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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
»Thöni, der mir alles von den Augen absah, hat gemeint, es sei mir ein Gefallen, wenn Josi tot bliebe. Er hat den ersten Brief unterschlagen, dann hat er nicht mehr rückwärts gehen können, hat falsch geschrieben, und es ist gekommen, wie's hat kommen müssen. Daß er ein Schelm und fremd geworden ist, daran bin ich schuld.«
Das tönt ihm unaufhörlich durch die Sinne.
Das Schrecklichste aber! Er glaubt nicht daran, daß Thöni selber in die Glotter gelaufen sei. Es klingt so unglaubwürdig. Sein Kind redet es sich nur so ein, um nicht in dem Gedanken, sie liebe einen Totschläger, umzukommen – – aber der Presi wagt es nicht, sie noch einmal darüber zu fragen – nein – nein – er zittert nur davor, eines Tages könnte in Josi doch die Selbstanklage erwachen, wie sie in seiner Brust erwacht ist, und es würde die zwei, die nicht ohne einander leben können, trennen.
Ein Fluch des Unglücks ginge dann von ihm und seinen Gewaltthaten noch in das folgende Geschlecht hinein.
Das sinnt der Presi in entsetzlicher Furcht. Er glaubt nicht mehr an ein schönes Alter, aber wenn er die dunklen Augen Binias traurig auf sich gerichtet sieht. so lächelt er sie mit seinem wärmsten Lächeln an, hebt den gebeugten Rücken und meint vor ihr verbergen zu können, wie rasch er zusammenfällt und aus den Kleidern schwindet.
O, es ist rührend, wie sich der alte Mann zu verstellen sucht, daß Binia nicht sehe, wie er hoffnungslos leidet.
Hoffnungslos! – Nein, wenn er sein herrliches Kind sich anschaut, wie es mutig und geduldig seine Leiden trägt, wie es auf Josi wie auf einen Felsen baut, glaubt und harrt, dann ist auch ihm, der Held der heligen Wasser sei so stark, daß er selbst das Ereignis in der Glotterschlucht besiege.
Um den Vater müht sich Binia treu und hingebungsvoll, sie sinnt Tag und Nacht nur darüber, wie sie den Gram von seiner Stirne scheuche.
»Kind – Herzensvogel,« sagt er, »wie bist du mit deinem Vater lieb.«
Seine Auswanderungspläne hat er aufgegeben – in St. Peter hat er gelebt, in St. Peter will er sterben – steigt Josi von seinem Werk herunter, so wird er ihm sagen: »Nimm meine Binia – schenke ihr Glück, viel Glück – zieht fort – mein Segen begleitet euch – ich aber erwarte mein letztes Stündlein in St. Peter.«
In drei Tagen wird Josi kommen, aber niemand wagt auch nur das bescheidenste Festchen vorzubereiten. Der Handel um den Bären stockt. Aus Scheu vor Frau Cresenz, aus der Furcht vor dem eigenen Gewissen, aus Sorge, es könnte in seiner Abwesenheit Binia ein Leid geschehen, wagt es der Presi nicht mehr, nach Hospel hinauszugehen. Die ganze blinde Wut des Volksaberglaubens hat sich auf das arme Kind geworfen, sie erfährt Beleidigungen, wo sie geht und wo sie steht, und die Dörfler schlagen das Kreuz und speien vor ihr.
Der Verkauf des Bären würde die Aufregung im Dorf noch steigern.
Er hat einen furchtbaren Groll auf die von St. Peter, aber ändern kann er an der entsetzlichen Lage nichts, er vertraut nur auf die heilige Scheu, die denn doch jeder im Dorfe hat, ein Leben anzutasten. Nein, das thun sie nicht, obwohl sie entsetzlich sind in ihrem drohenden Schweigen.
Was geschehen mag, er wird noch einmal als Presi auf seinem Posten stehen – und so stark sein, daß er sie bändigt. – –
Ja, Presi, Ihr werdet Euch schon noch einmal auf den Posten stellen müssen – in St. Peter stehen die Dinge bös.
Kapitel Neunzehn
Ein neuer Ahornbund ist entstanden, furchtbarer als der erste, so furchtbar, daß ihn niemand auszuführen wagt und jeder zittert vor dem Los, das ihn treffen könnte.
