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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Nun zuckte und wühlte sie im Dorf, er hatte es aus den verlegenen Mienen der Männer gelesen, die an der Beerdigung Seppi Blatters teilnahmen.

Er schwitzte – er sehnte sich nach Hospel, die Welt schien ihm dort freier – hier legte sich etwas wie Zentnerlast auf die Brust – es war zum Ersticken. Gut, daß er jetzt die Weißen Bretter, den Teufelsgarten mit den zertretenen Blumen, das Schmelzwerk und die Kapelle hinter sich hatte.

Der hundertstimmige Schrei beim Sturz Seppi Blatters gellte ihm noch in den Ohren.

»Ta-ta-ta. Ich bin der Presi!« denkt er.

Er kommt in das Kreuz nach Hospel, aber Frau Cresenz zeigt sich gar nicht und der stolze Kreuzwirt, der behäbigste Gastwirt am Weg von der Stadt bis zum Hochpaß, sein zukünftiger Schwager, empfängt ihn frostig.

»Was hast, Kreuzwirt, warum magst mir nicht recht die Ehre geben?«

»Von dir läuft ja die Schande auf allen Straßen. Und Seppi Blatter ist so ein braver Mann gewesen. Ist's wahr, daß du ihm, wie er betrunken gewesen ist und geschlafen hat, die Feder geführt hast?«

Da schlägt der Presi die Faust auf den Tisch, springt auf: »Vor Gericht müssen mir die räudigen Hunde – Wer hat's gesagt?«

»Von rechtschaffenen Leuten ist's hier im Kreuz verhandelt worden, aber, daß ich dir die Namen nenne, giebt's nicht.«

»Es ist eine elende Verleumdung. Horch, Joch, wie's zugegangen ist. Man hat einen Mann haben müssen, mit dem Losen ist's gar eine mißliche Sache.« Der Presi erzählte und schloß mit der Frage: »Was sprichst jetzt?«

»Ich sage, daß die Geschichte nicht sauber ist! Geplagt hast du Seppi, das giebst ja selber zu. Wo hast du dir das Herz hergenommen, ihn grad an dem Tag, wo du dich mit der Cresenz verlobt hast, mit dem Kaufbrief zu kreuzigen? Das gefällt uns nicht. Wenn du Seppi Blatter die hundertachtzig Franken aus Anlaß deiner Verlobung geschenkt hättest, so hätte es mich und die Cresenz gefreut. Man hätte dann aus dir etwas Glück gespürt. Jetzt aber kränkt sich Cresenz.«

Der Presi wurde ganz klein – das traf. Er wußte wohl, daß er sonst der Gescheitere war als der vornehme hohle Kreuzwirt. Aber jetzt hatte der recht! Und er murrte verlegen und stoßweise.

Der Kreuzwirt fuhr fort: »Warum fragst du nicht, wo sie bleibt? Weil du dich schämst, weil du weißt: es ist ein Schandfleck auf deiner Ehre!«

»Ein Schandfleck auf meiner Ehre!« wiederholte der Presi. Sein Gesicht war blutleer und seine Hand langte mechanisch nach dem Zündhölzchenstein.

»Laß den Stein liegen,« sagte der Kreuzwirt ruhig, »es ist jetzt genug an Gewaltthätigkeit. Cresenz aber will sich besinnen, ob sie Bärenwirtin von St. Peter werden will. Sie schreibt dir darüber in den nächsten Tagen.« Als der Presi heimritt, kam er sich vor wie ein vom Hagelwetter erschlagener Baum. Die Wut über die Verleumdung tötete ihn fast. »Die schlechten Hunde – die elenden Tröpfe – – Ist die Wahrheit nicht genug?« stammelte er vor sich hin.

Er sah die blauen, großen, vorwurfsvollen Augen Fränzis, die schönen und guten Augen. O, wie er sie jetzt haßte!

Schweißgebadet ritt er durch die Dämmerung. Jetzt sah er Seppi Blatter, aber nicht den geringen Wildheuer, der gequält am Wirtstisch saß. Nein, den Wasserstreiter, der freiwillig an die Bretter gestiegen war. Der schaute ihn herausfordernd an, immer als hätte er die Frage auf den Lippen: »Presi, wollen mir zusammen einen Hosenlupf machen?«

»Ich Hab's nicht durchgezwungen – das weißt – bist ja selber gegangen,« schnauzte der Presi.

