bannerbanner
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Полная версия

50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Язык: Немецкий
Добавлена:
Настройки чтения
Размер шрифта
Высота строк
Поля
На страницу:
3 из 80

Vroni brach ab. Die Wildheuer, der Vater, die Mutter und Josi, mit ihren Lasten waren herangekommen. Sie warfen ihre Bündel ab, streiften die weißleinenen Kapuzen zurück, die ihre Köpfe vor dem Heustaub schützten, und wuschen sich am Brunnen, der neben der Hütte summt, die erhitzten Gesichter und die Hände.

Vroni, die fast den ganzen Tag einsam gewesen war, begrüßte die Ankömmlinge mit lebhafter Freude, aber sie dauerte nur einen Augenblick. Warum zog sich die Stirne des Vaters so finster zusammen, als er Binias ansichtig wurde, was war das für ein fremder, schmerzlicher Zug, der über das braune Gesicht bis in den blonden Bart hineinzuckte?

Plötzlich schrie er wie aus wilder Qual heraus Binia an: »Fort mit dir, du Schlechthundekind!«

Die Erschrockene und Verwirrte, die das böse Wort wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, stand einen Augenblick fassungslos, dann flüchtete sie so schnell wie eine Gemse. Hinter ihr drein Eusebi, der aber weit zurückblieb.

Fränzi und die Kinder standen verdutzt; erschreckt, vorwurfsvoll sagte die Frau: »Seppi, Seppi! bist du letzköpfig geworden? Die Binia hat dir ja nichts gethan!«

Der verstörte Mann gab keine Antwort, er setzte sich auf den Dengelstein, mit verbissener Wut begann er die Sicheln zu rüsten, als ob sie in Stücke gehen müssen.

Fränzi ging beleidigt ins Haus, Vroni standen die hellen Thränen der Kränkung in den Augen, Josi machte sich mit dem Heu zu schaffen, damit seine tiefe Verlegenheit nicht zu auffällig sei.

»Vater, der Garde hat gesagt, Ihr sollt heute abend noch zu ihm kommen!« wagte Vroni schüchtern zu melden.

Da schnob Seppi Blatter: »Hole der, welcher hinkt, den Garden mit dem Presi!«

Weinend lief Vroni davon. Mutter und Kinder verstanden den Vater nicht mehr. Den ganzen Tag war er einsilbig gewesen und hatte gebrütet. Und jetzt war er so sinnlos wild, er, der Mann, der sonst immer von stiller Gemütsheiterkeit war und gern einen Scherz machte, wenn ihn die Sorgen nicht zu stark drückten.

Etwas mußte gestern abend im Bären vorgefallen sein.

Aber was? – Wenn er es nicht freiwillig sagte, erfuhren es Mutter und Kinder nicht. Das wußten sie schon.

Als die Haushaltung in der kleinen Stube beim Abendbrot, bei Wegwartekaffee, schwarzem hartem Roggenbrot und Käse, um den Tisch saß, wollte Josi das Gespräch auf die Wildleutlaue bringen, aber da donnerte ihn der Vater mit einem »Halt 's Maul!« an.

Und als Fränzi sanft mahnte, er möchte doch zum Garden gehen, sagte er ganz traurig: »Ich bin todmüde – gute Nacht, alle zusammen.«

Beklommen ging der Haushalt zur Ruhe und die harte Tagesarbeit brachte Josi wenigstens bald den Schlaf.

Er wurde furchtbar daraus geweckt. Ihm war im Traum, als rüttelte der Wind am Haus, als knackte das Schindeldach – er wurde munter – das Getöse dauerte fort, die Balken knarrten, die Ziegen im Stall begannen zu meckern. Im Dorf bellten die Hunde und von weit her hörte er das Vieh plärren. Er schlich sich erschrocken zur Luke, die von seinem Dachgemach ins Freie ging. Der Himmel über den Bergen war sternklar, aber vom Stutz herauf schwebte es wie ein grauer Nebel und die Luft wogte. Feiner Schneestaub begann zu rieseln, die Gegend verfinsterte sich.

Da wußte er es: Die Wildleutlaue an den Weißen Brettern ist gegangen.

