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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Freilich, selbst ein königlicher Brief und Auftrag verliert dreitausend Meilen weit viel von seiner gebieterischen Kraft, und ein Dutzend Priester, von denen die Hälfte immer auf ruhelosen Missionsfahrten das Land durchwandert, sind zu schwach gegen den selbstsüchtigen Willen der Kolonie. Um wenigstens einen Teil der Eingeborenen zu retten, müssen die Jesuiten in der Sklavenfrage paktieren. Sie müssen die angeblich im »gerechten« Kriege, das heißt im Verteidigungskriege gegen die Eingeborenen gemachten Gefangenen den Kolonisten als Sklaven konzedieren, und selbstverständlich findet diese Verklausulierung die allerbiegsamste und unkontrollierbarste Auslegung. Außerdem sind sie genötigt, um nicht beschuldigt zu werden, das rasche Fortschreiten der Kolonie zu verunmöglichen, den Import afrikanischer Neger zu befürworten; selbst diese geistig hochstehenden und human gesinnten Männer können sich nicht der Anschauung der Zeit entziehen, für die der Negersklave ein ebenso selbstverständlicher Handelsartikel ist wie Wolle oder Holz. In jenen Jahren beherbergt Lissabon, die europäische Hauptstadt, schon zehntausend schwarze Sklaven; wie sie dann dem Kolonialland verweigern? Sogar die Jesuiten selbst sind genötigt, sich Neger anzuschaffen; mit voller Gleichmütigkeit berichtet in einem Atemzug Nóbrega, er habe drei Sklaven und einige Kühe angeschafft für sein Kollegium. Aber an dem Prinzip, daß die Eingeborenen Brasiliens nicht Freiwild jedes hergelaufenen Abenteurers sind, halten die Jesuiten unbeugsam fest; sie schützen jeden ihrer Täuflinge, und die ethische Unbeugsamkeit, mit der sie für das Recht der braunen Brasilianer kämpfen, wird ihr Verhängnis sein. Nichts hat die Situation der Jesuiten in Brasilien so schwierig gemacht wie dieser Kampf um die brasilianische Idee der Besiedlung und Beseelung des Landes durch freie Menschen, und wehmütig bekennt einer von ihnen: »Viel ruhiger hätten wir gelebt, wenn wir bloß in den Kollegien geblieben wären und uns darauf beschränkt hätten, einzig religiösen Dienst zu tun.« Aber der Gründer ihres Ordens war nicht umsonst vordem Soldat gewesen, er hatte seine Schüler zum Kampf erzogen für eine Idee. Und diese Idee haben sie mit ihrem Leben in das Land getragen: die Idee Brasiliens.
Es zeigt den großen Strategen in Nóbrega, daß er bei seinem Eroberungsplan des künftigen Reiches sofort den richtigen Punkt für den Brückenschlag in die Zukunft erkannte. Bald nach seiner Ankunft in Bahia hatte er seine erste Ausbildungsschule errichtet und mit den nachgekommenen Brüdern in mühevollen, anstrengenden Fahrten die ganze Küste von Pernambuco bis hinab nach Santos visitiert, wo er São Vincente begründet. Aber noch immer hat er nicht die richtige Stelle gefunden für das Hauptkollegium, für das geistige und geistliche Nervenzentrum, das nach und nach das ganze Land durchdringen soll. Auf den ersten Blick ist dieses sorgliche, wohl überlegende Suchen Nóbregas nach einem richtigen Stützpunkt unverständlich. Warum verlegt er sein Hauptquartier nicht nach Bahia, der Hauptstadt, dem Sitz des Gouverneurs und des päpstlichen Bischofs? Aber hier wird man zum erstenmal eines geheimen Gegensatzes gewahr, der mit der Zeit sich zu einem offenen und schließlich sogar gewalttätigen auswirken wird. Der Orden Loyolas will nicht unter staatlicher