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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Vom Gemeinderat ging die Weisung, jedermann, der Josi Blatter antreffe, möge ihn auffordern, daß er sich der Behörde stelle.
»Josi Blatter, der Rebell,« dann kurzweg »der Rebell«. So sprach man in St. Peter. Sein Umhertreiben erregte Aufsehen und Aergernis. Man war es nicht gewöhnt, daß die jungen Leute sich dem Gehorsam der Behörden, der Kirche und der Dorfschaft entzogen. Dazu gesellte sich die Furcht vor Diebstahl. Aber weder die Sennen, die von den Alpen kamen, noch die Dörfler wußten die Spur einer Entwendung zu melden. Es konnte den Rebellen auch niemand auffordern, zurückzukehren, denn man sah ihn immer nur von ferne, meist an den hohen Felsen über den Alpen, ja viele glaubten, es sei überhaupt ein müßiges Gerede, daß er sich noch in der Gegend aufhalte. Aber heute war es ein Dörfler, morgen einer der kühneren Fremden, die hoch an den Flühen, wo Grünland und Weißland sich scheiden, einen verdächtigen Jungen gesehen haben wollten.
»Wir gehen nicht aus, man weiß nicht, was einem der geheimnisvolle Vagant anthäte!« meinten die Furchtsameren, und unter den ängstlichen Gästen kam St. Peter zum großen Aerger des Presi in den Ruf der Unsicherheit.
Ein Diebstahl – eine Verurteilung – dann wäre Josi Blatter für sein Lebtag im Thal gerichtet und alles zu Ende. Gefängnis nahmen die zu St. Peter furchtbar ernst, es genügten die roten Epauletten eines Landjägers, der alle paar Jahre einmal ins Thal kam, um die Bewohnerschaft in Aufregung zu versetzen.
Gegen Ende des Sommers erwartete der Presi den Rebellen des Diebstahls überführen zu können. Die Sonne schien noch warm, die Glotter aber, deren Wasser stark zurückgegangen war, floß klarer als sonst. Nun glaubte er Anzeichen dafür zu haben, daß aus seiner Fischenz nächtlicherweile Forellen gestohlen würden. Thöni und ein paar Mann legten sich in den Hinterhalt. Um Mitternacht watschelte es in dem Glotterbach, eine Gestalt bückte sich und langte mit den Händen in die Forellenverstecke, man faßte den Dieb – Bälzi!
Ganz St. Peter lachte, daß der Presi seinen ehemaligen Schützling gefangen hatte, sogar mehr, als wenn der Rebell verhaftet worden wäre, denn die Mißgunst gegen den Presi war größer als der Aerger über den unbotmäßigen Jungen.
Am meisten litt Vroni. Ihre letzte Hoffnung, daß Josi wieder auf gute Wege komme, war wie Aprilschnee geschmolzen, der Garde wollte nichts mehr von ihm hören, er war wütend auf sein Mündel. Nicht, weil Josi seinem Meister entlaufen war, das fand er fast selbstverständlich, aber weil er sich seinem Vormund nicht gestellt hatte. Von Zeit zu Zeit fragte er Vroni im Ton des Verhörs, ob ihr Josi noch nie ein Zeichen seiner Anwesenheit gegeben.
Das war's ja eben, was sie am tiefsten kränkte – er hatte sie vergessen.
Sie horchte fleißig in die Nacht, ob sie ihn nicht ums Haus streichen höre, aber was sie erlauschte, war immer nur das Klagen des Windes in den Felsen.
Hatte er wohl das Thal verlassen und war ohne Abschied über Hospel hinaus in die weite Welt gegangen, wie jener Bursche im Kirchhoflied? Hinweg vom Grab des Vaters und der Mutter.
»Gebräunter Bursch ist fortgezogen,
Den Mund so frisch, den Blick so hell,
Dahin mit Wellen und mit Wogen
Gewandert ist der Frohgesell.«
Oder war er einsam irgendwo auf den Bergen verunglückt? – Sie hoffte es fast, denn ein toter Bruder wäre ihr lieber gewesen als einer, der in Unehren lebt. O, was mochten die Mutter und der brave Vater in ihrer Abgeschiedenheit von Josi denken.