Jetzt fingen die Glocken zu läuten an, wie es Brauch ist in St. Peter, wenn eine Lawine, ein Gewitter oder ein Brand im Thale wütet. »Betet, betet!« läuteten sie.

Halb angekleidet stieg Josi in die Stube hinunter.

Welch ein Anblick! Die Mutter saß totenblaß auf einem Stuhl, vor ihr auf dem Boden kniete, barfuß und nur halb bekleidet, der Vater, das Haupt in ihren Schoß geneigt, seine sehnigen Hände um die ihrigen geschlungen.

Der gewaltige Mann stöhnte, schluchzte und rang nach Worten, daß es einen Stein hätte erbarmen müssen. Vroni saß am Tisch vorgelehnt, durch die Hände, mit denen sie das Gesicht bedeckt hielt, drangen die Thränen, ihre junge Brust bebte vor Leid.

»Was giebt's?« fragte Josi; als er aber von keiner Seite Antwort erhielt, fingen vor Angst auch ihm die Glieder an zu zittern, die Zähne zu klappern.

Da kam's aus der Brust des Vaters, als würde ihm das Herz abgedreht und sich im Leib auch eine Lawine lösen:

»O Fränzi – liebe Fränzi – ich habe es versprochen – ich muß an die Weißen Bretter steigen.«

Ein Schrei drang aus der Hütte in die Nacht, er kam von Vroni. Die Mutter saß entgeistert, sie hatte willenlos ihre Hände aus denen des Vaters gelöst und strich ihm über den Scheitel. Sie flüsterte immer nur: »Mein armer Seppi – mein armer Seppi! Das also ist's, warum du nicht hast reden können. Gott! Gott!«

Ihr Streicheln und ihre Worte beruhigten den Knieenden, so daß er, wenn auch nur stoßweise, sprechen konnte.

»Ich habe dem Presi die drei Zinslein für das Aeckerchen bringen wollen. Der Bäliälpler mit der krummen Nase hockte da – der Wildheuer Bälzi mit den wässerigen Augen und dem schwarzen Bocksbart. – Wir haben um eine Maß gehäkelt. – Ich habe beide über den Tisch gezogen. – Da fingen sie an zu necken und zu hänseln. – Ich sei wohl stark, aber doch ein Hasenherz und wage mich nicht, wie sie, auf die Kronenplanken. Ich höre eine Weile zu und sage nichts. Da kommt endlich der Presi und redet von der Wildleutlaue. Er lacht, er spricht so drum her, es könnte einer ein schönes Stück Geld verdienen, wenn er die Gemeinde nicht zum Los kommen lasse. Ich meine, es geht auf Bälzi. ›Hast ja acht Kinder, laß dich auf den Handel nicht ein!‹ sage ich.

»›He, es wird einer an die Bretter steigen müssen,‹ machte der Presi unwirsch, ›er braucht ja nicht grad in die Ewigkeit zu fallen.‹ Ein Wort giebt das andere. Plötzlich sagt er zu mir: ›Wenn einer noch drei Zinslein schuldig ist, braucht er den Mund nicht so weit aufzumachen, wie du, Seppi; gescheiter wär's, du stiegst an die Weißen Bretter.‹

»Ich bin wie vom Donner getroffen, ich rolle das Geld aus dem Sack auf den Tisch, da höhnt er: ›Eben, eben, hast die Loba verkauft. Wenn ich's schon nicht hätte erfahren sollen, so weiß ich's. Hättest mir wohl vorher einen Deut thun können.‹ Ich darauf: ›Es darf doch noch einer sein Rind verkaufen, ohne daß so und so viel Franken in den Fingern des Presi bleiben.‹

»Da schlägt er auf den Tisch, brüllt, es sei traurig, wenn einer an der Zahlung von vierhundert Franken sechs Jahre herumzerre. Und er kündigt mir den Brief auf Martini.

»Ich habe immer gehofft, er werde wieder gut zu mir, er ist sonst nicht ungrad und wir sind alte Schul- und Militärkameraden, drum bin ich in der Stube sitzen geblieben. Er ist auch wieder artig geworden, man redet, man trinkt, da lacht er auf einmal: ›Wage den Streich, Seppi, steige an die Weißen Bretter. Auf deinem Aeckerchen, das für vierhundert Franken verschrieben ist, steht noch eine Schuld von hundertachtzig Franken. Ich will nicht der Presi sein, wenn die Gemeinde dir nicht den Brief abnimmt, sofern du die heligen Wasser wieder herstellst; sage ja, und ich übernehm's auf meine Verantwortung, ich gebe dir gleich den Vertrag. Die Genehmigung durch die Gemeinde bleibt vorbehalten. Soll ich schreiben?'