und nicht einmal unter päpstlicher Kontrolle sein Werk beginnen; den Jesuiten geht es von der ersten Stunde an bei Brasilien um ein höheres Spiel und Ziel, als dort bloß ein lehrendes, helfendes, der Krone und der Curie untergeordnetes Kolonisationselement zu sein. Brasilien bedeutet für sie ein entscheidendes Experiment, die erste Probe für die Realisationsfähigkeit ihrer organisatorischen Kraft, und Nóbrega spricht es unumwunden aus: esta terra é nossa emprêsa, »dieses Land ist unsere Aufgabe« und meint damit: wir sind für ihre Lösung vor Gott und den Menschen verantwortlich. Verantwortung will der Starke aber nur allein tragen. Die Jesuiten – dies der Grund des geheimen Mißtrauens, das sie in Brasilien von Anfang an durch die Geschichte begleitet – hatten zweifelsohne ein besonderes, ein persönlich durchdachtes und den andern nicht ganz erkennbares Ziel. Was sie – bewußt oder unbewußt – anstrebten, war nicht bloß die Heranbildung einer portugiesischen Kolonie unter all den andern portugiesischen Kolonien, sondern eine theokratische Gemeinschaft, ein neuartiges, den Kräften des Geldes und der Gewalt nicht unterworfenes Staatsgebilde, wie sie es ja später in Paraguay zu gründen versuchten. Von der ersten Stunde an wollten sie mit Brasilien etwas Einmaliges, etwas Neues, etwas Vorbildliches schaffen, und eine solche neuartige Konzeption mußte früher oder später mit den bloß merkantilen und feudalistischen Ideen des portugiesischen Hofes in Konflikt geraten; sicher ging es ihnen nicht, wie ihre Gegner sie beschuldigten, um eine Besitznahme Brasiliens im souveränen oder kapitalistischen Sinne für ihren Orden und dessen Zwecke.
Aber daß sie mehr mit Brasilien wollten als dort bloß Prediger des Evangeliums sein, daß sie mehr und etwas anderes als die anderen geistlichen Orden mit ihrer Anwesenheit dort einsetzen und durchsetzen wollten, das spürte von Anfang an die Regierung, die sich ihrer dankbar bediente und sie doch mit einem leisen Mißtrauen überwachte, das spürte die Curie, die ihre geistige Autorität mit niemandem zu teilen geneigt war, das spürten die Kolonisten, die sich in ihrem rücksichtslosen Raubbau von den Ordensbrüdern gehemmt fühlten. Gerade weil sie nichts Sichtbares wollten, sondern die Durchsetzung eines geistigen, eines idealistischen, und darum den Tendenzen der Zeit unfaßbaren Prinzips, hatten sie von Anfang ständig Widerstand gegen sich, dem sie schließlich erliegen mußten, ausgestoßen aus dem Lande, dem sie trotz allem und allem den Keim der Befruchtung eingesenkt haben. Es war also vollkommen wohlüberlegt, daß Nóbrega, um diesen Konflikt der Kompetenzen möglichst lange zu vermeiden, sein Rom, seine geistige Hauptstadt abseits von der Residenz des Gouverneurs und des Bischofs anlegen wollte; nur wo er ungehindert und unbeaufsichtigt wirken konnte, vermochte jener langsame und mühevolle Prozeß der Kristallisierung zu gelingen, der ihm vorschwebte. Diese Rückverlegung des Wirkungszentrums von der Küste ins Binnenland bedeutete im geographischen Sinn wie zum Zweck der Katechisierung einen wohlerwogenen Vorteil. Nur eine Wegkreuzung im Land, geschützt einerseits gegen piratische Angriffe von der See her durch die Bergkette und doch nahe dem Ozean, nahe aber auch anderseits zu den verschiedenen Stämmen, die der Zivilisation zu gewinnen und aus dem Nomadischen zum Seßhaften zu erziehen waren, konnte die ideale Keimzelle bilden.