Und als ob er mit einem anderen im Zwiegespräch wäre, sagte er nach einer Weile: »Ja, das gebe ich zu – ich habe dich geplagt – es ist dumm gegangen an jenem Abend.«

Bei der Kapelle stieg er nicht ab, um ein Gebet zu verrichten, wie es die fromme Sitte heischt; er sah die frische Tafel Seppis, die während seines Aufenthaltes zu Hospel in das kleine Gotteshaus gestellt worden war, ihre Goldfarbe glänzte frisch – frech, dachte der Presi und im Vorbeireiten rief er: »Daß du mich nicht gar zu stark klemmst, Seppi Blatter, sonst –! Weißt, ein wenig leid' ich's schon, hab's auch verdient – aber wenn du mich zu stark schuhriegelst – du weißt, Fränzi, Vroni und Jost sind noch nicht in der Ewigkeit.«

»Halt 's Maul, räudiger Pfaff!« schrie er, als er am Schmelzwerk vorüberjagte und den Kaplan Johannes singen hörte. Unaufhaltsam vorwärts, den Stutz hinauf drängte er das arme Tier mit seinen Flüchen und kam früher, als ihn jemand erwartet hatte, nach Haus.

Im Bären saß tiefbekümmert der Garde. Er wartete nicht lang mit seinem Bericht. Das Amt war auf ihn zurückgefallen – für einstweilen, hatte man im Gemeinderat gesagt – das bedeutete aber in St. Peter für Lebzeiten.

»Presi, ich hab's zum Guten leiten wollen, aber die Sache steht bös. Die Geschichte der Unterschrift Seppis geht vertrüdelt und verdreht durchs Dorf. Es sind darum auch keine Leute im Bären.«

»Die Gemeinde wird nicht die ganze Zeit saufen müssen, ich verlange es gar nicht,« höhnte der Presi, »wenn sie wildeln und wüst thun wollen über mich, so ist es mir schon lieber, sie erledigen es draußen, als mir unter der Nase. Das könnte unlustig werden.«

»Möchtet Ihr in diesen Tagen nicht einmal die Franzi aufsuchen und mit ihr im guten reden?«

»Damit die Leute mit den Fingern auf mich weisen und sagen: »Den hat das Gewissen gedrückt!««

»Wir haben jetzt gewiß allen Anlaß, gegen den Haushalt rücksichtsvoll zu sein.«

»Aber ich nicht – ich nicht! Lieber werde ich ein brünniger Mann.« Der Presi wischte sich den Schweiß, der immer noch auf seiner Stirn perlte, er war so müde wie lange nicht mehr: »Ueber diese Geschichte wird schon Gras wachsen!«

»Lange keines,« knurrte der Garde, stand auf und ging. –

»Endlich Ruhe.« – Auf der Straße verlor sich der schwere Schritt des Garden und der Presi stützte den Kopf in beide Hände und ließ nachdenklich die Lider auf die Augen fallen.

Aber er brachte das Bild nicht weg. »O, es ist entsetzlich, einen Mann einen ganzen Tag kämpfen zu sehen – das geht nicht fort. – Du bist ein schlechter Hund, Seppi Blatter, daß du mir das angethan hast und, wie du schon fertig warst, noch herunterflogst.«

Der Presi ging in seine Kammer. – –

Ueber den Unglücksfall an den heligen Wassern und die ihn begleitenden Umstände wuchs lange kein Gras. Durch alle Gespräche zitterte der Nachhall, weniger die Klage um Seppi Blatter selbst, als die Neugier, wie er veranlaßt worden sei, an die Weißen Bretter zu steigen. Allein nachdem es einige Wochen bös über den Presi gegangen war, so daß er es für gut fand, mit den Leuten so herzbeweglich artig zu reden, wie nur er es verstand, schlug die Stimmung um. Die Geschichte sei vielleicht doch nicht so schlimm. Bälzi habe sie im Anfang nur aus Wut so ehrenrührig für den Presi erzählt, und er sei ja ein ganz unzuverlässiger Mensch, der Presi aber sei, wenn er die Laune habe, ganz gutherzig und habe schon manchem, der sich nicht mehr zu raten und sich zu retten wußte, aus der Klemme geholfen. »Und,« gaben die Leute zu, »er ist halt doch der Gescheiteste unter uns allen.«

Am meisten Beruhigung fanden die von Sankt Peter in der Sommerarbeit, die sie schwer ins Joch schlug und sie auf Aecker, Alpen und in die Weinberge zerstreute.