Oft fielen die Thränen um ihn auf das Armseelenmahl, das sie für die Toten rüstete. Und doch ging es ihr gut. Die stolze Gardin sprach zwar von oben herab zu ihr, behandelte sie, wenn es der Garde nicht sah, wie eine Magd und predigte ihr Bescheidenheit.
»Ich bin ja gewiß bescheiden,« dachte sie dann, »wenn ich nur im Haus bleiben darf.«
Wenn sie aber besonders niedrige Dienste verrichtete, wenn sie die Jauchetanse an den Rücken hängte oder den Mist der Schweine aus dem Stall zog, dann knurrte der breite Garde: »Du darfst das nicht thun, Vroni; laß das den anderen!«
Eusebi freute sich darüber unbändig und begann den Vater nachzuahmen, indem er sie von den rauhesten Arbeiten zurückhielt, die Gardin aber schmollte: »Herrgott, ist Vroni, weil sie blondes Haar und ein sauberes Gesichtchen hat, denn eine Prinzeß?«
»Die ist mehr als eine Prinzeß, Gardin; merkst du nicht, daß uns Gott das Mädchen eigens zum Trost ins Haus geschickt hat? Sieh dein Schmerzenskind, den Eusebi, an. Denke, wie er noch vor zwei Jahren war und wie er jetzt ist. Stottert er noch? Läßt er die Glieder noch so elend hängen? – Nein, es ist eine Freude, wie der Bursche alles nachholt, was er in sechzehn Jahren versäumt hat.« So mahnte der Garde voll Vaterglück.
»Meinst du, es freue mich nicht auch?« fragte seine Frau, »meinst du, es freue das Mutterherz nicht am meisten – warum bin ich denn so viel gewallfahrtet für Eusebi!«
»Deine Wallfahrten in Ehren, dem Burschen aber haben nichts als Geschwister gefehlt; doch hätten ihn sechs Brüder und sechs Schwestern nicht so geweckt wie die einzige stille Vroni.«
»Nun – nun – ich lasse ja sie gelten, wenn sie nur nicht einen so geringen Bruder hätte.«
»Daran ist der Presi schuld!«
So tauschten Garde und Gardin ihre Meinungen.
Nicht so bald, wie er es zu Vroni gesagt hatte, sondern erst gegen den Herbst hin kam der Presi zu dem langsam genesenden Freunde auf Besuch. Binia begleitete ihn. Aber zwischen den beiden Männern war nichts als Streit und Zank.
»Wenn der Bursche hinter die genagelte Thür in der Stadt kommt, wenn St. Peter diese Schande hat oder wenn er, wie's den Anschein hat, verhungert an den Bergen modert, so liegt's auf Eurem Gewissen, Presi. Ich hätte mit dem Peitschenstiel auf Euch losgehen mögen, als Ihr den Waisenbuben zu Bälzi gabt.«
Da fuhr der Presi auf: »Gott's Donnerhagel! So ist mir noch niemand gekommen! Garde – Garde! – Wißt Ihr noch, was der Lumpenhund gesagt hat?«
»Ihr seid der Presi, seid doch erhaben über ödes Geschwätz. Und nun wollen wir Binia fragen, ob er's wirklich gesagt hat!«
Binia, die sich in der Küche bei Vroni leise nach dem verschwundenen Josi erkundigte, kam auf den Ruf des Presi hochrot vor die entzweiten Männer, und auf ihre Frage funkelte der Mut der Verzweiflung in ihren Sammetaugen, ihre Nasenflügel und Lippen bebten.
»Vater! – Vater! – er hat's nicht gesagt – ich schwör's Euch noch einmal wie am Tag nach Fränzis Tod – er hat's nicht gesagt – sondern der Kaplan Johannes.«
Ihre Stimme klang wie ein zersprungenes Glöckchen, sie stand da wie eine kleine Märtyrerin.
»Wie am Tag nach Fränzis Tod,« wiederholte der Garde und sah den Presi mit zusammengezogenen Brauen scharf an.
Da wurde der Presi bleich vor Scham und Zorn. »Hast du auch nicht gesagt, du wolltest Josi heiraten?« Er stammelte es mehr, als daß er es sprach.
»Wohl, in meiner Verwirrung habe ich so viel geschwatzt, was ich nicht hätte sagen sollen.« Angstvoll und entschlossen zugleich sprach Binia, der Presi aber warf ihr einen Blick zu, als wolle er sie zu Boden schmettern.
