsflasche geht in der Runde, die Männer essen einen Imbiß von der Hand, sie plaudern und lassen sich's wohl sein und sehen die Augen Binias nicht.
»Heut' giebt's keine Tafel zu malen, Kaplan, Seppi schafft gut,« sagt der Weibel, der einen großen schönen Bart, aber einen schielenden Blick hat.
»Macht nichts – ich bin nicht gern der Unglücksrabe,« antwortete der Kaplan mit seiner hohlen Stimme.
»Ich glaube beim Eid, Seppi Blatter fällt – die elende Hitze – und erst dort oben – man wird da unten dumm, dort oben aber wird einer verrückt – die Männer, die stürzen, thun's, weil sie vom Sonnenstich wahnsinnig geworden sind.« Bälzi nahm einen Schluck.
»St. Jörg und einundzwanzig, das wär' ein Unglück – die Frau und die zwei Kinder!« So der Weibel.
Bälzi darauf: »Der Presi bekäme auch einen Schuh voll!«
»Wieso?« fragt Peter Thugi, der ein rechter Mann und der Aelteste einer weitverzweigten Familie ist.
Bälzi erwidert: »Das glauben doch nur Kinder, daß Seppi Blatter freiwillig an die Bretter gegangen ist. Man hat der Gemeinde Sand in die Augen gestreut. Ist's nicht wahr, Weibel?«
Dieser zwinkert zustimmend mit den Augen, aber er schweigt. Bälzi, dessen Blick vom Schnaps etwas verglast ist, lacht. »Der Presi hat mir die Pfeife zerschlagen, auf die Garibaldi gemalt ist. Sie war noch vom Vater selig. Aber jetzt schone ich ihn auch nicht mehr.«
Er erzählt den Lauschenden das Gespräch im Bären: »Und ich will ein brennender Mann werden, wenn's nicht wahr ist, er hat dem schlafenden Seppi Blatter die Feder in die Hand gesteckt und sie ihm geführt.«
Die Umstehenden fahren zurück. »Kaplan, was sagt Ihr dazu?«
Der Schwarze antwortet, da – ein gellender Schrei.
»Gott's ewiger Hagel, des Presis Kind!« So rufen sich die Männer in peinlicher Ueberraschung zu. Das Mädchen, das hinter einem abgestürzten Mauerteil gekauert ist, springt wie besessen davon, es eilt am Vater vorbei, es keucht den Stutz empor, es rennt ins Dorf zurück.
Wie der Presi nach ein paar Stunden nach Binia fragt, da sagt man ihm: »Sie ist heim zu Susi!« Da schüttelt er das Haupt und seufzt: »Sie ist dieser Tage so seltsam.«
Damit, was Bälzi über die Hitze sagte, hatte er recht.
Die Sonne! die Sonne! Die Luft im Thal zwispert, von den Weißen Brettern herunter kommt ein so heißer Strom, daß ihn selbst die erfrischenden Schwüle, die aus der Schlucht aufsteigen, nicht zu kühlen vermögen. Wie Blei fließt er in die Glieder, wie Spinnweb legt er sich um die ermattenden Sinne.
Der Mann, der über dem versammelten Dorf zwischen Himmel und Erde schwebt, steht im wachsenden Brand des Juninachmittags. Die Sonnenstrahlen liegen so auf den Weißen Brettern, daß die Augen schmerzen, wenn man eine Weile hinsieht. Sie flimmern, als sehe man, wie Licht und Hitze aus den Felsen strömen.
Ja, bei bedecktem Himmel könnte Seppi Blatter sein Werk wohl vollenden, aber in dieser mörderischen Glut, die Augen und Gehirn sengt. Der Sonnenstich!
Man sieht, daß er leidet. Seit einiger Zeit hat er die Kapuze seines Hirtenhemdes zum Schutze vor der Sonne um den Kopf gezogen. Die Aufregung wächst, die Frauen vor der Kapelle beten lauter. »Er kann's nicht vollenden,« hört man. »O, Seppi ist zäh,« antworten andere.