Der Stimmungsumschlag erstreckte sich bis nach Hospel. Von Frau Cresenz kam eines Tages ein Briefchen und am folgenden Tag ritt sie, vom Kreuzwirt begleitet, den Silberschild der Hospelertracht vor der Brust, das kokette Filzhütchen auf dem Haupt, vor den Bären.

Der Presi empfing den Kreuzwirt und seine Schwester nicht zu freundlich, denn die Beleidigung vom letzten Besuch saß ihm noch wie ein Dorn im Fleisch, aber mit einem Scherzwort zog Frau Cresenz den Stachel heraus, und gegen liebenswürdige Frauen war der sonst unbeugsame Mann nachgiebig.

Und Frau Cresenz war hübsch. Aus ihrem vom Ritt leichtgeröteten Gesicht schauten muntere graue Augen, sie hatte kluge und angenehme Züge, eine kühle Sprechweise und war in ihren Bewegungen, obgleich ihr Körper fast zu stattlich war, von unleugbarer Anmut.

»Die steht dem Bären wohl an,« schmunzelte der Presi in sich hinein und zeigte den beiden das Haus.

»Ja, da muß vieles anders und ordentlicher werden, da gehört wirklich wieder eine Hausmutter hin.« Und die hübsche Frau Cresenz lächelt dem Presi gutmütig verständnisvoll zu.

Etwas beschämt sagt er: »Wir haben bis jetzt halt nur ein Bauernwirtshaus geführt. Das muß natürlich für die Fremden alles anders eingerichtet sein!«

Als die drei die Treppe aufwärts in den zweiten Stock stiegen, trat die alte Susi, die Röstpfanne, aus der der Kaffeeduft aufstieg, in den runzeligen Händen, neugierig unter die Küchenthüre und sah ihnen nach. Da machte Frau Cresenz am Geländer der Treppe einen Fingerstrich und zeigte den Staub hinter dem Rücken des Presi dem Kreuzwirt.

Nun war die Alte teufelswild und faustete hinter der kleinen Gesellschaft her: »Nein, bei der bleibe ich nicht.«

Der Presi hatte mit seinen Gästen den Estrich erreicht. Plötzlich ertönte schallendes Gelächter der Frau Cresenz. Aus einem von allerlei Gerümpel gebildeten Winkel starren sie zwei große Kinderaugen an, ein ängstliches Gesicht schaut aus einem alten zerrissenen Tuch, das malerisch über den Kopf geworfen ist.

»Ist das Binia? Ach, das Kind habe ich ganz vergessen. – Komm, du artiger Fratz.« – Die Kleine sieht die Augen des Vaters aufmunternd auf sich gerichtet und kriecht hervor. Da reißt ihr Frau Cresenz lachend das Tuch ab: »So, jetzt siehst du menschenähnlich aus, nun gieb mir die Hand.«

Sie sagt es mit kühler Freundlichkeit, aber der erschrockene scheue Wildling rennt an ihr vorbei und wirbelt die Treppe hinunter. Die alte Susi ruft ihr zu: »Hast die neue Mutter gesehen, die hochmütige?«

»Die neue Mutter!« Nun muß sie auch darüber denken. Und das kleine Köpfchen brennt doch schon von allem anderen, worüber ihm niemand Auskunft giebt. Der Vater hat mit der Frau so lieb geredet. Nie, nie hat er so mit der seligen Mutter gesprochen und auch nicht mit ihr. Doch, aber es ist schon so lange her. Sie schleicht sich auf den Zehenspitzen in ihr Kämmerchen empor. Denken – denken will sie.

Gegen Abend hört sie die Fremden fortreiten, das fröhliche Lebewohl, das der Vater Frau Cresenz zugerufen hat, tönt ihr in die Ohren. Ihr aber thut der Kopf so weh, ihre Zähne klappern, sie kriecht ins Bett.