»Hinaus mit dir und heute nicht mehr unter meine Augen!«
»Was für einen Mut hat das Kind,« knurrte der Garde beruhigend, als sich Binia geflüchtet hatte, »Presi, tragt dem Mädchen Sorge.«
»Dem Kaplan will ich zünden!« schnob der Presi.
Das kurze Gespräch hatte dem Garden ein Licht aufgesteckt. Darum also haßte der Presi Josi so grimmig, weil Binia ein Auge auf den hübschen Burschen geworfen hatte. Er wiegte, als der Presi gegangen war, den Kopf.
»Kinder – Kinder! – Aber sie wachsen wie die Tannen und die Tannen sprengen mit den Wurzeln den Fels. Grad so die Jugend mit ihrer Liebe, es muß nur eine echte sein!« Zwischen Binia und Josi lag allerdings nicht nur ein Fels, sondern ein Berg. Und aus Josi wurde der Garde nicht klug. War der Bursche wirklich so empfindlich, daß er wegen eines unverdienten Donnerwetters seinen Vormund verleugnete?
Da steckte ihm Vroni ein zweites Licht auf. Das sanfte Kind beichtete aus freien Stücken, doch als ob sie sich für ihren Bruder tief in die Erde schämen müsse: »Denkt, Pate, heute ging der Kaplan mit seinem Bettelsack am Haus vorbei, und als er mich sah, kam er und sagte, Josi lasse mich grüßen. Es gehe ihm wie einem Herrn.«
Der Garde wußte jetzt, woher Kaplan Johannes die Mineralien für seinen Sommerhandel bezog.
Der Herbst kam, die Fremden reisten von St. Peter, fort, mit klingendem Spiel zog das Vieh von den Bergen, voran die mit Enzianen geschmückte Meisterkuh. Jetzt mußte sich Josi, wenn er noch lebte, zeigen. Dem Winter, dem furchtbaren Höhenwinter würde er nicht trotzen, der würde ihn schon zu den Menschen zwingen, da verließen ja selbst die armen Seelen die Höhen, über die der Wind hinpfiff, und schlichen sich nachts in die Häuser, und die ausgehungerten Gemstiere kamen zu den Stadeln und schnupperten nach dem aufgespeicherten Heu.
In der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen gab Josi bestimmte Kunde seiner Anwesenheit. Auf den Gräbern seiner Eltern lagen am Morgen Bergastern und standen Kerzen, und die hatte Vroni nicht hingethan.
Sie entzündete sie und es waren ihr zwei Hoffnungsflammen.
Was litt sie um Josi immer noch! Wo sie ging und stand, flüsterten die Leute: »Die Schwester des Rebellen!« und jetzt fragten sie: »Woher hat er das Geld gehabt für die Kerzen?« Andere trösteten wohl: »Man sieht's, daß er nicht verstockt ist, die Geschichte seines Vaters hat ihm nur den Kopf zerrüttet und der Presi hat ihn mit seiner Schärfe ganz um den Verstand gebracht.« Doch das war ein schlechter Trost.
Der erste Schnee fiel, grimmige Kälte trat ein, Josi erschien nicht als reumütiger Sünder im Dorf. Da waren die Leute überzeugt, daß er nun doch verhungert sei, und erwarteten, daß man im Frühling sein Gerippe in irgend einer Alphütte finden werde.
Kaplan Johannes, den der Garde einmal zur Rede stellte, gab zu, daß Josi eine Weile für ihn Krystalle gesucht habe, aber jetzt sei er, so versicherte er, ohne Ziel in die Welt gewandert.
Das war nicht glaubwürdig, wer in St. Peter geboren ist, geht nicht von St. Peter fort, eher war Josi aus Mangel gestorben.
»Aber vielleicht hat ihn das Kirchhoflied verführt!« seufzte Vroni.
Der Presi kratzte sich im Haar: der Bube, der lieber verdarb als sich ergab, kam ihm unheimlich vor. »Der ist noch zehnmal stärker als sein Vater,« dachte er mit nagendem Verdruß.
Und in den Abendgesellschaften der Dörfler lief dem toten Josi zu Ehren wieder die alte Kaufbriefgeschichte mit allerlei Verzierungen.