»›Nein, nein,‹ schreie ich und kann fast nicht reden, ›kennst du das Vaterunser: Und führe mich nicht in Versuchung!‹

»›Ho,‹ meint er, ›es ist ein schöner Verdienst, du kannst an einem Tag nicht mehr gewinnen. Du verdienst nicht so viel in einem Jahr. Und wenn ich das Briefchen kündige, kommst du auch in Verlegenheit.‹«

»›Ein dummer Teufel bist,‹ sagte Bälzi.«

»Ich trinke, die anderen lachen: ›Den Schlotter hast, aber keinen Mut!‹ Da habe ich den Wein im Kopf gespürt, ich habe auf einmal den Acker deutlich vor mir gesehen, wie er schuldenfrei voll Aehren steht. – Hin und her hat es mich gezerrt, daß mir ganz taumelig geworden ist. – Der Presi schreibt, die anderen zwei schwatzen auf mich ein, ich sehe nichts, ich höre nichts. – Da liegen die Scheine vor mir, der Presi sagt: ›Du mußt unterschreiben, – entweder den Empfang der Kündigung oder den Vertrag, daß du an die Bretter gehst.‹

»Ich nehme die Kündigung, da schreit Bälzi: ›Du Großhans, wo willst du zu Martini hundertachtzig Franken hernehmen? Da hast den anderen Schein!‹

»Mir ist schwarz worden vor den Augen – ich habe nicht mehr gesehen, was ich unterschrieb – als der Presi den einen Vertrag eingesteckt hat, habe ich es gewußt, was ich gethan.

»Da ist die Sünde!« Der bleiche Mann zog aus der offenen Weste ein zerknittertes Papier hervor und warf es auf den Tisch. Dann neigte er sein Haupt in den Schoß seines Weibes.

Lautes Weinen erfüllte die Hütte; mit dem rauchenden Kienspanlicht, das seinen flackernden Schein über die Gruppe des Elends warf, kämpfte das Morgenrot.

Kapitel Drei

Die Wildleutlaue ist gegangen!

In der Nacht schon standen die Leute in Gruppen vor den Häusern des Bergdorfes, redeten miteinander, und als der Morgen kam, dachte niemand ans Tagewerk.

Im Bären saßen schon Gäste. Ihre Zahl wuchs, als die, welche an den Stutz hinausgegangen waren, um die Größe der Verwüstung zu sehen, zurückkehrten. Sie brachten den Bericht, den man erwartete: die Lawine hatte die Leitung der heligen Wasser von den Weißen Brettern hinuntergefegt und den Abgrund der Glotter mit Eis und Schnee gefüllt.

Also ist heute Wassertröstung! Die Bauern erzählten sich die Schrecken der Nacht: Die Scheiben klirrten, die Luft sprengte die Thüren auf, die Betten wackelten, die Kinder schrieen, die Frauen riefen zu den Heiligen.

Die alten Sagen von den heiligen Wassern hatten freien Lauf. Binia, die der Lärm aus dem Bett geschreckt hatte und wie ein aufgescheuchter Vogel verwirrt und übernächtig von einem Gemach des Hauses zum anderen flatterte und überall fortgeschickt wurde, hätte in der großen Wirtsstube nur zu horchen brauchen, um den Rest der Geschichte zu vernehmen, den ihr Vroni schuldig geblieben war.

Nachdem die Venediger den Wildleutewald geschlagen hatten, kam an der Stelle, wo die große Arve gestürzt war, ein weißer Fleck, der Felsen, zum Vorschein und glänzte, als ob dort ein Stück Schnee nicht weggegangen wäre. Mit jedem Gewitter und jeder Schneeschmelze wurde der unheimliche Fleck größer, die Weißen Bretter wuchsen gespenstisch aus dem dunklen Erdreich, die Wasser wühlten die Furren, schlechte Jahre machten die Gletscher groß und eines Tages wischte ein Gletscherbruch die Kännel der heligen Wasser, deren Befestigung immer schmieriger wurde, in die Glotter hinab.