Da hört sie die Tritte des Vaters. Gewiß kommt er sie zu züchtigen.

Sie mochte seine Absicht erraten haben, aber in den Zorn mengte sich die Vatersorge. Binia war zwar immer ein eigenartiges Kind gewesen, oft nachdenklich, oft ausgelassen lustig, aber seit einiger Zeit war sie so blaß und scheu und allen ein Rätsel.

Wäre er abergläubisch gewesen, er hätte geglaubt, die Drohung der Fränzi sei schon in Erfüllung gegangen, Unsegen sei auf dem Kinde.

Wie er sie nun am hellen Tag mit gläsernen Augen im Bette liegen sah, entwaffnete die Sorge den letzten Zorn.

Er setzte sich ans Lager, nahm die fiebernde Hand der Kleinen ganz vorsichtig in seine Pratze und als sie, sich von ihm abwendend, leis wimmerte, legte er ihr die andere Hand auf das seidenweiche dunkle Haar. Das Kind zuckte zusammen.

»Was machst du für Streiche, liebe Maus? Du hast eine heiße Stirn, bist ja ganz krank. – Binia – Gemslein – liebes Gemslein, schau mich einmal an.«

Sorge und Bangigkeit sprachen aus seinem Ton.

Als das Kind die sanften und lieben Worte des rauhen Vaters hörte, die es wie ein Klang aus fernem schönem Traum umwarben, überließ es ihm das heiße Händchen, das es ihm hatte entziehen wollen, und halb freudig, halb ängstlich blinzelte es mit den großen Augen nach ihm.

»Hast du mich nicht mehr lieb, Bini?«

»O doch – doch – Vater,« klang das seine Stimmchen, »aber – –« Sie schauerte.

»Rede nur. Maus!«

»Ich habe dich so viel zu fragen. Thust du mir nichts, wenn ich etwas frage?« Der zarte Körper zitterte.

»Nein, frage nur – bist ja meine Maus!«

»Warum bist du auch so lieb und gut jetzt, Vater?« Das tönte so fein und scheu und ein bleiches Lächeln flog über die Lippen des Kindes.

»Ich habe dich ja immer lieb gehabt, Gemslein. Weißt nicht mehr, wie ich dich auf dem Arm getragen habe? Und weißt noch, wie ich dir manchen Kram von Hospel mitgebracht habe?«

An diesen Gedanken spann das Kind weiter.

»Ja, die Mutter und ich haben jedesmal auf dich gewartet, bis du am Abend heimkamst. Und dann hast du mich noch ein wenig auf die Knie« genommen und ich habe darauf reiten dürfen. Die Mutter hat mich dann zu Bett gebracht und hat meine Hand genommen wie du jetzt und wir haben gebetet: »Lieber Gott, lieber Herr Jesus Christus! Erhalte den lieben Vater gesund.« Und dann hat sie die Kissen an mein Köpfchen gedrückt: »Schlaf, schlaf, du liebes Engelchen« Und manchmal ist eine Thräne auf meine Wange gefallen, aber am Morgen, wenn ich sie gesucht habe, war sie fort.«

Rührend, als ob das fiebernde Kind gegen das Weinen kämpfte, klang das Stimmchen, der Presi hatte den Kopf gesenkt, und als er nichts antwortete, fuhr das Kind fort:

»Seit die Mutter tot ist, besucht sie mich jede Nacht. O, sie ist so schön, sie ist ganz weiß und hat Flügel an den Schultern. Und wenn sie sieht, daß ich ihr altes Sonntagsbrusttuch bei mir im Bett habe, so lächelt sie wunderschön. Nur das Tuch muß ich haben, dann kommt sie. – Aber, Vater, warum hat die Mutter auch so viel geweint, als sie lebte?«

Der Presi war unruhig geworden, die Zärtlichkeit des Fiebergeplauders regte ihn auf.

Das Mündchen aber lief und lief: »Wie ist es schön gewesen, als ich noch klein war. Josi und Vroni sind immer gekommen, er hat mich dann auf dem Rücken getragen, und dafür hast du ihnen Kirschen vom Baum gerissen.«

»Was hast vorhin fragen wollen, Bini?« unterbrach der Vater barsch das plaudernde Kind.

