bannerbanner
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Полная версия

50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

Язык: Немецкий
Добавлена:
Настройки чтения
Размер шрифта
Высота строк
Поля
На страницу:
43 из 80

Die Inconfidência ist eine Verschwörung junger Leute und darum eine romantische, mit kühnen Reden und schwungvollen Gedichten, ungeschickt in der Vorbereitung und doch vom Geist der Zeit getragen in ihrer Entschlossenheit. 1788 hatte eine Gruppe junger brasilianischer Studenten an der Universität Montpellier lebhaft die Notwendigkeit einer nationalen Befreiung diskutiert und sogar schon mit Jefferson, dem Pariser Gesandten der Vereinigten Staaten, Fühlung gesucht, um ihrer Sache die Hilfe der nordamerikanischen Republik zu gewinnen. Eine wirkliche Aktion kam nicht zustande, aber die Idee blieb lebendig, und sofort wie einige dieser Studenten dann nach Ouro Preto, der damals geistig regsamsten Stadt, zurückkehrten, formt sich eine revolutionär gesinnte Gruppe unter Führung des aus Coimbra eben eingetroffenen José Álvares Maciel und Joaquim José da Silva Xavier, der unter dem Namen »Tiradentes« der vielbesungene Held dieser ersten wirklich brasilianischen Freiheitsbewegung geworden ist. Es sind durchwegs Männer geistiger Berufe, die sich in diesen geheimen Konventikeln vereinigen, Ärzte, Dichter, Juristen, Magistratspersonen, dieselbe neuaufsteigende bürgerliche Schicht, die zur gleichen Stunde in Frankreich die Revolution führt – Männer, die gerne diskutieren und sich an Büchern und Ideen begeistern, Männer, die gerne sprechen und diesmal zu viel sprechen. In ihrem Enthusiasmus sehen sich die Verschwörer, noch lange ehe sie die Verschwörung richtig geplant und organisiert haben, schon am Ziel und suchen ungestüm und gutgläubig Freunde für ihr noch durchaus theoretisches Projekt. So kann der Gouverneur, von eingeschmuggelten Spionen ständig informiert, im voraus zuschlagen, ehe sie selbst sich zur Tat entschlossen haben. Die meisten der jungen Leute werden zur Deportation nach Afrika verurteilt, der Dichter Cláudio Manuel da Costa tötet sich im Gefängnis, und nur einer, Joaquim José da Silva Xavier, der »Tiradentes«, der frei und heroisch vor dem Tribunal sich zu seiner Überzeugung bekennt, wird auf die grausamste Weise am 21. Juli 1789 in Rio de Janeiro hingerichtet und die Stücke seines zermarterten Leibs para terrível escarmento dos povos an den Straßenkreuzungen von Minas aufgenagelt. Aber damit ist der Funke der Freiheitsbewegung keineswegs niedergetreten, er glimmt weiter unter der Erde. Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist Brasilien wie alle seine südamerikanischen Nachbarstaaten von Argentinien bis Venezuela hinauf innerlich schon für den Abfall von Europa bereit und wartet nur noch auf die gegebene Stunde.

Ein Zufall hält diesen Abfall noch um zwei Jahrzehnte auf. Portugal ist in den napoleonischen Kriegen in die schlimmste Lage geraten, die es im Kriege gibt: zwischen Hammer und Amboß. In dem erschöpfenden Ringen der beiden Giganten Napoleon und England wäre das kleine Land naturgemäß gewillt, abseits und neutral zu bleiben.

Aber wenn die Gewalt ein Jahrhundert regiert, ist für Friedwillige kein Raum; sowohl Frankreich, das Portugals Häfen will, als auch England, das sie gegen die Kontinentalsperre benötigt, fordern Entscheidung. Und diese Entscheidung ist fürchterlich verantwortungsvoll für König João VI. Napoleon beherrscht den Kontinent, England beherrscht die See. Widerstrebt der König Napoleons Forderung, so marschiert Napoleon ein, und dann ist Portugal verloren. Widerstrebt er England, so sperrt England das Meer, und er verliert Brasilien. Angesichts dieser unerbittlichen Wahl, ob Lissabon vom Lande aus durch Napoleon oder von der See her von den Engländern bombardiert werden solle, bilden sich am Hof zwei Parteien, die pro-französische und die pro-englische. Der König schwankt, und in seinem Schwanken wird er zum erstenmal bewußt, was Brasilien in drei Jahrhunderten geworden ist: das kostbarste Gut seiner Krone und längst nicht mehr eine bloße Kolonie. Er ahnt, daß es in Hinkunft vielleicht mehr Reichtum, Macht und Weltstellung bedeuten wird, Brasilien sein eigen zu nennen als Portugal; zum erstenmal schwankt in der Waagschale Portugal zu Brasilien gleich zu gleich.