Man sah darin die Strafe der Wildleute und nannte den Eisbruch – die Wildleutlawine!

Als die Wasser gebrochen waren, kehrte in Hospel und in den Dörfern wieder Dürre und Mangel ein. Der Zorn der Bewohner des großen Thales wandte sich gegen die Venediger und die Leute von St. Peter, da sie schuld an dem Unglück seien. Die Dörfer forderten sie durch Boten auf, daß sie die Leitung wieder herstellen, doch wagte es niemand, an die senkrechten Weißen Bretter hinaufzusteigen, Kännel darüber hinzuführen und sie zu befestigen. Da stellten die Hospeler und die Dörfer im Thal bei Tremis Wachen auf, sie ließen niemand weder nach St. Peter hinein, noch von dort nach Hospel hinaus. »Unglück über uns!« klagten die von St. Peter, aus Mangel zogen die Venediger über die Schneelücke ab, das Bergwerk zerfiel und die Füchse wohnten in den Stollen. Die Not wurde immer größer, denn die kleinen Aeckerchen, welche die Leute um das Dorf hin anlegten, gaben nicht genug Brot, es fehlte das Holz und viele Bewohner erfroren im Winter. Der Pfarrer erlag der Seuche, die im Dorfe herrschte, niemand verkündete mehr das Wort Gottes. Da sagten die von St. Peter: »Ehe wir gottlos werden wie die wilden Tiere, ehe unsere Kinder ins Leben treten ohne Taufe, die Söhne und Töchter heiraten ohne Trauung, die Greise sterben ohne Beichte und Sakrament, wollen wir uns mit Gewalt den Thalweg erzwingen.« Mit Sensen und Gabeln fielen die Männer und Frauen von St. Peter über die Wachen bei Tremis und töteten sie, aber in der zweiten größeren Schlacht, die beim Bildhaus an der Gemeindegrenze von St. Peter und Tremis geschlagen wurde, erlagen sie. Die Krieger aus dem großen Thal drangen bis ins Dorf vor, raubten und plünderten und die Bewohner mußten sich ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben.

Da kam ein großes Versprechen zu stande, das für ewige Zeiten ins Landrecht aufgenommen wurde. Die von St. Peter sollen die heligen Wasser an den Weißen Brettern vorüberführen und sie vom Gletscher an bis zum Bildhaus bei Tremis unterhalten, wie es das gemeinsame Wohl forderte, dafür sollen sie ungehindert aus dem Thale verkehren können und ihre Weinberge zurückerhalten, die vorderen Dörfer aber sollen die Leitung von der Brücke an besorgen und Friede immerdar währen.

Jetzt wußten die von St. Peter, daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als die heligen Wasser, sollte es auch alle Bürger kosten, an den Weißen Brettern vorüberzuleiten. Sie bestimmten, daß das Los unter ihnen entscheide, wer von ihnen die großen Eisenringe, in die man die Kännel hängen wollte, hoch an den gräßlichen Felsen befestigen müsse. Des Losens war kein Ende, einer nach dem andern stieg hinauf, schon waren sieben gefallen, das Wehklagen des Dorfes füllte das Thal, und viele, die das Los noch verschont hatte, wanderten heimlich mit ihren Haushaltungen über die Schneeberge aus. Da war ein Ehrloser, Matthys Jul mit Namen, der zu Hospel an einer Kette im Gefängnis lag, weil er einen andern Mann im Zorn erschlagen hatte. Er anerbot sich, die Leitung herzustellen, wenn er dadurch seine Freiheit und Ehre wiedererlange. Man führte ihn an die Weißen Bretter und siehe da – ihm gelang es, die Reifen festzumachen und die Kännel zu legen. Die Merkhämmer klopften, das Wasser floß nach langem Unterbruch wieder fröhlich durchs Thal; da wurde beschworen, daß jede Blutschuld gesühnt sei, wenn der Thäter die heligen Wasser an den Weißen Brettern aus dem Verderben rette.