»Thust du mir nichts?«

»Dumme Maus, du!« Sein Ton war wieder freundlich.

Die Augen des Kindes öffneten sich – es richtete sich im Bettchen halb auf und zitternd, traumhaft kam's:

»Du, Vater, wenn ich groß bin, darf ich dann die Frau Josi Blatters werden?«

Da verzerrte sich das Gesicht des Presi. – Der Zug hoffnungsvollen Zutrauens auf dem fiebergeröteten Kindergesicht erlosch, es stopfte den Mund mit dem gekrümmten Finger, die Augen wurden schreckhaft groß, und seine Gedanken taumelten nach einem Rettungsanker – es schlang das Aermchen um den Vater, es schrie:

»Ich hab' nicht das sagen wollen, Vater – nein – ich habe fragen wollen: Ist es wahr, daß dir die Hand aus dem Grab wachsen wird?«

Da verglasen sich auch die Blicke des Presi, er ächzt – und ächzt. Plötzlich brüllt er: »Wer sagt das? – Sagt es Fränzi?«

Vor Furcht weiß das Kind nicht mehr, was es sprechen soll, was es spricht.

»Fränzi – Vroni – nein – Josi – oder nein –« Es will weiter reden.

Aber der Presi schlägt ein so schauerliches Lachen an, wie wenn etwas in ihm risse. Das Kind schweigt.

»Und den willst du heiraten! – Da also packst du mich, toter Seppi Blatter. Deinem Buben will ich's eintränken.«

Er faustet sinnlos gegen die Wände: »Jetzt wollen wir sehen, ob ein lebendiger Presi nicht über einen toten Wildheuer Meister wird.« Er will sein krankes Kind schlagen, aber es hat sich tief unter die Decke verkrochen und hält sie mit krampfhaften Händen fest.

Unter der Thür steht Susi, die irgend etwas berichten will; und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

Der Presi schwankt aus der Kammer.

Ein Riß war von dieser Stunde zwischen Vater und Kind. Binia lag einige Tage krank, der Presi kümmerte sich nicht um sie; als sie mit blassen Wänglein wieder in der Stube erschien, übersah er sie und vermied lange Wochen sie anzureden, als er es endlich wieder that, da war es nur in Gegenwart Dritter und seine Worte beschränkten sich auf kurze Befehle und gleichgültige Dinge.

Daran änderte auch die Hochzeit mit Frau Cresenz, die im Herbst stattfand, wenig.

Kapitel Sechs

St. Peter ruht mit seinen Holzhäusern halb versunken im Schnee, wie die Federkissen eines Brautfuders liegt er auf den Dächern, die Glotter gurgelt unter dem Eis. Am Mittag stechende Sonne, blauer Himmel, ein Licht von den Bergen, daß man die Hand über die Augen decken muß, triefende Dächer und sonnenwarme Luft, des Nachts bittere Kälte, so daß der Schnee im Flimmern der Sterne wie Millionen erbarmungslose Glassplitterchen funkelt.

Die Lichter leuchten freundlich aus den kleinen Fenstern ebenhin in den Schnee. Von Haus zu Haus huscht es und eilt es. Bursche und Mädchen, jung und alt sitzen um die Lewatöllampe zusammen, die Frauen spinnen den Flachs, die Mädchen flechten mit raschen Fingern Strohbänder und nähen Hüte, die Männer schnitzen an Holzschuhböden herum und nebeln mit den Pfeifen.

Man redet nicht viel, die von St. Peter sitzen gern still und feierlich im Kreis. Am häufigsten noch hört man das Weib des Fenkenälplers, das von Zeit zu Zeit von ihrem Mann einen Zug aus der Tabakspfeife bettelt.