Josi aber lebte – elender freilich als ein Tier – er lebte hart am Weg, auf dem die von St. Peter gingen.
Das war sein und des letzköpfigen Pfaffen Geheimnis.
Schon zu Lebzeiten der Mutter, damals, als die ersten Fremden gekommen waren, hatte ihm Kaplan Johannes aufgelauert und ihn jammernd gebeten, ihm Krystalle und Erze zu verschaffen, damit er sie, zu Pulver verstampft, in seine Arzneien mischen könne. »Ja, freilich,« lachte Josi, der vom Vater her die Fundorte der Mineralien, die man im Dorfe nicht mehr als Spielzeug schätzte, an den Flühen des Bockje und der Krone kannte. Und er brachte dem Kaplan hübsche Stücke, auf denen Tautropfen saßen, die klar wie Thränen sind, blühendes Gestein, wie er es grad beim Wildheuen erreichen konnte. »Gracia et benedictio tibi«, sprach der Einsiedler mit seiner hohlen tiefen Stimme und gab ihm einen funkelnden Franken. Seither blühte in tiefer Heimlichkeit vor der Mutter und Vroni ein kleiner Handel zwischen den beiden. Nicht, daß der Kaplan nun Josi für jeden quellklaren Quarz, für jeden braungoldenen Diamanten der Zinkblende, für jeden Brocken, auf dem die grauglänzenden zierlichen Blätter des Wasserbleis saßen, ein Geldstück gegeben hätte, meist bezahlte er, wenn er die Stücke mit gierigem Blick in den Sack gesteckt hatte, mit Segenswünschen und geheimnisvollen Andeutungen, er würde ihn einmal zu großem Glück führen. Darüber lachte der trockene Bursche, und als er sah, daß ihn der Kaplan betrog und die Drusen verkaufte, stellte er die Lieferungen ein.
Allein der Laurer ließ ihn nicht mehr los. Als Josi den ganzen Groll und Grimm gegen den Presi und das Dorf im Herzen, von Bälzi, der ihn nach hartem Tagewerk hatte schlagen wollen, fortgelaufen war, hatte ihn der Kaplan, der in der Dämmerung mit dem Bettelsack von den Alpen kam, am Fuß einer graubärtigen Wetterlärche überrascht.
Der grinsende Pfaffe, der ihm die tiefste Teilnahme vorspiegelte, entlockte der tobenden Brust des Flüchtlings eine Beichte, die nicht vollständiger hätte sein können. Alles Elend, aller Haß einer von einem schweren Unglück zerschmetterten und mißhandelten Seele lag frei vor dem Schwarzen.
»Sei kein Thor, Josi; stelle dich doch dem Garden nicht, suche mir lieber Krystalle, ich will für deinen Unterhalt sorgen. Hier oder wo wir verabreden, treffe ich dich jeden Tag,« überredete der Kaplan den verirrten Jungen, und von dieser Stunde an bestand eine Art Herzensbund zwischen ihnen.
Furcht und Trotz halfen den Ratschlägen des Kaplans, am folgenden Tag wurde Josi Strahler. Von den Felsen der Krone, wo sich sonst niemand hinwagt, brachte er dem Kaplan die dunklen Morione, vom Bockje die klaren Edelkrystalle, vom Schmelzberg die wunderfeinen Strahlen des Grauspießglanzes und die zierlichen Eisenrosen, die im Stahlschimmer leuchten. Immer trug er die Leiter bei sich, die ihm früher zum Wildheuen gedient, unermüdlich kletterte er zu den Rissen, Höhlen und Kammern der Felswände empor. Es gab aber Tage, oft mehrere hintereinander, an denen sich Krystalle und Erze wie durch einen Zauber vor ihm versteckten, an denen er wohl mit zerschrundenen, aber leeren Händen zu Kaplan Johannes kam. Doch dieser blieb gütig, prophezeite ihm in geheimnisvollen Formeln reiche Ernte am nächsten Tage, schüttelte alles, was der Bettelsack Eßbares enthielt, vor dem Heißhunger des Burschen aus, streichelte ihn und sprach ihm freundlich zu, als wolle er ihn für die große Einsamkeit, in der er lebte, entschädigen, und manchmal war Josi, der unheimliche Kaplan habe ihn leidenschaftlich lieb.