Alle zweimal sieben Jahre, bald ein paar Sommer früher, bald ein paar Sommer später, saust die Wildleutlaue über die Weißen Bretter herunter und zerstört die Wasserfuhre, immer muß dann ein Mann auf Leben und Sterben an die Felsen emporsteigen, daß er die Kännel wieder füge, und geheimnisvoll waltet, wenn sich kein Freiwilliger meldet, darüber das Los.

Als vielhundertjährige, durch Brauch und Sitte, ja sogar durch die kirchlichen Anschauungen geweihte unablösbare Fron liegt die Instandhaltung der heligen Wasser auf dem Dorf, der milde Segenspender von Hospel ist der Drache von St. Peter, der die blühende Mannschaft des Dorfes verschlingt. Dunkle Sagen melden von manchem Opfer, das unfreiwillig an die Weißen Bretter emporgezwungen worden ist; mit den Ueberlieferungen, die von den Unglücksfällen berichteten, welche an den schrecklichen Wänden geschehen sind, könnte man ein Buch füllen.

Auf einer der vielen Gedenktafeln im grauen Kirchlein an der Brücke, das einst den fröhlichen Bergknappen als Gotteshaus diente, sagt eine Inschrift, die auch schon halb verblaßt ist, kurz und schwer: »Welche Trauer! Der Totfäll' ist kein End'!«

Sollen die Opfer überhaupt nie enden? – Die Sage tröstete, einst würde ein Liebespaar St. Peter von der Blutfron an den heligen Wassern erlösen, aber eine Jungfrau müsse darüber sterben. Wann? – Ja, wohl erst, wenn sich die andere Sage erfüllte, daß auf den Bergen, auf denen jetzt die großen Gletscher liegen, Rosengärten blühen, der kreisende Adler sich des fallenden Zickleins erbarmt und es der Mutter bringt.

Heute ist Wassertröstung – Losgemeinde. Nur scheu und verstohlen wagt sich die Frage, die auf allen Herzen brennt, hervor: Wer wird an die Weißen Bretter steigen müssen? – Das Los – das blinde Los, wen trifft's? – Sie liegt wie ein Alpdruck auf den Gemütern, denn keiner weiß, ob nicht er aus der alten silbergetriebenen Urne des Dorfes, die noch an die Bergwerksherrlichkeit erinnert, sich die Verdammnis ziehen wird, als Bürger von St. Peter den Gang auf Leben und Sterben zu wagen. Er – oder wenn nicht er, sein Vater, sein Sohn oder sein Bruder. Auf jedem Herzen liegt die Furcht und gräßliche Spannung. Da ist kein Unterschied zwischen arm und reich, wer zwischen zwanzig und sechzig Jahren und im Besitze der bürgerlichen Ehren steht, der muß dem Rufe folgen, wenn er aus der Losurne an ihn ergeht.

Auf die erste Nachmittagsstunde, nachdem die heligen Wasser gebrochen waren, sollten die Bürger zur Losgemeinde einberufen werden. So forderten es die alten Satzungen. Vom Fall der Lawine an bis zur Loswahl standen in St. Peter alle Rechtshandlungen, die sich nicht auf die heligen Wasser bezogen, Kauf, Verkauf, Taufe, Hochzeit und Begräbnis still. Beim Ehrenverlust durfte niemand das Thal verlassen, alle hatten dem Klang der Glocken zu folgen, die vom Mittag an eine Stunde lang zur Wassertröstung läuteten. Die Satzungen drängten auf rasches Handeln, und das war gewiß besser als die lange Ungewißheit; um so furchtbarer aber lasteten die kurzen Morgenstunden auf dem Dorfe, denn noch war die Abmachung zwischen dem Presi und Seppi Blatter nur wenigen bekannt, und die schwiegen.

Die einen, die im Bären saßen, stierten trübsinnig in das Glas und der Wein mundete ihnen nicht, die anderen tranken und johlten dazu.

St. Peter, das stille Dorf, wo die Leute kaum zu lachen und zu reden wagten, war heute laut und lebendig, der Hälfte der Bewohner hatte die Furcht und Spannung die Zunge gelöst.