Ehe der Hammer an den Weißen Brettern schlägt, muß zur Rettung St. Peters ein Mord begangen sein. Josi Blatter, der sich gegen den Himmel gewendet hat, muß fallen, die armen Seelen auf der Krone müssen versöhnt werden.
In der Nacht halten die Männer seitab vom Dorf unter Wetterlärchen ihre ernsten Beratungen. Leichten Herzens thun sie den Schritt nicht, jeder ist ganz durchdrungen von dem Gedanken, was für eine schreckliche That ein Mord ist. Seit Matthys Jul, der fern im Dämmerschein der Sage steht, hat im Glotterthale kein Mann einen anderen getötet. Es ist aber doch besser, es falle nur einer, nur Josi Blatter, der Rebell, als daß das ganze Dorf untergehe.
Nicht Josi Blatter ist der Retter von St. Peter, sondern der ist es, der ihn erschlägt.
Man kann ihn aber nicht erschlagen, er ist droben in den Felsen, er steht in einem schmalen Gang, in dem nur ein Mann auf einmal gehen kann, und er ist Herr des Teufelssalzes, er ist mit dem Satan im Bund, und wenn Hunderte gegen ihn streiten, so überwältigt er sie mit einer einzigen Patrone, die er nach dem nächsten Stein schleudert.
Die Männer stehen ratlos. Nur noch zwei Tage, dann wird der Hammer von den Weißen Brettern schlagen.
Seit man Binias Ring gefunden hat, ist Kaplan Johannes dem Schicksal Thönis auf der Spur. Warum sind Josi Blatter und Binia Waldisch in der Wetternacht über den Stutz heraufgekommen, in der Nacht, wo Thöni Grieg geflohen ist? Warum haben seine Verwandten in Hospel nie die geringste Nachricht von ihm bekommen? Er klettert Tag um Tag an den Felsenufern der Glotter und späht in die Wasser.
Heute hat Johannes in einem Felsenschlund beim Bildhaus an der Grenze von Tremis, in dem das Wasser quirlt und brodelt, etwas auftauchen sehen, was ein Bein und ein Schuh sein könnte – nein, was ein Bein und ein Schuh ist.
Wie die Männer von ihren heimlichen Beratungen heimkommen, herrscht unter den Weibern schon Wehklagen: es stehe einer außerhalb der Brücke in der Glotter, er strecke den Arm gegen die Weißen Bretter und stöhne immer nur: »Der dort oben – der dort oben« – und hinterher seufzte er: »Und Binia Waldisch!«
Abergläubisches Entsetzen füllt das Dorf. Es ist kein Schlaf in St. Peter – nur Beten und Gejammer: »Warum haben wir den Bau an den Weißen Brettern zugegeben, warum haben wir uns durch den Presi verführen lassen?« Und dazu die dumpfe Antwort: »Auf ihn und sein Kind mag es kommen.« In der Nacht sinkt ein dichter kalter Nebel ins Thal, ehe der Tag dämmert, klopft der Mesner schreckensbleich an die Thüren: »Ich kann nicht zur Frühmesse läuten, es steht einer in weißem Gewand an der Kirchenthüre!«
Mit ihren Laternen gehen die Dörfler in festgeschlossener Schar zum Gotteshaus.
Es steht keiner an der Kirchenthüre, aber ein großer Zettel klebt daran, sie lesen ihn mit Entsetzen und die Frauen fahren kreischend zurück.