Aber das Heimweh kam. »Vroni! – Vroni!« brüllte es in der Brust Josis, und wenn er tief unter sich einen Menschen über die grüne Alpe gehen sah, so hätte er hinabeilen und ihn umarmen mögen – o, alle von St. Peter, nur den Presi nicht.
Kaplan Johannes sah das Heimweh, ein eigentümliches Lächeln ging über sein finsteres Gesicht: »Josi, es ist ein Landjäger im Dorf, der es vor dir bewachen muß; denke dir, Bälzis Weib hat vor dem Garden beschworen, daß du im Schlaf gesagt hast, du zündest den Bären und St. Peter an. Wegen Ungehorsam gegen die Behörden und Drohung auf Brandstiftung will man dich verhaften, und jede Nacht stehen ein paar Häscher um das Haus des Garden im Hinterhalt, denn man denkt, du kommest am ehesten dorthin, weil du Vroni sehen möchtest. Also hüte dich! Und noch eins! Rühre keinen Halm auf den Alpen an, sonst giebt es eine Treibjagd auf dich und die höchsten Felsen retten dich nicht; sei vorsichtig, Josi. Ich füttere dich ja, Rabe, selbst wenn ich für mich keinen Bissen habe.«
Josi erblaßte – zitterte – also so weit war er: die Landjäger suchten ihn.
In seinem Schuldbewußtsein durchschaute er die Lüge des Kaplans vom Weib Bälzis, das ihn verraten haben solle, nicht recht, er erinnerte sich nur halb, daß er selbst bei der tollen Beichte unter der Wetterlärche etwas vom Bärenanzünden gesagt hatte. Aber nur in der gräßlichsten Erregung.
Nein! – nein! – Mochte ihn der Presi hängen lassen, eine Brandstiftung that er dem Andenken seiner Eltern nicht zu leid.
Bald erhielt er die Bestätigung dessen, was der Kaplan gesagt hatte, aus unverdächtiger Quelle. Er traf unvermutet und so, daß er nicht mehr ausweichen konnte, auf den Viehknecht des Bockjeälplers: »Fort, Rebell,« lachte der gutmütig rohe Mensch rauh und laut, »fünfzig Franken erhält, wer dich lebend oder tot ins Dorf bringt,« doch so, als ob er selber die fünfzig Franken nicht verdienen wollte.
Von diesem Tag an hielt sich Josi allen unsichtbar und lebte in den höchsten Flühen.
Was er litt! – Die Nächte, die entsetzlichen Nächte, während deren er irgendwo auf einer Planke lag, mit ihrem ehernen Schweigen und ihrer Einsamkeit! Tief unten winkten die Lichter von St. Peter wie ein Häuflein Sterne und riefen: »Komm, komm!« Und jeder leise Glockenklang, den die Luft zu ihm emportrug, schmeichelte: »Komm, komm!« Vroni nie sehen – nie auf den Kirchhof treten, wo Vater und Mutter begraben sind – nie in der Dorfkirche beten. Jedes Stück Vieh, das er sah, entlockte ihm fast Thränen, vorsichtig lief er hinzu, streichelte es, küßte es und redete lieb mit ihm. »Gelt, wenn du ins Thal kommst, grüßest du mir Vroni!«
Im gräßlichen Alleinsein wurde Josi beinahe Philosoph. Er liebte seine Krystalle, die wunder- und geheimnisvollen Blumen des Gesteins: »Warum müßt ihr so schön aus der Erde wachsen, du wie ein Röschen, du wie eine Thräne, die ein Engel vom Himmel hat fallen lassen, und du wie ein Haufen Spieße für den Ameisenkrieg. Wer hat dich gemessen und gezirkelt, du kantiger Edelkrystall, wer hat dich mit Rauch gefüllt und die Haarsträhnen durch dich gezogen, du schöner Topas, und dich öden weißen Stein mit Granatkörnern bestreut wie die Mutter selig am Dreikönigstage die Brotmänner mit Wachholderbeeren?«
O Wunder! Selbst die Krystalle drängen sich wie Bruder und Schwester zusammen, sie suchen ihre Gespielen und auf manchem Stein stehen so viele, groß und klein, wie wenn sich am Sonntag die Dörfler auf dem Kirchhof zum stillen Plaudern sammeln.