In letzter Stunde fällt das Haus Bragança, als Napoleon 1807 das Ultimatum stellt, ob Portugal für ihn oder gegen ihn sein wolle, die Entscheidung: lieber Lissabon aufgeben, lieber ganz Portugal verlieren als Brasilien. Während Junot in Eilmärschen schon vor den Toren Lissabons angelangt ist, schifft sich die königliche Familie mit fünfzehntausend Personen, dem ganzen Adel, dem Magistrat, den Kirchenleuten, den Generälen und – last but not least – zweihundert Millionen Cruzados hastig ein, überquert unter dem Schutz der englischen Flotte den Ozean. Ein Weltumsturz mußte kommen, damit zum erstenmal in drei Jahrhunderten irgendein Angehöriger des Hauses Bragança und nun sogar sein König in persona den Boden Brasiliens betritt.

Der Gouverneur und die Zeremonienmeister erschrecken heftig. Rio de Janeiro hat keine Paläste, hat nicht genug Räume und Betten, um so hohe Gäste und einen so zahlreichen Hofstaat zu empfangen. Aber das Volk jubelt dem Monarchen begeistert entgegen und begrüßt mit Jubelrufen ihn als den »Imperador do Brasil«, denn es fühlt instinktiv, daß ein Monarch, der einmal als Flüchtling bei ihm Schutz gesucht, Brasilien in Hinkunft nicht mehr länger als untergeordnete Kolonie behandeln könne. In der Tat fallen bald nach der Ankunft des Königs die einengenden Schranken. Vor allem werden die Häfen dem Welthandel geöffnet, die industrielle Produktion unbeschränkt freigegeben, eine eigene Bank geschaffen, die Banco do Brasil, Ministerien eingesetzt, eine königliche Presse eröffnet, zum erstenmal darf in dem bisher geknebelten Land sogar eine Zeitung erscheinen. Eine Reihe Institute erstehen, die Rio de Janeiro zu einer wirklichen Hauptstadt machen, Akademien, Museen, ein botanischer Garten. Aber erst 1815 erfolgt endlich die volle staatsrechtliche Gleichberechtigung der reinos unidos; Portugal und Brasilien, einst Herrin und Magd, sind nun Schwestern. Was vor einem Jahrzehnt nicht zu erträumen war und von staatsmännischer Weisheit ansonsten in Jahrhunderten nicht zu erhoffen, das hat die weltumformende Persönlichkeit Napoleons in knappster Frist erzwungen. Durch diesen Glücksfall – immer waren, man kann es nicht genug wiederholen, die Katastrophen Portugals Glücksfälle für Brasilien – bleibt der Unabhängigkeitskrieg, der Nordamerika durch Jahre verwüstet und die anderen südamerikanischen Staaten schwere Blutopfer gekostet, diesem bevorzugten Lande zunächst erspart; Brasilien kann die europäische Unruhezeit geruhig nutzen, um seine Grenzen langsam zu konsolidieren. Längst – 1750 – sind die alten Einschränkungen des Vertrages von Tordesillas für ungültig erklärt worden. Weit nach Westen, den ganzen Lauf des Amazonas entlang, erstreckt sich das neue Königsreich in die Tiefe; im Süden ist Rio Grande do Sul dazugewonnen, im Norden die lang umkämpfte Grenze bis nach Guyana hinaufgerückt, und die gute Gelegenheit, daß Europa auf Kongressen beschäftigt ist, verlockt Dom João VI., sich mit einem Handstreich Montevideos zu bemächtigen und Uruguay – allerdings nur vorübergehend – an Brasilien als cisalpinische Provinz anzuschließen. Die endgültige Form Brasiliens ist mit dem neunzehnten Jahrhundert soviel wie erreicht.