»Gerechte Bürger von St. Peter!« heißt es auf dem Blatt. »Ich, Thöni Grieg, klage es euch. Aus den Wassern der Glotter schreie ich seit dem Fridolinstag um ein ehrliches Begräbnis in geweihter Erde, während mein Blut sündig an den Weißen Brettern vermauert wird. Ihr kennt meine Mörder. Begrabt mich und schafft Gerechtigkeit. Die armen Seelen wissen, was ich leide, und ziehen aus.«
Das Dorf ist ratlos, das Grauen liegt allen in den Gliedern, einer raunt es dem anderen zu: »Wenn die Toten zu schreiben anfangen, dann ist es Zeit, daß wir handeln.«
Da schlarpt Kaplan Johannes mit lodernden Augen heran. »Seht ihr, die Toten reden! Was wollt ihr mehr? Ich will euch etwas sagen, aber die Zunge soll dem verdorren, der Satan soll dem ins Blut fahren, der mich verrät. Bevor ihr den Mord am Rebellen sühnen könnt, müßt ihr Binia Waldisch, die Teufelin, schlagen; erst wenn sie im Blute liegt, ist er schwach und leicht zu bewältigen. Wozu der Schrecken, wozu das Erbarmen? Lest, wie sie Thöni getötet und sein Blut nach der Stadt gebracht haben, damit man das Teufelssalz hat bereiten können. Die erste Schuldige ist Binia Waldisch, die Tochter des Presi; sie müßt ihr schlagen, sonst geht St. Peter unter.«
Die Männer schaudern: »Das thun wir, so wahr uns Gott helfe, nicht. Mann gegen Mann, so ist's in den alten Zeiten gehalten morden, aber eine Jungfrau tötet, selbst wenn sie eine Teufelin wäre, keiner. Eher mag St. Peter untergehen.«
Da rollt der Gletscher.
»Hört ihr's – St. Peter geht unter!« wehklagen die Frauen, und der Kaplan lächelt: »Ihr könnt die Hexe mit weltlichen Waffen nicht umbringen, die heiligen Grabkreuze müßt ihr aus der Erde reißen und sie damit schlagen.«
»Johannes,« grollen die Männer und ballen gegen ihn die Fäuste, »seid Ihr der Satan, der uns ins Unglück bringen will? Eine Jungfrau mit Grabkreuzen erschlagen! Das ist unerhört im Bergland. Thäten mir das unseren heiligen Toten zu leid, daß wir ihre stillen Gräber schänden, so geschähe es uns gerecht, wenn unser alter Pfarrer uns das Gotteshaus verschlösse und die Glocken bannte. Dann müßten wir ja auch zu Grunde gehen, es giebt ja genug Meldungen im Gebirge, wie Dörfer vergangen sind, denen die Kirche den Segen entzogen hat. Die Weiber sind unfruchtbar geworden, der Sohn hat das Beil gegen den Vater erhoben, wie die Wölfe haben sich die Bewohner zerrissen und die letzten sich in Verzweiflung über die Felsen gestürzt. Kaplan – Ihr wollt uns zu Grunde richten – seht Euch vor, wenn Ihr uns schlecht ratet, so seid Ihr der erste, den wir erschlagen.« Da hat der Kaplan einen Anfall der Fallsucht, wie er ihn selbst hervorrufen kann. Er stürzt, er zuckt, er schäumt, er schreit.
»Er ist seiner selbst nicht mehr mächtig, jetzt redet Gott aus ihm,« mahnt der Glottermüller und streckt die gefalteten Hände zum Himmel. Was aber Johannes spricht, ist entsetzlich: »Thöni Grieg – du mußt aufstehen, sie müssen einen Toten zeugen hören, daß St. Peter untergeht.«
Ja, wenn ein Toter aufersteht, wenn Thöni Grieg in der Glotter liegt, so wollen sie dem Kaplan glauben und das Entsetzliche thun, Binia Waldisch, die Mörderin, erschlagen.
Während aber die Dörfler auf dem Kirchhof noch beraten, ertönt der Ruf: »Der Pfarrer kommt – der Pfarrer!«
Da springt der Kaplan auf: »Er will euch überreden. – Eilt an die Glotter und seht. – Vor dem Bildhaus zu Tremis schwimmt Thüni Grieg in der Schlucht.«
Halb in Groll, halb in Furcht und Scham flieht die Gemeinde vor ihrem Pfarrer. Er liest den Anschlag an der Kirchenthüre, sein weißes Haupt zittert, er stammelt: »Jetzt muß ich Wort halten!« Weinend schleicht der alte trostlose Mann ins Pfarrhaus zurück. »Sie haben sich dem Baalspfaffen ergeben, sie haben sich von der heiligen Kirche gewandt, wohlan, so muß ich mein Wort halten.«
Kapitel Zwanzig
Mann, Weib und Kind sind durch die Nebel des kalten Herbstmorgens, der schon an den Winter mahnt, über den Stutz hinab thalaus geeilt, aber Kaplan Johannes ist nicht mehr bei ihnen.