Nóbregas Wahl fällt auf Piratininga, das heutige São Paulo, und die spätere historische Entwicklung hat die Genialität seiner Entscheidung bestätigt, denn die Industrie, der Handel, der Unternehmungsgeist Brasiliens sind noch nach Hunderten von Jahren seiner inspirativen Wahl nachgefolgt; an derselben Stelle, wo er am 24. Januar 1554 jene paupérrima e estreitíssima casinha im Verein mit seinen Helfern errichtet, steht heute mit Hochhäusern, Fabriken und menschenüberfüllten Straßen eine moderne Weltstadt. Nóbrega hätte nicht besser wählen können. Das Klima auf diesem Hochplateau ist gemäßigt, die Erde satt und fruchtbar, ein Hafen nahe und durch Flußläufe die Verbindung mit dem großen Wasserlauf des Paraná und Paraguay und damit des la Plata gesichert; von hier aus können nach allen Richtungen die Missionare zu den verschiedenen Stämmen vordringen und ihr Belehrungswerk radial ausstrahlen lassen. Außerdem besteht vorläufig keine die Sitten korrumpierende Kolonie von Degredados in der Nähe der kleinen Siedlung, die bald die Freundschaft der Nachbarstämme durch kleine Geschenke und gute Behandlung zu gewinnen weiß. Ohne viel Mühe lassen sich die Eingeborenen von den Priestern zu kleinen aldeias, zu jenen Wirtschaftsgemeinschaften vereinigen, die ziemliche Ähnlichkeit mit den heutigen russischen »Kollektivs« haben, und nach kurzer Zeit kann Nóbrega bereits melden: Vai-se fazendo uma formosa povoação. Noch hat der Orden nicht wie in späteren Zeiten selbst reichlichen Grundbesitz, und die sparsamen Mittel verstatten zunächst nur das Kollegium in kleinen Proportionen zu entwickeln. Aber immerhin werden hier bald eine ganze Reihe von Brüdern herangebildet, weiße und farbige, die, sobald sie der Landessprache mächtig sind, als missões volantes von Stamm zu Stamm ziehen, um immer neue Nomaden zur Seßhaftigkeit zu bewegen und für den Glauben zu gewinnen. Ein Knotenpunkt ist geschaffen, die ersteescola para muitas nações de índios, und rasch bildet sich zwischen dem Missionar und den angesiedelten Stämmen ein ehrliches Gefühl der Solidarität; bei dem ersten Überfall schweifender Banden sind es schon die Neugetauften, die mit leidenschaftlicher Aufopferung unter der Führung ihres Häuptlings Tibiriças den Angriff abwehren. Das große Experiment nationaler Besiedlung unter geistlicher Führung, das dann in der Jesuitenrepublik von Paraguay seine einmalige Gestaltung finden wird, hat begonnen.
Die Gründung Nóbregas bedeutet aber auch einen großen Fortschritt im nationalen Sinne. Zum erstenmal ist ein gewisses Gleichgewicht für den künftigen Staat geschaffen. Während vordem Brasilien eigentlich nur ein Streifen Küste war mit seinen drei oder vier Hafenstädten im Norden, die einzig mit tropischen Produkten handelten, beginnt nun auch im Süden und im inneren Land Kolonisation sich zu entwickeln. Bald werden diese langsam gesammelten Energien schöpferisch vorstoßen und aus eigener Neugier und Ungeduld das Land sich selbst in seinen Formen und Flüssen, in seiner Weite und Tiefe entdecken. Mit der ersten disziplinierten Innensiedlung hat sich die vorgefaßte Idee bereits in Saat und Tat verwandelt.
Brasilien ist etwa fünfzig Jahre alt, da es nach embryonischen ungewissen Regungen zum erstenmal Zeichen wirklich bewußten Eigenlebens zu geben beginnt. Langsam treten die ersten Resultate kolonialer Organisation in Erscheinung. Die Zuckerplantagen von Bahia und Pernambuco werfen, obwohl noch primitiv gehandhabt, reichlich Gewinn ab. Öfter und öfter streifen Schiffe heran, um Rohprodukte zu holen und gegen Waren einzutauschen; es sind noch nicht viele, die sich herab nach Brasilien wagen, und kaum gibt ein Buch Bericht von dieser weiträumigen Welt. Aber gerade die zögernde und sporadische Art, mit der sich die Kolonie im Welthandel bemerkbar macht, ist im letzten Sinn Brasiliens Glück, weil es ihm eine organische Entwicklung gewährt. In Zeiten der Eroberung und der Gewalt bedeutet es immer eher einen Vorteil für ein Land, wenn es unbeachtet und unbegehrlich bleibt; die Schätze, die Albuquerque in Indien und den Molukken erspäht hat, die Beute, die Cortez aus Mexiko und Pizarro aus Peru heimbringt, lenken eigentlich in glücklichster Weise die Aufmerksamkeit und Besitzgier der anderen Nationen von Brasilien ab. Noch immer gilt das »Papageienland« als eine quantité négligeable, um die sich weder das eigene Land noch die andern ernstlich bemühen.