Diese Jahre der Gegenwart des königlichen Hofes bringen außer dem politischen dem Lande auch ungemeinen moralischen Gewinn. Seit die Jesuiten unter Pombal aus dem Lande vertrieben wurden, geschieht es zum erstenmal, daß Portugiesen von kulturellem Rang, Gelehrte, Wissenschaftler sich in der Hauptstadt ansässig machen. In großzügigster Weise beruft der König außerdem Forscher und Maler aus Frankreich und Österreich, um Institute zu begründen oder zu erweitern. Erst von diesem Zeitpunkt an besitzen wir wirkliche Bilder und Darstellungen von Rio, wissenschaftliche Studien, lesbare Schilderungen. Das königliche Brasilien ist nun nicht mehr die einstige terra do exilio, seit es die terra do refúgio seines Königs geworden, und in wenigen Jahren wird es ein Gegenpol europäischer Zivilisation und die Stätte eines glanzvollen und hochgeachteten Hofes. Und nichts zeigt deutlicher die Weltstellung dieses neuen Landes, als daß der Kaiser von Österreich, nach Napoleons Fall der mächtigste Mann Europas, den Thronfolger dieses Reiches, Dom Pedro, nicht für zu gering hält, um ihm eine Schwester Maria Louisens, seine Tochter Leopoldine zu vermählen, die mit größten Festlichkeiten in Rio empfangen wird. Könnte König João seiner eigenen Neigung folgen, so bliebe er zeitlebens in dem neuen Land, dessen Schönheit und zukünftiger Wert ihm wie all den Seinen bald klargeworden ist. Aber das heimische Portugal verlangt, nun da Napoleon von seiner wüsten Insel St. Helena Europa nicht mehr beunruhigen kann, seinen angestammten König eifersüchtig zurück. João gerät in Gefahr, falls er dem immer gebieterischer werdenden Rufe nicht folgt, den Thron seiner Vorfahren zu verlieren. Lange zögert er den Abschied hinaus, aber schließlich geht es nicht länger: 1820 kehrt João VI. nach Lissabon zurück, nachdem er zuvor den Thronerben Dom Pedro zu seinem Stellvertreter in Brasilien ernannt.

König João VI. hat zwölf Jahre in Brasilien residiert, Zeit genug, um zu erkennen, wie stark, wie eigenwillig, wie national das Land mit dem neuen Jahrhundert geworden ist; im tiefsten Herzen vermag er sich der schlimmen Vorahnung nicht ganz zu erwehren, daß eine Personalunion zweier Länder über dreitausend Meilen Ozean auf die Dauer nicht haltbar sein wird. Aus dieser Erkenntnis gibt er seinem Sohn Dom Pedro, den er als defensor perpétuo do Brasil eingesetzt hat, den Rat, im Notfall lieber selbst die Krone Brasiliens sich auf das Haupt zu setzen, ehe irgendein fremder Abenteurer sie an sich reißt. Tatsächlich zeitigt die Abreise des Königs eine nationale Bewegung, welche die independência fordert, und die von dem Thronfolger eher gefördert als gehemmt wird. Nach scheinbarem Widerstand erklärt der junge Ehrgeizige am 7. September 1822, geführt von dem hervorragenden patriotischen Minister José Bonifácio de Andrada e Silva, dem ersten wirklich brasilianischen Staatsmann, der mit großer geistiger Überlegenheit den Ehrgeiz des Thronfolgers für seine patriotischen Ziele auszunützen weiß, die Unabhängigkeit Brasiliens; am 12. Oktober 1822 wird der bisherigedefensor perpétuo als Pedro I. zum Kaiser von Brasilien proklamiert, nachdem er zuvor geschworen, nicht als autokratischer Herrscher, sondern als konstitutioneller Fürst das Land zu regieren. Nach kurzen Kämpfen teils mit treugebliebenen portugiesischen Truppen, teils mit revolutionären Bewegungen, wird die äußere Ruhe im Lande hergestellt; die innere freilich ist schwerer zu erringen. Das brasilianische Unabhängigkeitsgefühl, von den unerwartet raschen Erfolgen berauscht, will noch sichtbarere Triumphe. Auch diesen seinen ersten Kaiser empfindet es noch nicht als den eigenen, den eigentlichen, den wirklich brasilianischen; das Volk kann Pedro I. nicht verzeihen, daß er geborener Portugiese ist, und der Verdacht will nicht verstummen, er würde nach dem Tode seines Vaters versuchen, die beiden Kronen wieder zu vereinigen. Auch versteht Pedro I., mehr Romantiker als Realist, bravourös, aber allzuviel mit erotischen Privatangelegenheiten beschäftigt und den Hof der Willkür seiner Maitresse, der Marquise von Santos, aussetzend, sich nicht bei seinem Volke beliebt zu machen.