Jetzt ist die Arbeit soweit gediehen, daß Seppi mit dem Einlegen der Kännel beginnen kann. Immer noch schweben sie, einer um den anderen, viele Kirchtürme hoch, herab, und einen um den anderen stößt Seppi Blatter, auf ihm stehend, in die Reifen, löst die Seile der eingehängten, schwingt sich zum folgenden, und an den Felsen zeichnet die wieder erstehende Leitung eine dunkle Linie. Oft aber verzögert sich das Werk. Die sinkenden Kännel verfangen sich in den Seilen der nächsten, dann löst sie auf ein Zeichen aus dem Thal ein Zug aus der Höhe aus, und wenn sich ein Kännel befreit, schwankt das ganze Werk, als müsse es den Mann dort oben herunterschütteln wie einen Apfel vom sturmgerüttelten Baum. Oder Seppi Blatter löst die Kännel, die sich verfangen haben und sich in seinem Bereich befinden, selber aus, dann fliegen sie von der Felswand ab in die freie Luft und wieder schief zurück, daß er sich blitzschnell ducken muß, damit sie ihn nicht durch einen Schlag an den Kopf von seinem schmalen Stande werfen. Manchmal bei einem der entsetzlichen Schauspiele wagen die Zuschauer, die doch des Schreckens gewöhnte Bergleute sind, nicht zu atmen, die meisten Frauen, die das Schwanken des Gerüstes sehen, fliehen entsetzt zu der Kapelle zurück.
Selbst die harten Männer erliegen der furchtbaren Spannung. »Presi, gebt doch das Zeichen zum Abbruch. Morgen ist wieder ein Tag!«
Aber die Mehrheit ist der Ansicht, man solle, wenn Seppi Blatter nicht selber den Abbruch wünsche, in Gottes Namen mit dem Werk fortfahren, es sei auch mißlich, die Mannschaft auf dem Glottergrat im Freien übernachten zu lassen.
Dann und wann ruht Seppi Blatter eine Weile und stärkt sich an Speise und Trank. Besonders lang um vier Uhr des Nachmittags, ehe er die Führung der Leitung durch die größere Wildleutfurre in Angriff nimmt.
Josi, der vom frühen Morgen nicht von seiner Stelle gewichen ist, ist ins Gras gesunken und verbirgt sein Gesicht darin. Das starre Hinaufsehen, die Hitze, das Entsetzen! Der Taumel hatte sich seiner bemächtigt, ihm ist, glühendes Eisen senge sein Hirn, ruhelos wälzte er sich.
Fränzi und Vroni, die fast ununterbrochen vor dem Muttergottesbild gekniet sind, sehen das Leiden des Knaben und erbarmen sich seiner, obgleich das ihre nicht kleiner ist.
Eusebi, der scheue Stotterer, steht in der Nähe und schaut mitleidig auf ihn.
Seine Mutter, die stolze Gardin, will ihn mit zur Kapelle nehmen: »Man würde meinen, du gehörtest auch der Wildheuerin Fränzi!« Der blöde Knabe sagt: »L-l-os, M-m-mutter, ich w-w-mill da-da bl-bleiben!«
Sie läßt ihn, sie kann gegen ihn nicht hart sein, obschon es sie gerade heute ärgert, daß sie so ein häßliches Kind hat und die anderen so blühende Jugend. Eben Fränzi.
Seppi Blatter ist wieder an der Arbeit. In der großen Wildleutfurre! An einem Seil schwingt er sich mit mächtigem Satz in das Innere der schrecklichen Kluft und hängt an ihren Klippen. Fahnenzeichen! – Mehrere Kännel senken sich in die Schlucht und schweben frei. Und mit mächtigem Schwunge holt er jeden einzelnen ein. Er verschwindet damit im Innern der Kluft, wo man seine Thätigkeit nicht sehen kann. Kännel um Kännel zieht er ein, jetzt wird die wachsende Leitung am Rand der Schlucht wieder sichtbar, das Fürchterlichste ist gethan. Aber je länger, je unsicherer werden Seppis Schwünge, zwei-, dreimal sieht man ihn ansetzen, bis er das Ziel erreicht.