Es ist darum eigentlich kein ausgesprochen kriegerischer Akt, wenn am 10. November 1555 eine kleine Flotte unter französischer Flagge in der Bucht von Guanabara erscheint und dort auf einer der Inseln ein paar hundert Leute landet. Denn sie stören de facto damit keinen fremden Besitz. Rio de Janeiro ist damals noch keine Stadt und kaum eine Niederlassung. In den paar verstreuten Hütten findet sich kein Soldat, kein Beamter des portugiesischen Königs, und der sonderbare Abenteurer, der hier die Fahne hißt, begegnet keinerlei Widerstand bei seinem kühnen Abenteurerstreich. Zweideutige und attraktive Figur, dieser Rhodosritter Nicolas Durand de Villegaignon, halb Pirat, halb Gelehrter und ein ganzes blutechtes Stück Renaissance. Er hat Maria Stuart aus Schottland an den französischen Königshof gebracht, im Kriege sich ausgezeichnet, in den Künsten dilettiert. Er ist gerühmt von Ronsard und gefürchtet vom Hofe, weil unberechenbar, ein quecksilberner Geist, dem jede geregelte Tätigkeit widerwärtig ist und der das beste Amt, die höchsten Würden verachtet, um lieber frei und ungehemmt seinen oft phantastischen Launen nachgeben zu können. Den Hugenotten gilt er als Katholik, den Katholiken als Hugenotte. Niemand weiß, welcher Sache er dient, und er weiß vielleicht selbst nichts anderes von sich, als daß er irgend etwas Großes und Besonderes tun möchte, etwas anders als die anderen, etwas Wilderes, Verwegeneres, Romantischeres und Eigenartigeres. In Spanien wäre er ein Pizarro geworden oder ein Cortez, aber sein König, vollauf im Lande beschäftigt, organisiert keine kolonialen Abenteuer; so muß der ungeduldige Villegaignon eines auf eigene Faust erfinden. Er rafft ein paar Schiffe zusammen, lädt sie voll mit ein paar hundert Mann, meistens Hugenotten, die sich im Frankreich der Guisen unbehaglich fühlen, aber auch Katholiken, die in die neue Welt wollen, und, ruhmsüchtig im höchsten Grade, nimmt er sich vorsichtsweise gleich einen Geschichtsschreiber, André Thévet, mit, denn er hat keinen geringeren Traum als eine »France Antarctique« zu gründen, deren Schöpfer, Gouverneur oder vielleicht sogar eigenwilliger Fürst er sein will. Wieweit der französische Hof diese Pläne gekannt, wieweit er sie gebilligt und sogar gefördert hat, ist kaum ersichtlich. Wahrscheinlich hätte im Falle eines Erfolgs König Heinrich sich seine Tat ebenso zu eigen gemacht wie Elisabeth von England die ihrer Piraten Raleigh und Drake; zunächst läßt man Villegaignon bloß als Privatperson sein Glück versuchen, um nicht gegenüber Portugal durch eine offizielle Mission und Annexion ins Unrecht zu kommen.
Villegaignon, als bewährter Soldat zunächst auf Verteidigung bedacht, errichtet sofort nach seiner Ankunft auf der heute nach ihm benannten Insel ein Fort Coligny zu Ehren des hugenottischen Admirals, während er die gegenüberliegende künftige Stadt – vorläufig nichts als Sumpf und leere Hügel – aus Respekt für seinen König großspurig Henriville tauft. Unbedenklich in religiösen Dingen, holt er, da er für diese erträumte Kolonie in Frankreich keine anderen Katholiken mehr findet, sich 1556 eine weitere Ladung Calvinisten aus Genf herüber, was innerhalb der kleinen Niederlassung bald zu religiösen Zänkereien führt. Zweierlei Prediger, die sich gegenseitig Ketzer nennen, sind zuviel auf einer engen Insel. Aber immerhin, die France Antarctique ist begründet, und die Franzosen stehen, da sie keine Sklavenräuberei dulden, bald in bestem Einvernehmen mit den Eingeborenen, mit denen sie regen Handel treiben; von nun ab pendeln, als wäre es ihr rechtmäßiger Hafen, französische Schiffe regelmäßig zwischen dieser von Frankreich noch nicht offiziell anerkannten Siedlung und dem Heimatland hin und her.