Sie mögen Thöni Grieg selbst suchen, das Entsetzen wird um so größer sein, wenn sie ihn finden.
Der Garde weilt beim Presi: »Binia retten, was auch geschehen sei, auf eine blutige That darf keine blutige That folgen. Und die Gier des Verrückten trachtet nach dem Kind. Gebt sie in meine Obhut – Presi – ich bürge für sie. – Aber rasch – rasch –«
Der Presi spürt die bittere Not der Stunde: »Wohin wollt Ihr mit ihr, Garde?«
»Ich geleite sie auf den Berg, daß sie zu Josi gehe. Dort ist sie sicher; wenn er will, kommt keine Maus in seinen Gang, und bis am Morgen ist auch schon Mannschaft zum Schutz beider an den Weißen Brettern. – Presi, telegraphiert in die äußeren Gemeinden um Hilfe.«
Der Presi will es thun – er kommt kreideweiß aus der Postablage zurück – der Draht ist abgeschnitten.
»Dann holt Eusebi die Mannschaften – ein paar Stunden später sind sie doch da – nur ein Verbrechen darf nicht geschehen – eher mögen unsere Häuser zerstört werden.«
In dem sonst so schwerfälligen Garden lebt und bebt alles, die klugen und guten Augen unter den buschigen Brauen sprühen Feuer, er ist wieder jung.
»Ja, zu Josi!« klingt das Stimmchen der erschrockenen Binia fein und traumhaft und ihre Finger spielen, ohne daß sie es weiß, mit dem Tautropfen, den sie aus der Kapsel des Halskettchens geholt hat. »Komm mit mir, Vater, es ist mir so angst um dich, wir wollen uns nicht trennen.«
Sie kniet vor ihm, er aber antwortet fast streng: »Heute gehört der Presi in die Gemeinde, das weißt du, Kind!« Dann in überströmendem Gefühl: »Geh, Binia!
– Auf Wiedersehen, Herzensvogel – grüße mir Josi.« Er reißt sie an seine Brust: »Liebe Bini – sollte es anders kommen – sollte ich morgen nicht mehr leben – doch wenn nur du lebst – ich habe einmal einen sonderbaren Traum gehabt – aber ich glaube nicht mehr daran – geh zu Josi – geh in Gottes Namen.«
Mit sanfter Gewalt löst der Garde die schluchzende Binia aus den Armen des Vaters: »Ich will dich führen, Binia! – Komm – komm.«
Vater und Kind nehmen Abschied wie für die Ewigkeit.
Der Garde führt Binia im kalten, dichten Nebel durchs öde Dorf gegen die Alpen empor. Er redet herzlich zu der Schwankenden, die doch tapfer geblieben ist: »Und nun, Binia,« fragt er, »was für eine Bewandtnis hat es mit der furchtbaren Anklage, die gegen dich und Josi erhoben wird –« Da beichtet sie dem alten Freund, wie sie dem Vater gebeichtet hat.
»Binia!« sagt der Garde stillstehend und faßt ihre beiden Hände: »Jemand anders als du könnte es mir nicht vorgeben, daß der betrunkene Thöni selber in die Glotter gelaufen ist – aber wenn es einen Menschen giebt, dem ich glaube, so bist du es, denn du hast, wo andere gestrauchelt wären, immer den Mut der Wahrheit besessen.«
Sie sehen sich in die Augen, der Garde und Binia. O, sie hat es wohl gefühlt, daß der Vater ihrer Erzählung nicht ganz vertraute, und nun ist sie endlich glücklich, daß wenigstens der Garde sie in ihrem tiefen Elend versteht.
Noch zuckt ein Strahl der Hoffnung, daß alles gut kommen werde, durch ihre Brust, da aber taucht Kaplan Johannes gespenstisch aus dem Nebel auf und lacht sein gräßlichstes Lachen: »Wir tanzen doch, Jungfrau – wir tanzen an den Weißen Brettern!«
Irrsinnige Gier lodert in seinen Blicken.