»Fenkenälpler, kauft der Bre doch ein artiges Klöbchen,« lacht der krummmäulige Bäliälpler. »Wenn die Weiber rauchen, so schadet's dem Hausfrieden nichts – das meine raucht jetzt auch schon ins siebente Jahr.«

»Es ist halt doch nicht schön,« meinte die fröhliche Bertha Thugi, eine Neunzehnjährige, die neben ihrem jüngeren Bruder Peter, dem Enkel des alten Peter Thugi, sitzt, »daß bei uns so viele Weiber rauchen wie Kamine. Mir gefallen Fränzi und die Gardin – sie rauchen nicht.«

»Jetzt will die das Rauchen der Weiber abschaffen, wie die neue Bärenwirtin den Schnaps.«

Die fromme, geizige Glottermüllerin, die den Mühlknecht hungern läßt, mault: »Recht ist's. Zuerst haben die Männer gar nicht gewußt, wie die neue Frau Presi genug rühmen. Schön und leutselig sei sie. Jetzt hat man's. Nicht einmal ein Gläschen Gebranntes mag sie ums gute Geld den Leuten gönnen. Sie meint wohl, in St. Peter seien alle vergüldet wie der Presi.«

Der Bäliälpler mit der Bogennase und dem krummen Maul aber brummt: »Was mir gar nicht gefällt, sind die Handwerksleute von Hospel, die jetzt die ganze Zeit im Bären lärmen. Er war doch von jeher ein schönes Haus. Aber wißt ihr? Fremde Weltleute, Deutschländer, Franzosen, Englische und Hispaniolen, wie's seit ein paar Jahren zu Grenseln, Serbig und im Oberland sommers über hat, sollen mit ihren Weibern, Hunden und Katzen in den Bären kommen und darein sitzen. Was meint ihr? Wozu ist an der Straße eine Thür ausgebrochen worden und wird eine Stube gemacht? In diese Truhe können die von St. Peter hocken und oben, wo wir bis jetzt gesessen sind, in der schönen großen Stube, rutschen die fremden Maulaffen herum, die den Unterschied zwischen einem Gemsbock und einem Kalb nicht kennen.«

»Protestieren soll man! – Aber die Gemeinderäte, der Garde ausgenommen, haben's wie unsere Maultiere, sie machen so.« Der glatzköpfige Glottermüller, der eine Stimme hat wie ein Weib, aber selbst schon lange gern Gemeinderat geworden wäre, nickt mit dem Kopf, bis alles lacht. Und plötzlich ruft er, daß alle aufblicken:

»Die Gemeinde soll man anfragen, ob wir Fremde in St. Peter dulden wollen oder nicht. Das behaupte ich.« Wichtig blickt er um sich.

»Der Pfarrer ist dagegen. Eine Todsünde sei's. Fremde nach St. Peter zu rufen. Anstecken mit großen Fehlern und Sünden würden sie uns und Schaden bringen an der heiligen Religion.«

So der Bockjeälpler, der zwischen dem Reden immer schnalzt.

»Hört! – hört!«

»Es ist nicht bloß deswegen!« meint der alte großbärtige Peter Thugi, der bisher fleißig an seinen Löffeln und Kellen herumgeschnitzt, den Abend noch kein Wörtchen gesagt hat und mit seiner tiefen Stimme sehr langsam spricht, »es ist wegen der Dinge, von denen man nicht unnötig reden soll – wegen der armen Seelen!«

Das Wort bringt eine merkwürdige Bewegung hervor.

Alle Arbeit ruht, schweigend und feierlich schaut man nach dem alten Manne und wer raucht, legt die Pfeife weg.

»Wenn nur Fränzi da wäre,« fährt er fort, »sie könnte es besser erzählen als ich, wie an den Firnen der Krone tausendmal tausend abgeschiedene Seelen im Eise stehen und sehnsüchtig auf ihre Erlösung warten. Um ihre Gebete zu verrichten, brauchen sie Frieden und Ruhe. Vom Thal herauf mögen sie nichts hören als das heilige Glockengeläute. Lachen, leichtfertiges Reden und großer Lärm thut ihnen weh. Namentlich beleidigt es sie, wenn die Leute neugierig auf die Gletscher und Firnen steigen. ›So weit die Welt grün ist, ist Lebendigenland, wo sie weiß ist, ist Totenland.‹ Das haben sie schon manchem Gemsjäger gesagt, der sein Tier ins weiße Revier verfolgte. Wenn nun aber die Fremden, die nichts von den armen Seelen wissen, alle Tag tanzen und Sonntag machen? Ich will's euch sagen: Es kommt ein mächtiges Unglück über St. Peter.«

Der Erzähler schweigt; alle erwarten, daß er wieder beginne – niemand redet, der Bäliälpler nur mahnt: »Erzählt, Peter Thugi!«