Dem portugiesischen Gouverneur in Bahia kann dieser Einbruch keineswegs gleichgültig bleiben. Nach dem damals gültigen Rechtsprinzip sind die brasilianischen Küsten ein mare clausum, an dessen Küsten fremde Schiffe weder landen noch Handel treiben dürfen; gar eine Festung mit fremdem Militär im besten Hafen der Kolonie anzulegen bedeutet die Trennung von Süden und Norden und damit die Vernichtung der Einheit Brasiliens. Die natürlichste Aufgabe des Gouverneurs de Sousa wäre, diese fremden Schiffe zu kapern und die Niederlassung zu schleifen, aber er besitzt keinerlei Macht zu einer kriegerischen Unternehmung solchen Umfangs. Die paar hundert Soldaten, die zugleich mit ihm nach Brasilien gekommen waren, sind unterdes längst Landwirte oder Plantagenbesitzer geworden und wenig geneigt, nach ihren bequemen Jahren den Harnisch wieder anzulegen; noch fehlt dem jungen Gebilde jedes Nationalgefühl, jeder Gemeinschaftsgedanke, in Portugal wiederum die richtige Erkenntnis der Gefahr und wie immer das notwendige Geld für eine rasche Expedition. Noch immer ist der Krone das Aschenbrödel Brasilien nicht wichtig genug, um eine kostspielige Flotte auszurüsten. So bleibt den Franzosen reichlich Zeit, sich ständig zu verstärken und zu verschanzen; erst wie ein neuer Gouverneur, Mem de Sá 1557 nach Bahia gesandt wird, beginnt die Vorbereitung einer Aktion gegen die Eindringlinge. Mem de Sá schenkt Nóbrega rückhaltlos Vertrauen und unterwirft sich völlig seiner geistigen Autorität. Und Nóbrega ist es wiederum, der mit seiner ganzen leidenschaftlichen Energie ein rechtzeitiges Vorgehen gegen die Franzosen fordert. Die Jesuiten kennen das Land besser und sind mehr um seine Zukunft besorgt als die Kaufleute in Lissabon, die Länder einzig nach dem momentanen Ertrag ihrer Spezereien bewerten; sie wissen, daß wenn diese französischen Hugenotten an den brasilianischen Küsten dauernd Fuß fassen können, nicht nur die Einheit des Landes, sondern auch die Einheit der Religion für immer zerstört ist. Brief auf Brief senden abwechselnd der Gouverneur und Nóbrega nach Portugal hinüber, um zu fordern, daß man faça socorrer a êsse pobre Brasil. Aber Portugal hat – ein anderer Atlas – eine ganze Welt auf seinen schwachen Schultern zu tragen, und es dauert noch abermals zwei Jahre, bis 1559 endlich ein paar Schiffe von Lissabon herüberkommen und Mem de Sá an eine kriegerische Aktion gegen die Eindringlinge denken kann.
Der eigentliche Leiter der Expedition ist Nóbrega, der gemeinsam mit Anchieta von seinen Täuflingen möglichst viele herangeholt hat, um die schwache portugiesische Truppe zu verstärken. Zugleich mit dem Gouverneur erscheint er am 18. Februar 1560 vor Rio, und sobald am 15. März von São Vincente die rasch zusammengelesenen Hilfstruppen eintreffen, beginnt der Sturm auf die Festung Villegaignons. Vom heutigen Horizont aus gesehen, ist diese bedeutsame Aktion freilich nur eine Art Frosch- und Mäusekrieg. Hundertzwanzig Portugiesen und hundertvierzig Eingeborene stürmen das Fort Coligny, das von vierundsiebzig Franzosen und einigen Sklaven verteidigt wird. Die Franzosen können nicht standhalten und flüchten rechtzeitig auf das Festland hinüber zu den befreundeten Eingeborenen, um sich auf dem Morro do Castelo neu zu verschanzen. Für die Portugiesen ist es ein Sieg, weil das Fort Coligny, die Zwingburg, eingenommen ist; ohne die Franzosen zu verfolgen oder zu vernichten, kehren sie wieder nach Bahia und São Vincente zurück.