Sechs Uhr! Erfrischende Kühle strömt durchs Thal, lebhafte Bewegung ist unter dem Volk.
Seppi Blatter hat über die ganzen Weißen Bretter hin die Kännel gelegt, der Rest, der ihm zu thun bleibt, ist leicht.
Da stupst Eusebi den daliegenden Josi: »Sch-schschau! f-f-fer-fertig!«
Josi schnellt auf, lächelt verträumt, sucht mit seinen rotgeschwollenen Augen die Höhe und sieht, wie der Vater eben das zierliche Wasserrad einsetzt, das den Werkhammer hebt und auf ein Brett fallen läßt, so daß sein Schlag das ganze Thal durchtönt.
Ein Fahnenzeichen gegen den Stutz empor, Männer, die am Eingang der Leitung stehen, öffnen die heligen Wasser. In wenigen Augenblicken werden sie durch die neuen Kännel fließen. Bald wird der Merkhammer das erste Zeichen geben.
Eine ungeheure Spannung hat sich des Völkleins bemächtigt, vor der Kapelle kniet niemand mehr als die Wildheuerin Fränzi und Vroni.
»Wollt Ihr's nicht hören?« fragt eine Nachbarin, aber so lange Seppi an den Weißen Brettern ist, darf man in der Fürbitte nicht müde werden. Und Fränzi und Vroni beten.
Da horch: »Tick tack, tick tack.« Mit wachsender Schnelligkeit kommt's aus der Höhe, der Merkhammer schlägt, andere Hämmer, die weiterhin in die Leitung eingeschaltet sind, erheben ihr Spiel, das Echo ist erwacht, das Thal hat seine Musik wieder, eine einförmige Musik, die doch wie ein Psalm in die Ohren klingt. Sie bedeutet Erlösung aus dem Schrecken, Segen und Fruchtbarkeit.
Wie der Müller berauscht vor Freude aufhorcht, wenn nach langer Trockenheit sein Rad wieder klappert, so lauschen die Leute von St. Peter dem Hackbrettspiel der heligen Wasser und drücken sich vor Freude die Hände.
»Ja, Seppi Blatter ist ein Mann! – Es lebe der neue Garde!«
Der alte Pfarrer hebt segnend sein Kreuz gegen die wiederhergestellte Leitung empor, das Glöcklein, das einen Augenblick zu bimmeln aufgehört hat, setzt wieder ein. es ruft zum Dankgottesdienst, und die Berge leuchten, vom Abendrot umspielt, wie Lichter der Andacht.
Am schönsten leuchtet Josis Gesicht!
Hoch an den Weißen Brettern sind nur noch zwei oder drei Stricke zu lösen und die Arbeit, die gefahrvolle, ist glücklich gethan. Bald wird man auf den Felsentafeln nur noch die Linie der Kännel sehen.
Der Gottesdienst geht seinen Weg, da gellt ein einzelner Schrei: »Seppi!«
Der Schrei verzehn- und verhundertfacht sich – ein dunkler Körper fällt und wird größer im Fallen, er gleitet wie ein Schatten die Weißen Bretter hinab.
Seppi Blatter ist am Ende seines Werkes abgestürzt. Der Gottesdienst schweigt.
Josi ist brüllend wie ein Stier aufgesprungen und will sich in die Glotter stürzen, in der sein Vater vor seinem Blick verschwunden ist. Da halten ihn im letzten Augenblick starke Arme zurück. »Gottloser Bub!« Er beißt, er kratzt, er schlägt um sich, aber die junge Kraft erlahmt, röchelnd liegt der Knabe im Gras.
Was war die Ursache des Sturzes? – Hunderte haben hinaufgeblickt, aber wenige wissen etwas Sicheres zu sagen. Der Glottermüller, der wieder das Fernrohr geführt hat, versichert, Seppi habe bis zum letzten Augenblick frei stehend gearbeitet, da schwankte er, faßte das Seil, das ihn in die Höhe ziehen sollte, es senkte sich ein wenig, er ließ es los, im gleichen Augenblicke aber wurde es von der Mannschaft, die den Ruck Seppis für ein Zeichen genommen, in die Höhe gezogen, die Schleife am Ende des Taues legte sich dabei um das Bein, das er in die Luft gestellt hatte, die Arme des müden Mannessuchten den oberen Teil des Strickes zu spät, da schleuderte ihn das steigende Seil, das ihn am Fuß gepackt hatte, in die Tiefe.