Den entscheidenden Stoß gibt der unglückliche Krieg gegen Argentinien, in dem Brasilien seine »cisalpinische Republik« verliert. Im historischen Sinne bedeutet der Ausgang dieses Krieges zwar eher einen politischen Gewinn; durch die Schaffung eines unabhängigen Uruguay ist ein für allemal jeder Konflikt zwischen den beiden mächtigen Schwesternationen Brasilien und Argentinien ausgeschaltet und durch dauernde Freundschaft ersetzt. Aber 1828 sieht das Land nur den Verzicht auf die La-Plata-Mündung, der Brasilien sehnsüchtig seit Jahren zustrebt, und der Kaiser muß diesen Unmut fühlen. Es hilft nichts, daß er 1830, nach dem Tode João VI., die ihm rechtlich zufallende Krone Portugals ausschlägt und damit bekundet, daß er sich eindeutig für Brasilien entschieden habe; er bleibt hier der Fremde, der Ausländer, und immer mehr organisieren sich die nationalen Elemente gegen ihn. Die französische Julirevolution gibt seiner Popularität den letzten Rest, denn alles Französische wirkt stimulierend auf die brasilianischen Parlamentarier, die in ihren Reden, Verordnungen und Debatten gewohnt sind, das Pariser Vorbild nachzuahmen, und diese Kopierung des Französischen geht so weit, daß groteskerweise zwei führende brasilianische Politiker sogar Lafayette und Benjamin Constant heißen. Nur rechtzeitige Resignation des unbeliebten Kaisers kann den Thron noch gegen den republikanischen Ansturm retten; so dankt Pedro I. 1831 zugunsten seines Sohnes ab in der richtigen Erkenntnis: Meu filho tem sôbre mim a vantagem de ser brasileiro. Auch bei dieser Abdankung wird wieder die brasilianische Tradition glücklich gewahrt, staatspolitische Umstürze womöglich ganz ohne Blutvergießen und in konzilianter Art zu vollziehen. Still, nicht verfolgt von Haß und Groll, verläßt der erste Kaiser Brasiliens das Land.

Der neue Kaiser Pedro II., o imperador menino, dem Blut nach zugleich ein Habsburger und ein Bragança, ist bei der Abdankung seines Vaters fünf Jahre alt. José Bonifácio übernimmt für ihn die Regentschaft, und nun beginnt vor und hinter den Kulissen ein wildes Politisieren und Intrigieren. Für Brasilien, das dreihundert Jahre unselbständig und mundtot gewesen, sind die parlamentarischen Rechte und die Pressefreiheit zu neue Dinge, als daß sich nicht alle daran berauschten. Unablässig gehen die Debatten; die politische Erregung bleibt aus bloßer Rede- und Politisierfreude eigentlich ohne äußeren Anlaß – ständig in Hochspannung, eine Partei arbeitet für die Errichtung einer Republik, eine andere sucht den persönlichen Regierungsantritt Pedro II. zu beschleunigen, dazwischen überkreuzen sich persönliche Intrigen. Keine Regierung, keine Partei scheint wirklich stabil. Viermal in sieben Jahren wird der Regent gewechselt, ehe endlich die konservative Partei, um eine gewisse Beruhigung zu erzwingen, 1840 die vorzeitige Majorennitätserklärung Pedro II. durchsetzt. Mit fünfzehn Jahren wird der bisherige imperador menino am 18. Juli feierlich zum Kaiser von Brasilien gekrönt.