Ehe der Garde sich auf ihn stürzen kann, verschwindet er so rasch, wie er aufgetaucht ist, im Nebel.
Binia zittert und der Garde muß sie wohl oder übel noch ein gutes Stück begleiten.
Da dringt das helle Tageslicht durch das Grau – es liegt unter ihnen – eine blasse Sonne scheint durch weiße Wolken – über das Gebirge ziehen dunklere Streifen und Bänke her – es rüstet zum Schneien – aber in der Felsenhöhe winkt der sichere Hort.
»Fürchte dich nicht, Binia,« mahnt der Garde, »gewiß geht eher St. Peter unter, als daß deinem Haupt ein Leid geschieht.«Hoch oben trennen sie sich. – Binia geht langsam, Schritt für Schritt, sie steigt in die falbe, schweigende Einöde – sie ist auf der Flucht – ihre Lippen zittern: »Zu Josi!«
Einen Augenblick noch sah ihr der Garde nach, dann wendete er sich in Selbstvorwürfen: »Der Mensch meint, er mache ein Ding gut, und er macht es böse. – Es wäre in diesem Augenblick viel wert, wenn das Dorf wüßte, was für ein Verbrechen Thöni Grieg an Josi begangen hat,« – –
Eusebi ist auf dem Weg nach Hilfe und der Garde eilt zu den Dörflern hinaus, die die Leiche in der Glotter suchen. Vielleicht bringt er sie im letzten Augenblick zur Vernunft.
Im Bären aber kämpft ein alter, einsamer Mann, er kämpft wie der angeschossene Adler, der jäher als je zuvor gegen den Himmel steigt. Er kämpft wie die Forelle an der Angel, die auf den Grund des Wassers schießt und sich in Schlamm und Kies verbohrt. Aber der Adler fällt rauschend in die Hochgebirgstannen, die Forelle verliert die Kraft und muß aufwärts steigen.
Der Presi weiß es: er ist der Adler – er ist die Forelle – seine Stunde ist da.
Er sitzt und betet – er blickt über sein Leben – er sieht alle seine Missethaten gegen Fränzi und Seppi Blatter – gegen die selige Beth – gegen Josi – gegen Binia – und er hat Thöni auf dem Gewissen. Eine furchtbare Angst um Binia überfällt ihn. Sie ist wohl sicher in Josis Felsenwerk – aber er hätte sie nicht gehen lassen sollen – in seiner grenzenlosen Verlassenheit gewinnt der alte Traum Macht über ihn – und er weiß jetzt, wer der dritte ist, der am Haupt seines Kindes rühren wird – es ist der schreckliche Kaplan, der den Haß gegen ihn und eine verbrecherische Leidenschaft für das Kind in einer Blutthat ertränken möchte.
Er sollte jetzt der Presi sein – er sollte handeln – sollte reden – aber die Kraft versagt. – Das Dorf ist totenstill – er weiß nicht, was draußen an der Glotter geschieht – wie Vinia ihr Ziel erreicht. – Die Furcht lähmt ihn und kein Mensch kümmert sich um ihn.
Doch, die bebende Vroni steckt den Kopf herein und harrt den langen Tag als Samariterin bei ihm aus.
Sie kommen so furchtbar lange nicht, die den toten Thöni bringen. Mittag. – Abend. – Da naht endlich der traurige Zug, in dessen Mitte die Leiche auf einer Bahre liegt.
Die Männer des Gebirges haben die Hüte gezogen, finster und gemessen schreiten sie und reden nichts.
Noch einmal ist ihr furchtbarer Entschluß, den sie nur im höchsten Taumel des Schreckens faßten, erschüttert worden.
Denn der Garde hat geredet, er hat allen, die sehen wollten, den falschen, entsetzlichen Brief Thönis gezeigt, und das Mitleid mit dem, der in der Glotter lag, ist dahin. – Hätte ihn Josi erschlagen, man könnte nichts dawider haben.
Nein, sie können Binia nichts thun – selbst das entstellte Gesicht Thönis, den man unter unendlichen Mühen aus den Tiefen der Glotter geholt hat, giebt ihnen den Mut nicht mehr.