Von allen, die Zeugen des Unfalls gewesen waren, war keiner so blaß wie der Presi.
Der Schein an den Bergen war erloschen, nur noch die letzten Streifen der Abendröte beleuchteten die traurige Heimkehr der Leute von St. Peter. Sie führten eine an Gott und Menschen irre Familie in ihrer Mitte, und im Schimmer der Mitternachtssterne kam ein zweiter dunkler Zug, dem Kaplan Johannes mit einem Kienspanfeuer, das auf einer Pfanne brannte, den Weg erleuchtete.
Dieser Zug trug die Leiche Seppi Blatters, des Helden der heligen Wasser.
Kapitel Fünf
Die Wasser rauschten und die Merkhämmer schlugen.
Mit herzlicher Teilnahme wurde Seppi Blatter bestattet. Vom Morgen an stand der Sarg neben der Thüre des Häuschens, wo der Verunglückte mit den Seinen friedlich gewohnt hatte. Auf dem Totenbaum lag der Federhut, das Schwert und die Binde des Garden. Ein silberner Becher stand auf dem Sarg. Als die Leidtragenden kamen, hob ihn jeder, trank einen kräftigen Schluck und sprach: »Lebe wohl, Seppi Blatter, möge es dir wohl thun in der Ewigkeit!« Und wenn zwei oder drei aus dem Becher getrunken hatten, so füllte ihn der Weibel wieder mit goldenem Hospeler nach.
O, man durfte sich den Hospeler schon mit andächtigen Sinnen zu Gemüte führen. Die Begierde nach eigenem Wein hatte St. Peter in die Fron der heligen Wasser gebracht. Im Feuer des Trunkes kreiste das Blut der Gestürzten.
Als der Presi erschien und zum Becher griff, schielten alle mit verhaltener Neugier nach ihm. Sie meinten, es müßte sich etwas Besonderes begeben. Aber der stolze, kraftvolle Mann hob den Becher mit Würde und fester Hand und trat mit ruhiger Gelassenheit in ihren Kreis. Der Garde war viel bewegter; die nervige eiserne Hand bebte, als er Seppi Blatter Lebewohl sagte. Ihm war, er müsse sich die grauen Haare zerraufen, weil er ihn nicht von seinem plötzlichen Entschluß zurückgehalten hatte.
Man brachte die Gedenktafel, die Kaplan Johannes im Auftrag der Gemeinde gemalt hatte, und legte sie auch auf den Totenbaum. In frischen Farben leuchtete die Inschrift:
»An den heligen Wassern ist bei Reparatur erfahlen und wohl versehen mit den hl. Sakramenten gleich tot gewesen der ehrsame Seppi Blatter von St. Peter. Gewählt worden zum Garden. Hat aber nicht angetretten. Sein Lebenslauf ist 40 Jahr und 7 Tag. R.I.P.
Mein lieber Freund, ich bitte dich,
Geh nicht vorbei und bett' für mich.«
Jetzt trug man Seppi Blatter zu Grabe. Als sich die Gemeinde vom Kirchhof verlief, gingen nur wenige, die an der Beerdigung teilgenommen hatten, in den Bären. Dem Presi war's recht. Er wollte noch nach Hospel hinausreiten und sattelte eben das Maultier. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, Frau Cresenz recht bald als Hausfrau in den Bären zu führen. Mit der alten Susi war's nicht mehr gethan, ihr Kropf wurde ihr je länger je hinderlicher bei der Arbeit, sie pfiff daraus wie eine ungeschmierte Säge und ob sie fast nicht zu Atem kam, keifte sie gleichwohl an einem Stück.
Er wollte mit Cresenz über den Hochzeitstag reden.