Aber es ist nur ein halber Sieg, denn die Franzosen bleiben im Lande. Im ganzen sind sie etwa einen Kilometer zurückgeworfen, also eine Strecke, die man heute im Automobil in fünf Minuten durchfährt. Sie sitzen ungehindert im Hafen wie zuvor, treiben weiter ihren Handel, laden Schiffe ein und aus, bauen am Morro do Castelo eine neue Festung statt der alten, sie reizen sogar die Tamoios, die ihnen befreundeten Eingeborenen, zu Unternehmungen gegen die Portugiesen, und der erste Angriff auf São Paulo durch Angehörige dieses Stammes war wahrscheinlich von ihnen organisiert. Aber Mem de Sá hat keine Macht, die Eindringlinge zu vertreiben. Wie immer in Brasilien, von Anfang an bis heute, ist das Manko das gleiche: es sind zu wenig Menschen da. Mem de Sá vermag in Bahia keinen einzigen Arm zu entbehren, sonst geriete die Zuckerproduktion, der ökonomische Nährstoff des Landes, ins Stocken, außerdem hat eine verhängnisvolle Pest den Großteil der Bevölkerung hinweggerafft. Ohne Unterstützung von Portugal ist es darum unmöglich, die Franzosen aus ihrer neuen Position zu verdrängen, und diese Unterstützung läßt endlos auf sich warten; unbehelligt verbleiben die Kolonisten Villegaignons weitere fünf Jahre in Rio. Und wieder ist es Nóbrega, der unablässig drängt und abermals und abermals mahnt, daß, wenn statt Portugals die Franzosen weiterhin Sukkurs schicken, die Bucht von Rio und damit Brasilien endgültig der Krone verloren sei. Endlich hört die Königin auf seine dringliche Bitte und entsendet aus Lissabon Estácio de Sá gemeinsam mit den von den Jesuiten im Lande vorbereiteten Hilfstruppen gegen den Feind. Neuerlich beginnen in liliputanischen Maßen die kriegerischen Aktionen. Am 1. März 1565 segelt Estácio de Sá mit seiner Kriegsflotte in die Bucht von Rio und schlägt unter dem Pão de Açucar, an der Stelle des heutigen Urca, sein Lager auf. Aber, unfaßbar für unsere Vorstellungen von heute, ehe es zu dem Sturm auf den Morro do Castelo – genau zehn Minuten heutiger Autofahrt – kommt, vergehen ebensoviele Monate. Erst am 18. Januar 1566 führt Estácio de Sá seine Soldaten zum Sturm, und in einem Kampf von wenigen Stunden und mit einem Verlust von zwanzig oder dreißig Mann fällt die welthistorische Entscheidung, ob diese Stadt in Hinkunft Rio de Janeiro oder Henriville heißen wird, ob Brasilien der portugiesischen oder französischen Sprachwelt verbleibt – in solchen Dimensionen von zwei oder drei Dutzend Soldaten wurden damals ebenso in Indien wie in Amerika Kämpfe ausgefochten, die Form und Schicksal dieses Weltteils für Jahrhunderte bestimmen sollten. Estácio de Sá selbst bezahlt, von einem Pfeilschuß verletzt, den Sieg mit seinem Leben. Aber diesmal ist es ein entscheidender Sieg: die Franzosen fliehen auf ihren Schiffen aus dem Land und bringen nach Frankreich nichts anderes mit als die Kunde vom Tabak, den sie zu Ehren des Botschafters Jean Nicot benennen. Auf den Trümmern der französischen Festung, dem Morro do Castelo, weiht der Bischof die Kirche der zukünftigen Hauptstadt Brasiliens ein: die Stadt Rio de Janeiro ist mit dieser Stunde erstanden.