Wie wenig Vertrauen die Welt den ständigen Bündeleien und Zänkereien der südamerikanischen Politiker entgegenbringt, zeigt die kühle Aufnahme des geheimen Botschafters, der sofort nach der Thronbesteigung nach Europa abgesandt wird, um für den jungen Kaiser eine Gemahlin von fürstlichem Rang zu suchen. Sein erster Weg geht nach Wien zu den Habsburgern, den nächsten Verwandten des jungen Kaisers. Aber während seinerzeit seinem Vater Pedro I. ohne Zögern eine Erzherzogin aus dem immer reichen Bestände der kaiserlichen Familie zugeteilt wurde, bleibt diesmal der allmächtige Kanzler Metternich abwartend und kühl. Die südamerikanischen Staaten haben durch die Unstabilität ihrer Regierungen, die fortwährenden Putsche ehrgeiziger Generäle und leidenschaftlicher Politiker in Europa viel an Kredit verloren. 1840 denkt man nicht mehr daran, eine Erzherzogin über das unruhige Meer in ein noch unruhigeres Land zu schicken, und selbst unter den Prinzessinnen minderer Kategorie zeigt keine einzige Neigung zu dieser überseeischen Kaiserkrone. Nachdem er ein ganzes Jahr vergeblich in Wien antichambriert, muß der Brautwerber sich zufriedengeben, eine napoletanische Prinzessin mit wenig Schönheit und wenig Geld, dafür aber reicher an Jahren als ihr zukünftiger Gatte, für den jungen Monarchen heimzubringen.

Aber diesmal wie sooft haben die berufsmäßigen Politiker sich in ihren Prognosen geirrt; dieser junge Monarch wird beinahe ein halbes Jahrhundert lang friedlich regieren und eine an sich schwierige Position mit Würde und unter allseitiger Achtung behaupten. Pedro II. ist dem Wesen nach eine kontemplative Natur, eher ein auf den Thron verschlagener Privatgelehrter oder Bibliothekar als ein Mann der Politik oder der Armee. Ein wahrhafter Humanist von anständiger Gesinnung, für dessen Ehrgeiz es höheres Glück ist, einen Brief von Manzoni, Victor Hugo oder Pasteur zu erhalten, als bei militärischen Paraden zu glänzen oder Siege zu erfechten, hält er sich – obwohl äußerlich durch seinen schönen Bart und sein würdiges Auftreten sehr eindrucksvoll – möglichst im Hintergrund und verbringt seine glücklichsten Stunden in Petrópolis bei seinen Blumen oder in Europa mit Büchern und in Museen. Seine persönliche Haltung ist – und damit wirkt er durchaus im Geiste seines Landes – konziliatorisch, und der einzige Krieg, den er während seiner langen Regierungszeit zu führen genötigt war, – der Kampf gegen Lopez, den aggressiven Militärdiktator von Paraguay – endet nach dem Siege mit einer vollkommenen Versöhnung des Nachbarstaates, sogar die militärischen Trophäen werden dem besiegten Lande freiwillig zurückgegeben. Durch die äußerlich imposante, innerlich vorsichtig farblose Haltung des Kaisers, durch die staatsmännische Überlegenheit Rio Brancos, der alle Grenzkonflikte durch Schiedsgerichte und internationale Vereinbarungen zu schlichten weiß, durch den sichtlich steigenden Reichtum des Landes, das, statt seine Grenzen gewaltsam zu erweitern, eine innere Konsolidierung anstrebt, erzwingt sich Brasilien in diesen fünfzig Regierungsjahren Dom Pedro II. eine ganz neue Respektstellung in der Welt.

Ein einziger Konflikt freilich ist durch alle diese Jahre nicht zu lösen, weil er mit seiner Spitze bis hart an den Lebensnerv des Landes reicht und eine allzu radikale Operation, einen unberechenbaren Kraft- und Blutverlust bedeuten würde: das Problem der Sklaverei. Seit Anbeginn ist die ganze landwirtschaftliche und industrielle Produktion Brasiliens einzig auf Sklavenarbeit fundiert; noch besitzt das Land weder genug Maschinen noch freie Arbeiter, um diese Millionen schwarzer Hände zu ersetzen. Aber anderseits ist – insbesondere seit dem nordamerikanischen Sezessionskrieg – die Sklavenfrage aus einem sozialen ein moralisches Problem geworden, das eingestandenerweise oder uneingestandenerweise das Gewissen der ganzen Nation bedrückt. Offiziell zwar ist seit 1831 – eigentlich schon 1810 durch einen Vertrag mit England – jeder neue Import von Sklaven und damit eigentlich der Sklavenhandel verboten; 1870 wird dieses Schutzgesetz ergänzt, durch das Gesetz des ventre livre, demzufolge jedem Kinde einer Sklavin schon vom Mutterleibe an die Freiheit gewährt ist. Durch diese zwei Gesetze wäre eigentlich praktisch die Sklavenfrage nur eine Frage der Zeit, keine prinzipielle mehr, weil jeder Zuwachs an neuen Sklaven verhindert ist und mit dem Absterben des lebenden Materials es bald nur mehr freie Menschen in Brasilien geben müßte. In Wirklichkeit kehren sich aber weder die Sklavenimporteure noch die Besitzer abgelegener Plantagen im geringsten an diese Gesetze. Fünfzehn Jahre nach dem Verbot des Sklavenhandels werden 1846 noch fünfzigtausend, 1847 nicht weniger als siebenundfünfzigtausend, 1848 sogar sechzigtausend Neger importiert, und da die mächtige Gruppe dieser Händler mit schwarzem Elfenbein aller internationalen Vereinbarungen spotten, muß die englische Regierung Kanonenboote armieren, um die Schiffe mit der verbrecherischen Fracht abzufangen. Von Jahr zu Jahr tritt das Sklavenproblem mehr in den Mittelpunkt der Diskussion, immer stärker wird der Druck der liberalen Gruppen, mit einem Schlag die »schwarze Schande« abzuschaffen, jedoch in gleichem, vielleicht noch in stärkerem Maße steigert sich die Gegenwehr der landwirtschaftlichen Kreise, die – nicht mit Unrecht – durch eine so plötzliche Maßregel eine katastrophale Krise für ein Land befürchten, dessen Wirtschaft zu neun Zehnteln auf der Sklavenarbeit fußt.