»Susi, wo steckt denn Bini wieder?« rief der Presi.
»Sie hat sich wieder irgendwo versteckt. Verhext ist das Kind – verhext!« jammerte Susi, »und sie war sonst ein so liebes, artiges Vögelchen, das den ganzen Tag gehüpft ist. Wer hat es ihm nur angethan?«
»Ihr seid ein Kalb; Susi, bringt mir Binia nicht mit dem Hexenzeug ins Geschwätz, sonst seid Ihr den letzten Tag im Haus!«
Damit ritt der Presi davon, Susi heulte: »Nichts mehr sagen darf man, nichts! Wie ein Schuhlumpen ist man geachtet. Gewiß bleib' ich nur wegen des Kindes.«
Schon ein paar Tage aber versteht sie Binia nicht mehr. Seit der Wassertröstung sitzt das Mädchen irgendwo in einem Winkel des Hauses, immer da, wo man sie nicht sucht, zerrt mit den Fingern der einen Hand an den Fingern der anderen, beißt in die Fingerspitzen und starrt mit den großen dunklen Augen ins Leere, wie wenn sie etwas sehen würde, was nicht ist, etwas Grauenhaftes, Entsetzliches! Susi hatte sie mit der Wallfahrt zur Lieben Frau an der Brücke geschickt, aber am Mittag kam das Kind in der warmen Sonne schlotternd zurückgelaufen, nicht in die Stube, nein, es rannte die Treppen hinauf bis unter das Dach. Als Susi es suchen ging, da saß es mitten unter altem Gerümpel des Estrichs, einen zerlumpten Rock seiner Mutter selig um das eigene Kleid gelegt. Es wimmerte leise, leise. Nur etwas verstand Susi, was das Kind immer wieder vor sich her stammelte:
»Die Hand wird ihm aus dem Grab wachsen!«
»Sage, Vögelchen, du unglückliches, wem wird die Hand aus dem Grab wachsen. Wer sagt es?«
Da warf die Kleine das Köpfchen mit dem ganzen Jähzorn zurück, den sie vom Presi geerbt hat: »Susi, das ist schlecht von dir, daß du horchst, was ich rede.«
Sie fürchtete sich vor dem Kind; es war, als wolle es wie ein wildes Tier aufspringen und sie zerreißen.
Binia, die nicht schlief, hörte am Abend spät noch auf dem Flur von dem schrecklichen Ausgang des Tages reden. Im Hemd kam sie in die Küche gelaufen, klammerte sich an Susi und schrie: »Verzeih mir, Susi, – bleibe bei mir – ich fürchte mich – ich fürchte mich gräßlich.«
Da wachte die Magd am Bett der Kleinen. Als Vinia die Augen schon einige Zeit geschlossen hatte, schlug sie sie wieder auf und flüsterte: »Wenn mich der Seppi Blatter schon ›Schlechthundekind‹ gerufen hat, so muß ich, wenn ich groß bin, Josi Blatter doch heiraten.«
Die entsetzte Susi schmeichelte: »Schlafe, schlafe, Schäfchen; wenn du groß und ein schönes Mädchen sein wirst, kommen um dich viele Burschen fragen.«
Drauf Vinia: »Ich liebe aber nur Josi! Weil der Vater Franzi nicht genommen hat, muß ich halt den Josi nehmen.«
Seither war Susi überzeugt, das Kind sei besprochen und verhext.
Dem wollte sie schon auf den Grund kommen. Als der Presi fortgeritten und die letzten Gäste gegangen waren, suchte sie das Kind. In seinem Kämmerchen kniete es am Bett.
Sie war wohlwollend zu ihm. Es aber stellte sehr sonderbare Fragen: »Du, Susi, hat mein Vater meine Mutter stark lieb gehabt?« – Wie kam es auf diese Frage? Seit drei Jahren war die selige Beth tot. Als das Kind in sie drang, antwortete Susi: »Natürlich, du Närrchen, hat der Vater die Mutter lieb gehabt.«
Das Kind fuhr mit dem Köpfchen aus dem Kissen, richtete mit unaussprechlicher Verachtung die Augen auf sie: »Du lügst, Susi, er hat sie gar nicht geliebt. Ich frage dich nichts mehr!«
Susi ging im Bewußtsein, daß sie gelogen habe, schamrot aus dem Kämmerlein.