»Hört! – hört!« Alle drängten sich um den Tisch, wo der bocksbärtige Bälzi beim Schnaps hockte und prahlerisch wiederholte: »Ich weiß, was ich weiß – es kommt nicht zum Losen. Es meldet sich einer.« Allein er blieb bei dunklen Andeutungen – enttäuscht wandten sich die anderen von ihm ab: »Er ist ein unzuverlässiger Lump. Gebt nichts auf den!«Doch hatte sich's schon einigemal zugetragen, daß sich unverhofft und in den bittersten Nöten ein Freiwilliger für die gefahrvolle Arbeit meldete. Im Anfang des Jahrhunderts ein armer, braver Knecht, der umsonst beim harten Vater um die Hand der Meisterstochter gebeten hatte. Er legte die Kännel, und die Gemeinde trat für ihn als Freiwerber ein. Im Jahre 1819 fiel ein Freiwilliger, der geglaubt hatte, seinem toten Vater, der wandeln mußte, die Ruhe zu verschaffen. Und nachdem zweimal das Los gewählt, hatte sich vor vierzehn Jahren Hans Zuensteinen freiwillig als Helfer gestellt; sein Gang war die Lösung eines Gelübdes, das er für die glückliche Errettung seines Weibes aus dreitägigen Nöten bei der Geburt Eusebis gethan hatte.

Darauf hatte man ihm das Ehrenamt des Garden verliehen, das er musterhaft verwaltete.

Wunderbar wäre also nicht, wenn auch jetzt wieder einer, von den geheimen Mächten des Lebens getrieben, aufstehen und den Bann von der Gemeinde nehmen würde.

Susi, die alte Trottel von Haushälterin, und Mägde aus dem Dorf besorgten die Wirtschaft, der Presi ließ sich seit einer halben Stunde nicht blicken, aber wenn die Gäste gehorcht hätten, so hätten sie seine schweren Schritte durch die Decke über sich gehört.

»Gott's Maria und Sankt Peter – Räusche haben wir alle gehabt.« – Jetzt stand er im Selbstgespräch still und stützte sich auf den Tisch. »Ich muß hinter sich machen.« Er nahm ein beschriebenes Blatt Papier, er that, als wolle er es zerreißen. Er legte es aber wieder hin. »Was angefangen ist, muß man vollenden.« Er lief und wiederholte: »Dumm« – »dumm« – »dumm.« Der Mann kämpfte gegen sich selbst, daß ihm die hellen Schweißtropfen auf der Stirne standen. Er hatte nichts Großes gegen Seppi Blatter; der war ein geplagter Mann, der mit seinem Fleiß ein besseres Fortkommen verdient hätte, und der Verkauf des Rindes war nicht von Wichtigkeit. Man durfte als Presi nicht kleinlich sein. Der ganze Handel war ein Streich des Uebermutes gewesen, in seiner Anheiterung hatte er, gereizt von Seppis Widerstand, prüfen wollen, ob er ihn nicht doch herumbringe. Ja, wenn die Sache zwischen ihm und Seppi geblieben wäre, dann hätte er schon rückwärts krebsen können, aber der Bäliälpler wußte davon, Bälzi – und der Garde. Ohne den offenen oder heimlichen Spott dieser herauszufordern, ging's nicht ab. Nun – und ob! Wieder griff er nach dem Papier.

Da klopfte es. Der krummmäulige, bogennasige Bäliälpler, der vorher ein rechter Mann gewesen war, aber seit dem Tod seiner zwei schönen Kinder den Halt verloren hatte, trat ein. Er zog den Hut: »Presi, mich drückt's – in die Geschichte will ich nicht gesponnen sein. Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Ich habe einen Rausch gehabt.«

»Das war doch nur ein zu weit getriebener Scherz!« erwiderte der Presi heiter; »natürlich kann Seppi nicht behaftet werden, wir müssen halt losen!«

Er hatte sich im Augenblick entschieden, der Bäliälpler schien ihm wie ein Helfer der Vernunft und er begleitete ihn wie aus Dankbarkeit zur Thüre. Da hörte er Binias glockenhelle Stimme:

»Nein, nein, alte Susi, zu Fränzi lasse ich mich nicht schicken, Seppi Blatter ist ein wüster Mann, der hat mir »Schlechthundekind« zugerufen und mich fortgejagt.«

Der Presi traute seinen Sinnen nicht – horchte – schnob: »Binia, daher!« und zog das Kind, das, nichts Gutes ahnend, flüchten wollte, in sein Zimmer.