Für den Kaiser wird dieses Problem immer mehr zum persönlichen Konflikt. Als geistiger Mensch, als Liberaler und Demokrat, als sentimentale, wenn auch etwas habsburgisch kühle Natur, muß ihm die Sklaverei ein Greuel sein. Deutlich zeigt er seinen Widerwillen gegen alle, die mit diesem schandbaren Geschäft zu tun haben, indem er sich hartnäckig weigert, irgendeinem und auch dem reichsten Manne, der sein Vermögen durch Sklavenhandel gemacht hat, ein Adelsprädikat oder eine Auszeichnung zu verleihen. Es ist dem kultivierten Manne unermeßlich peinlich, bei seinen Besuchen in Europa vor den großen Vertretern der Humanität, deren Freundschaft er sucht, vor einem Pasteur, einem Charcot, einem Lamartine, einem Victor Hugo, einem Wagner, einem Nietzsche als verantwortlicher Herrscher des einzigen Weltreiches zu gelten, das noch die Sklavenpeitsche und die Brandmarkung duldet. Aber lange muß er diesen seinen persönlichen Widerwillen im Hintergrund halten und jede Einmischung vermeiden gemäß dem Ratschlag seines besten, seines weisesten Staatsmannes Rio Branco, der ihn noch vom Totenbette aus beschwört: Não perturbem a marcha do elemento servil, der also auch dieses Problem auf brasilianische, will sagen unradikale Art gelöst sehen wollte. Die wirtschaftlichen Folgen sind im voraus so unberechenbar, der leidenschaftliche Gegensatz zwischen Abolitionisten und Sklavenhaltern so unerbittlich, daß der Thron sich gleichsam nur in einer Schaukelstellung zwischen beiden Parteien erhalten kann, weil das Überneigen zur einen oder zur anderen Gruppe seinen Sturz bedeuten könnte. Bis 1884, über vierzig Jahre, hält der Kaiser darum seine – privat wohlbekannte – Meinung möglichst zurück. Aber allmählich wächst seine Ungeduld, sich von dem Odium zu befreien; ein vorläufiges Gesetz 1885 ordnet die Befreiung aller Sklaven an, soweit sie das sechzigste Jahr überschritten haben – wieder ist ein kräftiger Ruck nach vorwärts getan. Noch immer aber ist der Zeitraum, der automatisch zur Befreiung der letzten Sklaven in Brasilien führte, länger als jener, der einem alten und schon kranken Manne zugemessen scheint, der diese Stunde noch selbst erleben will; so stützt Pedro II. immer sichtlicher im Einverständnis mit seiner Tochter, Dona Isabel, der Thronerbin, die Partei der Abolitionisten. Am 13. Mai 1888 wird endlich das langersehnte Gesetz beschlossen, das eindeutig und ohne Aufschub die sofortige Freilassung sämtlicher Sklaven in Brasilien dekretiert.