Aber die Neugier trieb sie zu Binia zurück. Sie fuhr das Kind barsch an: »Binia, wer hat dich besprochen – du bist besessen.
»Laß mich,« schreit Binia, »ich bin krank – geh!«
Susi läßt sich nicht abweisen: »Der Kaplan Johannes schlarpt eben mit dem Bettelsack durchs Dorf, der soll dich heilen. Ich rufe ihn!«
»Nein, – nein« – kreischt die Kleine und zittert am ganzen Leib, und wie Susi eine Bewegung gegen die Thüre macht, fällt sie ihr um die Kniee.
»Ums Himmels willen rufe den Kaplan nicht.«
Susi drauf: »Gelt, der ist's, der dich besprochen hat! Jetzt haben wir's schon – dich und Josi. Ist Josi bei dir gewesen?«
»Ja, wir sind auf der Brücke gekniet – das war aber nur Scherz. – – Nein, dir erzähl' ich's nicht, du lügst und bist so dumm.«
Und das Kind hat wieder den Trotzkopf aufgesetzt.
Da bekreuzt sich die abergläubische Magd und geht: »Aber dem Presi darf man nichts sagen – nichts!«
Wie sie fort ist, schluchzt und röchelt Binia. Niemand hat ihr etwas zu leide gethan, sie hat nur gehört, was Fränzi und der Vater geredet, sie hat nur gehört, was Kaplan Johannes zu den anderen Männern sagte: »Die Hand wird ihm aus dem Grabe wachsen.« Alles das ist aber so schrecklich für ihr kleines, feuriges Herz. Sie hat gemeint, einen so trefflichen Mann wie ihren Vater gebe es nicht mehr. Ob er sie schon manchmal anschnauzte, war sie stolz gewesen auf ihn, sie hatte ihn so unendlich lieb und wenn er nur einmal ein wenig freundlich mit ihr redete, – o, dann hätte sie am liebsten die kleinen Arme um seinen Hals geschlungen und ihn vor Freude und Seligkeit in die Wange gebissen. Und jetzt weiß sie so Entsetzliches von ihm. Er hat die tote Mutter nicht geliebt, er hat Fränzi einen Kuß geben wollen, der Schämdichnicht.
Dann das Gräßliche, wie die Unterschrift Seppi Blatters entstanden ist, die Unterschrift, wegen der dem Vater die Hand aus dem Grab wachsen soll!
Das ist zu viel für ihr Köpfchen, es hämmert darin, als sollte es zerspringen. Ja, ja, die Fränzi hat recht, es ist ein Unsegen auf sie gekommen. Darüber möchte sie mit jemand reden, aber nicht mit Susi, die lügt, weil sie ihr alles ausreden will. An eine liebe Brust möchte sie sich lehnen und weinen. Sie denkt an Fränzi, die mit ihrer Mutter gut befreundet gewesen ist, Fränzi hat auch sie lieb, Fränzi lügt nicht. Ja, mit Fränzi will sie reden.
Aber sie darf nicht zu Fränzi gehen! Warum nicht? Sie weiß es im Wirrwarr ihrer Gedanken nicht, es ist ihr aber, wie wenn Blut und Feuer zwischen ihr und Fränzi, zwischen ihr, Vroni und Josi lägen.
Und aus dem Gefühl tiefer Hilflosigkeit schreit sie: »Mutter – Mutter – liebe tote Mutter!« – –
Mit einigem Herzklopfen ritt der Presi auf seinem Wege nach Hospel über die Unglücksstätte, sein kluger Verstand sagte ihm wohl, die Kaufbriefgeschichte sei damit, daß an den Weißen Brettern der Hammer wieder töne, noch nicht erledigt. War er mit Blindheit geschlagen gewesen, daß er die tolle Angelegenheit nicht sofort am anderen Morgen geordnet hatte?