Nur er war einsam.
Mitten in seinem Elend ahnte er aber, daß alles in der Welt zum Schönen drängt, daß auch der Mensch leiden und sich öffnen muß, wie der harte Fels, der Krystalle zeugt. Wie ein Fels wollte er werden, wenn er wieder einmal als ehrlicher Bursch unter den Menschen wäre, Krystalle guter Thaten zeugen, alles Rechte würde er thun, was Brauch und Sitte, was die Vorgesetzten forderten, selbst Dienste bei Bälzi.
Doch jetzt nicht ins Gefängnis, lieber sterben!
Der Winter naht! Seit die Fremden fort sind und er keine Mineralien mehr verkaufen kann, ist der Kaplan mürrisch gegen ihn, er bringt ihm das Essen unregelmäßig und oft zu wenig. Da weiß es Josi plötzlich: Er ist der Gefangene dieses halbverrückten und schlechten Mannes, Johannes hat ihn dort unter der Wetterlärche verführt, daß es keine Rettung mehr giebt. Und ein grimmiger Haß gegen den Kaplan zuckt auf in seiner Brust.
Er kann es auf den Alpen nicht mehr aushalten vor Kälte. Ein Ausweg! Fort von St. Peter, fort, wie der Bursch beim Kirchhoflied. Sterben macht nichts, nur nicht ehrlos eingesperrt werden. In der grauenden Frühe des Tages Allerheiligen läuft er, am Schmelzwerk vorbei, wo Kaplan Johannes haust, das Thal hinaus. »Lebe wohl, seliger Vater, – lebe wohl, selige Mutter, – und du, liebe Vroni, mit den schönen blauen Augen.«
Wie er nach Tremis kommt, tummeln sich schon Kinder auf der Straße, sie springen vor ihm schreiend davon: »Ein wilder Mann – ein wilder Mann!« Da fällt es ihm ein: Er kann nicht in die Welt, sein dunkles Haar hängt ihm in Strähnen über die Wangen, seine Kleider sind Fetzen, die Schuhe zerlöchert, als ein Landstreicher würde er aufgegriffen. Auf das Geschrei der Kinder streckt ein altes kropfiges Weib den Kopf aus dem Fenster, Susi aus dem Bären. Sie erkennt ihn und nun regt sich doch in ihr das Mitleid und die Neugier. Sie ruft ihn herein.
Sie hat schon von seinem Rebellentum gehört; indem sie ihm den Kaffee einschenkt, den er gierig trinkt, fragt sie ihn hundert Dinge.
»Ist es wahr, daß du mit Bini verhext und besprochen bist?«
Das behagliche Stübchen und der warme Trunk im Leib stimmen Josi ganz weich: »O, Susi, ich habe gewiß andere Sorgen – ich möchte wieder ein rechter Mensch werden. Seht, morgen ist Allerseelen, und ich bin so arm, daß ich für meinen seligen Vater und die selige Mutter nicht einmal zwei Kerzchen kaufen kann.«
Die tiefe Trauer, die seine Stimme durchbebte, sein elendes Aussehen und seine Verwilderung weckten das Erbarmen Susis, sie schenkte ihm zwei Wachskerzen und redete ihm mit ihrer pfeifenden Stimme mütterlich zu, daß er sich dem Garden stelle, es gehe ihm gewiß nicht so böse.
»Ich will's thun, Susi.« Aber wie er über die verlassenen Alpen des Schmelzberges, auf denen die letzten Sonnenlichter des Jahres spielen, die letzten Blumen blühen, mit weitem Umweg nach St. Peter geht, kämpft er wieder.
Erst tief in der Nacht schleicht er sich ins Dorf. Er kniet zwischen den Kreuzen an den Gräbern der Eltern nieder, er steckt die Kerzen und Astern auf die Hügel. Da kommt der Nachtwächter singend vom Oberdorf. Es ist der breite Brummbaß des Fenkenälplers, der in der Kehrfolge der Bürger den Dienst hat. Er möhnt:
»Es ist nicht unsere Gerechtigkeit,
Daß Gott uns so viel Gut's erzeigt.