Beinahe hätte der alte Kaiser die Erfüllung seines ehrgeizigen Wunsches nie erfahren. In den Tagen, wo der Jubel über die Nachricht die Straßen Brasiliens füllt, liegt Dom Pedro II. lebensgefährlich krank in einem Hotel in Mailand. Im April hatte er noch mit seinem gewohnten Lerneifer die Museen und die Gelehrten Italiens besucht; er war in Pompeji und in Capri gewesen, in Florenz und Bologna, er war in Venedig in der Accademia prüfend von Bild zu Bild gegangen und hatte abends im Theater Eleonora Duse gehört und Carlos Gomes, den brasilianischen Komponisten, empfangen. Dann wirft ihn eine schwere Pleuritis auf das Krankenbett. Charcot aus Paris und drei andere Ärzte behandeln ihn, aber der Zustand des Kaisers verschlimmert sich derart, daß er bereits mit den Sterbesakramenten versehen wird. Besser als alle Medizinen und Mittel wirkt auf ihn die Nachricht von der Aufhebung der Sklaverei. Das Telegramm gibt ihm neue Kräfte, und in Aix-les-Bains und Cannes erholt er sich so weit, daß er nach einigen Monaten wieder daran denken kann, in die Heimat zurückzukehren.

Der Empfang des alten weißbärtigen Monarchen, der seit fünfzig Jahren friedlich und würdig das Land beherrscht hat, ist in Rio enthusiastisch. Aber der Lärm einer einzelnen Straße spricht nie die Stimmung eines ganzen Volkes aus. In Wirklichkeit hat die Entscheidung in der Sklavenfrage noch mehr Unruhe geschaffen als vordem der Parteienkampf, denn noch schwerer als die Warnenden vorausgesehen, setzt die wirtschaftliche Krise ein. Viele ehemalige Sklaven laufen vom Lande in die Städte, die landwirtschaftlichen Unternehmen, denen plötzlich ihre main d'œuvre entzogen ist, geraten in Schwierigkeit, und die früheren Eigentümer fühlen sich beraubt, weil ihnen keine oder keine zureichenden Entschädigungen für ihren Kapitalverlust an schwarzem Elfenbein gezahlt werden. Die Politiker, die den scharfen Wind spüren, gebärden sich aufgeregt, weil sie nicht wissen, wohin den Mantel hängen, und die republikanischen Tendenzen, die in Brasilien seit der Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas immer unter der Asche glommen, bekommen unerwartete Nahrung durch diese scharfe Zugluft. Die Bewegung richtet sich nicht eigentlich gegen den Kaiser selbst, dessen guten Willen, dessen Rechtschaffenheit und ehrlich demokratische Gesinnung selbst die prinzipiellsten Republikaner achten müssen. Aber Dom Pedro II. fehlt eine und zwar die wichtigste Voraussetzung zur Erhaltung einer Dynastie: der nun Fünfundsechzigjährige hat keinen Sohn, keinen männlichen Thronerben. Zwei Söhne sind in frühem Alter gestorben, die Erbtochter ist mit einem Prinzen d'Eu aus dem Hause Orléans verheiratet, und das brasilianische Nationalbewußtsein ist schon so stark und zugleich empfindlich geworden, daß es einen Prinzgemahl aus fremdem Geblüt nicht mehr anerkennen will. Der eigentliche Staatsstreich geht von der Armee aus, einer ganz kleinen Gruppe, und könnte bei energischer Gegenwehr wahrscheinlich leicht niedergeschlagen werden. Aber der Kaiser selbst, alt und krank und eigentlich des Regierens längst müde, empfängt in Petrópolis die Nachricht ohne rechten Willen zum Widerstand; nichts kann seiner konzilianten Natur verhaßter sein als ein Bürgerkrieg. Da weder er noch sein Schwiegersohn rasche Entschlossenheit zeigen, zerfließt und zerrinnt über Nacht die monarchistische Partei. Fast lautlos fällt die Kaiserkrone zu Boden, auch diesmal, da sie verlorengeht, ebensowenig von Blut befleckt, als da sie gewonnen wurde; der eigentliche moralische Sieger ist wiederum die brasilianische Konzilianz. Ohne jede Gehässigkeit legt die neue Regierung dem alten Manne nahe, der fünfzig Jahre ein wohlgesinnter Herrscher des Landes gewesen, friedlich sich zu entfernen und in Europa zu sterben. Und nobel und still, ohne ein Wort der Anklage verläßt am 17. November 1889 Dom Pedro II. wie einst sein Vater und sein Großvater für immer den amerikanischen Kontinent, der für Könige keinen Raum hat.

На страницу:
43 из 80