»Wie hat dich Seppi Blatter genannt?« – Die Kleine schwieg. Da rüttelte er sie zornrot und wiederholte keuchend die Frage.

»Schlechthundekind,« weinte die Kleine leis.

»Schlechthundekind! Schlechthundekind! Schlechthundekind! Seppi, du mußt ans Brett!«

Wie ein wildes Tier lief der Presi hin und her, er stampfte, daß man es in der Stube unten hörte. Binia erspähte die Gelegenheit, um aus dem Zimmer zu wischen, wagte sich aber nicht an dem tobenden Manne vorbei, kletterte die kleine Ofentreppe empor, und als der Falldeckel, der auf den Estrich führte, wohl weil er durch Gerümpel verstellt war, dem Druck ihrer kleinen Hände nicht nachgab, verkroch sie sich in ihrer Angst auf den Specksteinofen.

Da pochte es.

»Herein! – Ihr, Fränzi Blatter? Was wollt Ihr?«

Der milde Mann meisterte seinen Zorn – er schob ihr einen Stuhl hin.

Fränzi war eine arme Wildheuerin, aber die Bauern, die ihresgleichen nicht aus dem Wege gingen, wurden kleinmütig vor ihr. Schon ihre Erzählkunst, die sie an langen Winterabenden im Kreise der Dörfer übte, gaben ihr etwas Geheimnisvolles, man betrachtete sie wie eine, die mehr erlebt hat, mehr weiß, mehr denkt, mehr fühlt als die andern. Ob sie gleich die Spuren schwerer Arbeit, an sich trug, so war sie doch ein Weib, dem der Wiederschein dessen, was sie reich in der Seele lebte, in Augen und Angesicht lag und einen eigenartigen Reiz verlieh. Und vor allem war sie eine rechtschaffene Frau.

Der Presi und sie maßen sich einen Augenblick, sie den Gegner in Bescheidenheit und tiefer Trauer.

»Gebt mir das gemeine Papier zurück, Presi!« sagte sie, indem sie ihn mit ihren großen blauen Augen ruhig, fast freundlich anblickte.

»Geschrieben ist geschrieben, Fränzi!« In barschem und bedauerndem Ton sprach es der Presi.

»Ihr besteht auf einer erschlichenen Unterschrift – – du bestehst darauf, Peter!«

Der Presi zuckte zusammen und krümmte sich, als sie ihn duzte, sein Gesicht wurde fahl. Eine Welt voll schöner und peinigender Erinnerungen stand in ihm auf.

»Peter! Es sind sechzehn Jahr', da hast du in der Nacht an mein Fensterchen gepocht. Du hast in meinem Kämmerchen geweint und auf den Knieen gefleht: »Fränzi, erhöre mich, ich bin verloren, wenn du mich nicht rettest, ich bin im Streit vom Vater gegangen, ich habe keinen guten Menschen als dich!' Wir verlobten uns heimlich und sechs Wochen warst du mir gut. Dann söhntest du dich mit dem Vater aus und nahmst auf sein Drängen Beth. Du warst treulos gegen mich, treuloser gegen sie, denn du hast sie nicht geliebt.«

»Wozu das, Fränzi?« sagte der Presi dumpf und hilflos vor der Würde des Weibes, das vor ihm saß.

»Weil ich meinte, ich habe mit dem unendlichen Leid, das du mir damals zufügtest, das Recht erworben. daß du meinen Mann und mein Haus in Ehren haltest und ihnen unnötig nichts Leides anthuest.«

Der Presi schluckte: »Ihr Frauen versteht nichts von dem – und Fränzi – ich muß mein Geld und die Gemeinde einen Mann haben. Keiner ist wie Seppi für das Werk geeignet. Es geschieht ihm auch nichts dabei!«

»Ich will dir sagen, warum Seppi gehen muß. Du hast es ihm nie verziehen, daß er mein Mann geworden ist. Du wolltest mich, das arme Mädchen, nicht mehr für dich, aber du gönntest mich auch keinem anderen. Wie David den Urias in den Krieg geschickt hat, schickst du Seppi an die Weißen Bretter – nicht daß du mich, das schon fast alte Weib, mehr möchtest, aber du hassest ihn!«

На страницу:
3 из 80