Da ziehen die Sprengschüsse Josis lang hinhallend durch das Gebirge und die Donnerschläge von den Weißen Brettern jagen die Furcht neu in die vom Totenfund erregten Herzen, die wie unter dem Bann einer höheren Fügung stehen. Morgen schlägt der Hammer – morgen fallen die Lawinen von der Krone – morgen geht St. Peter unter.
Die Fäuste ballen sich, die Blicke steigen drohend gegen die Felsen empor. »Der braucht wohl noch zu sprengen,« knirschen die Männer, »in dieser Nacht muß doch noch das Gericht ergehen.«
Wohin mit der Leiche? – Auf den Kirchhof. Die Bahre steht. Um sie knieen im sinkenden Abend die Dörfler.
Von der Freitreppe des Bären schreitet im Sonntagsstaat würdig und feierlich der Presi, der den schrecklichen Anfall vom Morgen überwunden hat. Zitternd, doch hochaufgerichtet steigt er langsam zum Kirchhof empor und scheu geben die Dörfler Raum.
Er zieht den Hut, tritt an die Bahre und nimmt die schneeweiße Hand des Ertrunkenen. Ruhig spricht er, so daß es alle hören können: »Thöni Grieg, du weißt es, daß ich dich erschlagen habe, daß Josi und Binia unschuldig sind. – Garde und Gemeinde, ich ergebe mich euch als der Mörder Thöni Griegs!«
So spricht der Presi!
Was er erwartet, erfüllt sich aber nicht. Das Volk stürzt sich nicht auf ihn, sondern stutzt in Verwirrung und Hohngelächter erschallt ringsum. Die Rede des Garden und des Presi widersprechen sich. – Der Garde schluchzt laut auf: »O Presi, was habt Ihr gesagt!« Er fällt seinem Freund an die Brust.
Ein unbeschreiblicher Aufruhr entsteht. Die Dörfler schreien: »Sie spielen Komödie – der Garde draußen, der Presi hier – sie lügen – Josi Blatter und Binia Waldisch sind die Mörder. – Die Führer der Gemeinde sind auch des Teufels und mit ihnen gegen uns verschworen.«
Zu diesem Aufruhr kommt von der Kirchenthüre herüber ein zweiter – ein entsetzliches Geschrei: »Wehe St. Peter – wehe – wehe – wir sind exkommuniziert.«
Ein Blitz, der in den Kirchhof gefahren wäre, hätte die Verwirrung nicht vermehren können.
Wo am Morgen die Schrift des Kaplans hing, klebt eine andere. Der Pfarrer schreibt:
»An die räudige heidnische Rotte von St. Peter. Im Namen der heiligen Kirche sind die Siegel an dieses Gotteshaus gelegt. Wer sie bricht, der sei einem Selbstmörder gleich geachtet, wer am Strang der Glocke zieht, den soll die Religion nicht lossprechen in seinem Sterben, und wer in der heiligen Erde wühlt, soll selbst kein geweihtes Grab finden. Das soll so lang gelten, als ihr nicht mit dem rechtmäßigen Pfarrer Frieden macht und von dem Baalspfaffen Johannes und seinem Teufelsglauben laßt!«
Darunter steht das Pfarramtssiegel. – Die Leiche Thöni Griegs ist über dem Schrecken, den die neue Botschaft erregt, vergessen. Man sucht den Pfarrer, man findet ihn nicht, in aller Heimlichkeit hat der alte gekränkte Mann das Thal verlassen, einige, die an der Glotter standen, haben ihn sogar gesehen.
Da liegt ein Toter, der begraben sein sollte, und übermorgen ist Allerheiligen – dann Allerseelen! Kirche und Kirchhof aber sind gesperrt. Nun rüttelt und schüttelt das Entsetzen ein ganzes Dorf.
»Die Regierung hat uns ins Elend geführt, unsere alten Vorsteher lügen uns an, die Kirche giebt uns auf – und alles kommt vom Rebellen und der Hexe – den Mördern. – Gut, wenn man will, daß wir wilde Tiere meiden, so wollen wir wilde Tiere sein und uns unseres Lebens wehren – der Rebell und die Hexe müssen sterben.«
So rasen die von St. Peter.