Da fährt Peter Thugi geheimnisvoll fort: »Es hat eine Zeit gegeben, wo es in St. Peter so weltlich zuging, wie es wieder geschehen wird, wenn die Leute aus den Weltländern kommen. Alle Tage waren Lustbarkeiten, sündiges Reden und Wollust. Das war, als noch die Knappen im Schmelzmerk saßen. Da hat im Bären jeden Abend eine Musik aufgespielt und immer war mit lustigen Weibsbildern Juhe und Juheien. Als nun die von St. Peter, die solche Weltlichkeit duldeten, zu Pfingsten in die Kirche kamen, sahen in den vordersten Bänken auf der Weiberseite zwölf weiße Vorstehbräute, die niemand erkannte. Wie der Gottesdienst vorüber war, schritten sie hinauf durch die Alpen zu den Firnen der Krone. Vor einer Hütte, die jetzt schon lang nicht mehr steht, begegneten sie dem frommen Sennen Sämi, der nicht mehr gehen konnte und auf der Bank bei der Thüre saß. Da fragten sie ihn ängstlich, ob wohl die Leute von St. Peter aus ihren betrübten und traurigen Gesichtern gemerkt haben, warum sie zur Kirche gekommen seien. Der alte Sämi spürte aus ihrem Ton, daß es etwas sehr Ernstes sei und meinte, ihm können sie es schon verraten. Sie seien arme Seelen von der Krone, antworteten sie, und haben die von St. Peter warnen wollen, daß sie das tolle Leben im Dorf nicht länger dulden. Wenn sie es aber weiter litten, so würde St. Peter von Lawinen verschüttet, denn die vielen tausend armen Seelen, die jetzt mit ihren Leibern dem Firn Halt geben, würden auswandern und dann stürze der Schnee der Krone aufs Dorf. Sie hätten auf ihre Bitten die Erlaubnis bekommen, daß sie die von St. Peter warnen dürfen, er möge es ihnen sagen, wenn es die Leute sonst nicht gemerkt haben. Sie dürfen doch nie mehr kommen und die Mahnung gelte für ewig. Erleichtert gingen die armen Seelen ihres Weges und sangen vor Freude, daß sie die Botschaft einem so braven Manne wie Sämi hatten ausrichten können. Sämi aber schickte Bericht ins Dorf über das merkwürdige Erlebnis, und siehe da – alle die in der Kirche gewesen, erkannten die Vorstehbräute. Es waren gestorbene Mädchen von St. Peter. Die Leute trieben die Musikanten und die leichten Weibsbilder fort, und seither weiß man in unserem Dorf, was geschieht, wenn Wohlleben und Ueppigkeit wieder kommen.«

Der Kreis der andächtigen Zuhörer und Zuhörerinnen schauderte.

»Der Presi bringt noch über uns alle gleiches Unglück wie über Seppi Blatter!« unterbrach die böse Zunge des Glottermüllers das Schweigen.

»Pst!« klang eine Weiberstimme aus dem Hintergrund durch den blauen Tabaksnebel, »Bälzi weiß, wie der Presi den Leuten ein Schloß an den Mund legt, die etwas wider ihn sagen.«

Die Gesellschaft hätte lieber noch mehr Geschichten von den Toten gehört und neigte nicht mehr zum Schwatzen.

Bertha Thugi, die von der Erzählung ihres Großvaters bewegt war, meinte: »Laßt uns doch die Wildheuerfränzi holen, sie weiß alle Geschichten des Gebirges, die von den Lebendigen sowohl wie die von den Toten, sie weiß die Ueberlieferungen und Sagen, sie hat manchmal bis um die Mitternacht erzählt, so daß alle zitterten und man fast nicht mehr heimgehen durfte.«

»Fränzi ist aber nie ungebeten erschienen, sie hat aus ihrem Erzählen immer eine Kunst gemacht, die geehrt sein wollte. Und jetzt lehnt sie alles Erzählen ab. Sie habe keine Lust mehr zum Reden. Ich verstehe es nach dem großen Unglück wohl.«

So der alte Peter Thugi, und schweigend lichtet sich allmählich der Kreis, die Totensagen summen in den Köpfen, die Sagen Fränzis.

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