Es war ein liliputanischer Kampf, aber er hat die Einheit Brasiliens gerettet: Brasilien gehört den Brasilianern. Nun aber gilt es die Kolonie auszubauen, und dafür bleiben ihr beinahe fünfzig Jahre vollkommenen Friedens. Langsam schieben sich die Grenzen nach Paraíba, nach Rio Grande do Norte und ins Innere vor, die Siedlungen der Jesuiten in São Paulo beginnen sich fruchtbar zu entfalten, die Plantagen an der Küste werden erträgnisreich, und neben dem ständig steigenden Export von Zucker und Tabak blüht ein anderes, dunkleres Geschäft, der Import von »schwarzem Elfenbein«. Von Monat zu Monat werden immer größere Frachten afrikanischer Sklaven von Guinea und aus dem Senegal herübergebracht, und soweit sie auf der Reise in den vollgestopften, stinkenden Schiffen nicht verendet sind, auf dem großen Markte in Bahia verhandelt. Eine Zeitlang droht durch diese Fülle der Neger und die erstaunliche Anzahl der von den Portugiesen produzierten mamelucos, dieser Mischlinge aller Schattierungen, der europäische, der zivilisatorische Einfluß ins Schwinden zu geraten; einer Handvoll Unternehmer, die sich maßlos bereichern, steht in den Küstenstädten eine unermeßliche Anzahl farbiger Sklaven gegenüber; ohne die ausgleichende Arbeit der Jesuiten, die im Innern des Landes überall Fazenden anlegen und die Bevölkerung zur Seßhaftigkeit erziehen, die die Ausrottung der Eingeborenen verhinderten und durch Vorurteilslosigkeit die Mischung beförderten, wäre Brasilien vielleicht ein afrikanisches Land geworden, weil Europa sich völlig gleichgültig zeigt. Jedoch Europa, in hundert Kriege verstrickt, hat keine neuen Kolonisten abzugeben, und nur wenige Einsichtige finden sich, denen allmählich die Erkenntnis von dem Werte dieses Landes klargeworden ist; schon 1587 wird Gabriel Soares de Sousa in seinem »Roteiro« die prophetischen Worte finden: Estará bem empregado todo cuidado que Sua Majestade mandar ter deste novo reino, pois está capaz para se edificar nelle hum grande imperio o qual com pouca despeza deste reino se fará tão soberano que seja hum dos estados do mundo.
Die Stunde aber ist längst vorüber, wo das die halbe Welt beherrschende Portugal noch irgend jemandem helfen konnte, denn sein großartiger romantischer Traum, die ganzen drei Erdteile für sich und den christlichen Glauben zu erobern, ist ausgeträumt. Es hatte dem kleinen, tapferen Lande nicht genügt, beide Küsten Afrikas, die östliche und die westliche, zu besitzen und Indien bis hoch hinauf nach China seinem Handelsmonopol unterworfen zu haben. König Sebastian, der letzte und kühnste Träumer dieses heroischen Geschlechts, träumt von einem Kreuzzuge, der ein für allemal die muselmanische Macht vernichten soll. Statt seine besten Kräfte, seine Ritter, seine Soldaten in den Kolonien zu verteilen und das Reich der »Lusiaden« durch realistische Organisation zu erhalten, sammelt er wie ein Gralsritter in silberner Rüstung seine ganze Macht zu einem einzigen Heer und setzt nach Afrika über, um den maurischen Erbfeind mit einem Schlage zu vernichten. Aber nicht die Mauren trifft der vernichtende Schlag, sondern ihn selbst, und in der Schlacht von Alcacer-Quibir, diesem letzten, verspäteten Kreuzzug des Abendlands gegen das Morgenland, wird 1578 das portugiesische Heer völlig vernichtet und König Sebastian erschlagen. Die ungeheure Überspannung des Willens hat sich grausam gerächt: Portugal, das kleine Land, das ein Weltall sich untertan machen wollte, verliert seine eigene Unabhängigkeit, und Spanien rafft den freigewordenen Thron an sich. Das von tausend Kämpfen ausgeblutete Land vermag keinen Widerstand zu leisten; für zweiundsechzig Jahre, von 1578 bis 1640, verschwindet Portugal als selbständiges Reich aus der Geschichte. Alle seine Kolonien und somit auch Brasilien werden spanischer Kronbesitz.