Es ist seine Gnade und Güte,
Ihr lieben Heiligen schützt uns vor Gefahr,
Vor Brand und Laue besonderbar,
Und dann, ihr Lieben, bitten wir noch.
Sperrt den Rebellen endlich ins Loch!«
Der letzte Zusatz ist eine freie Erfindung des Sängers. Josi aber schreit: »Hörst du's, Vater – hörst du's, Mutter, so geht es mir! – Ich lasse mich aber nicht einsperren!«
In wildem Weh brüllt er es und rauft das Kirchhofgras, als wolle er hinabflüchten zu den Toten.
»Das alles haben der Presi und Binia über mich gebracht.«
Schon sieht er, wie man ihn gefesselt durch das Dorf führt, auf der Freitreppe steht der Bärenwirt mit einem Hohnlächeln.
Da geht es ihm wie dem Fuchs, der vom Hunger gepeitscht, in die Falle kriecht, von der er weiß, daß sie ihn verderben wird – er flieht vom Dorf zu Kaplan Johannes, den er doch haßt wie den Tod.
Mit einem höllischen Lächeln gewährte der Letzköpfige dem Ausreißer Schutz und Obdach in der Ruine. Den einzigen noch überdachten Raum bewohnte der Einsiedler selbst. Da brach durch ein vergittertes Fenster das Licht herein. Grad neben dem Viereck, das es auf den Boden zeichnete, war das Lager des Schwarzen, ein Sack voll jener langen Flechten, die wie riesige graue Bärte von den Aesten der alten Lärchenbäume fluten, gegenüber der Thüre ein dreiteiliger Altar, den ein Totenschädel schmückte, davor ein Betschemel. Und von der Decke hing eine Ampel, in der ein Lichtfunke brannte.
Sonst war das Gemach leer.
Hinter ihm war ein zweites, ein niedriges Gewölbe, in das man nur halbgebückt kriechen konnte, wohl, wie die rotgebrannten Steine vermuten ließen, ein großer alter Ofenraum.
In diesen Verschlag wies Johannes seinen Gast. Da war Josi vor jeder Entdeckung sicher. Niemand wagte sich in die Zelle des unheimlichen Kaplans; wenn je nach Wochen einmal ein Weiblein ins Schmelzwerk kam, um ihn zu einer kranken Kuh zu holen, so pochte es draußen schüchtern an, dann trat der Einsiedler heraus, gab ihr mit seiner Grabesstimme den Segen und ging mit ihr.
Er war gewiß ein unheimlicher Kauz, der Kaplan Johannes mit dem fahlen Gesicht und den lodernden Augen. Vor seinem Altar sang er oft Lieder, die stark weltlich klangen, sobald aber, das glaubte Josi zu bemerken, Leute des Weges zogen, ging er mit wenigen Modulationen in einen frommen Gesang über, wie man ihn am Altar der Dorfkirche hörte.
Am Abend, wenn der Weg einsam war, sprach Johannes oft laut mit sich selbst, schnitt Grimassen, verwarf die Arme, geriet in einen Taumel und vergaß, daß Josi da war.
»Die Mauer war hoch,« erzählte er klagend, »aber der Kastanienbaum war höher. Johannes saß darunter und lernte. Er lernte Tag und Nacht. Einmal aber im Herbst erzitterte der Kastanienbaum über seinem Haupt. Was zitterst du? Da legte Johannes das Buch nieder und stieg auf den Baum. Ein Ast ragte weit über die Mauer, vom Garten in einen Hof, der Ast schwankte. Johannes schaute über die Mauer. Da sah er Graziella, die Kastanien schüttelte. Sie hatte braune Arme und braune Augen und lachte über den Klosterschüler. Eines Tages aber sagte sie: ›Wenn du mich lieb hast, Johannes, steige nur vom Baum.‹ An der Mauer küßten sie sich. Mehrmals. Als das Laub fiel, rüttelte Graziella wieder am Ast und lockte – die Falsche. Der Schüler kletterte am Kastanienbaum über die Mauer, sie gab ihm einen Kuß, und dann warfen die Klosterbrüder ihn nieder – und dann« – seine Stimme hob sich zu einem klagenden, wiehernden Geheul – »sie haben mich im Gefängnis mit kaltem Wasser begossen – sie haben sich vergriffen an mir, daß ich nicht mehr Johannes bin.«