Der Presi schwankt, wie er sieht, daß seine Selbstaufopferung nichts hilft, davon – die Dörfler beachten es im Aufruhr kaum – der Garde will reden – aber ihm antwortet der hundertstimmige Ruf kreischender Weiber und tobender Männer: »Wir wollen nichts mehr von euch – ihr seid alle Verräter.«
Die neblige Herbstnacht ist hereingesunken – das Grauen wächst.
Da schwingt sich Kaplan Johannes mit einer qualmenden Kienfackel auf die Bahre und beleuchtet das zerwaschene Gesicht des Toten; der Ruf läuft durch die dunklen Gruppen: »Wir haben niemand mehr, der sich unser erbarmt, als Johannes – Kaplan, führt uns – sagt uns, was sollen wir thun?«
Der Schwarze lächelt höllisch: »Erschlagt die Teufelin und den Rebellen – sie ist bei ihm an den Weißen Brettern, ich öffne euch den Weg.«
Da ruft der alte greise Peter Thugi: »Ergebt euch nicht in die Gemalt des Schwarzen – ihr werdet es bereuen.«
Im gleichen Augenblick aber ertönt ein seltsames klirrendes Geräusch durch den Kirchhof. Alle erschaudern. Wahnsinnige Weiber haben die ersten Kreuze ausgerissen. Die Männer knirschen dumpf: »Jetzt können wir nicht mehr zurück – vorwärts also – wir müssen Totschläger sein!«
Das vom Entsetzen gerüttelte Dorf rüstet sich zum schrecklichen Auszug an die Weißen Bretter, die Grabkreuze klirren durch die Nacht. Hinter Kaplan Johannes, der das Kreuz Seppi Blatters an sich gerissen hat und den Weg mit seiner Kienfackel beleuchtet, zieht die heulende, betende Schar, die sich der Hölle ergeben hat. Sie hat aber das Dorf kaum verlassen, da röten sich die nächtlichen Nebel und schon rennen die Ausziehenden schreiend zurück: »Es brennt in St. Peter. – Feurio! – Feurio!«
Die unbestimmt in die Nebel flutende, wogende, wachsende Glut reißt alle ins Dorf zurück. – »Vielleicht ist es unser Haus – vielleicht ist es unser Vieh, das verbrennt,« jammern sie; es scheint durch die schwelenden Nebel, als stehe das ganze Dorf in Flammen.
Fluchend sieht es der Kaplan, wie seine Herde die Kreuze von sich wirft und zu ihren Häusern rennt.
Wie die Erschrockenen aber zurückkommen, brennt der Bären, steigen die Lohen schon prasselnd durch das Dach in die Nebel empor. Der Bären, das alte schöne Haus, der Stolz von St. Peter, das Wahrzeichen des Dorfes, brennt. Sie stehen erschüttert davor – und ihre erste Eingebung ist: retten – helfen, – das Gewissen für die bürgerliche Pflicht erwacht.
Wie aber einige zur Kirche hinauf eilen und die Sturmglocken ziehen wollen, prallen sie wieder an die Siegel des Pfarrers. Es brennt und man darf nicht läuten.
Die Verzweiflung packt das Dorf. – Die Leiche Thöni Griegs, die noch auf dem Kirchhof steht, steigert das Entsetzen. Das Brandlicht fliegt über sie und giebt den Zügen einen Schein des Lebens. – –
»Wer hat den Bären angezündet?« – »Ein Voreiliger vom Ahorn!« So redet ihnen das schlechte Gewissen ein. »Wo ist der Presi? Wenn er im Haus verbrennte?« – Einige Beherzte steigen in den Bau, er ist nicht darin.
Da predigt von der Kirchhofmauer herunter der schwarze Kaplan, der schrecklich im Schein der Flammen steht, mit seiner hohlen Grabesstimme: »Meine fromme Gemeinde. Dich rufen heiligere Pflichten – wir müssen Teufelstöter sein – folgt ihr mir, so wird zu Allerheiligen ein erlösendes Wunder für alle geschehen, die mit mir sind – folgt ihr mir nicht, so seid ihr um Mitternacht schon in der Gewalt des Feindes – der Presi ist auf dem besten Tier nach Hospel geritten und bietet die äußeren Dörfer gegen uns auf. Er hat das Haus angezündet, um uns aufzuhalten.«