bannerbanner
Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten
Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten

Полная версия

Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten

Язык: Немецкий
Добавлена:
Настройки чтения
Размер шрифта
Высота строк
Поля
На страницу:
3 из 7

Ich selbst litt vor allem unter dem Klima – das war nicht die Art von Pädagogik, die ich mir vorstellte.

Und trotzdem bist du Lehrer geworden ... Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Man empfindet Distanz zur Schule, manchmal sogar Hass, weil es Lehrer gab, die einen zwar nicht schlugen, aber sonst drangsalierten. Und trotzdem diese Faszination für den Beruf. Der Hass hielt einen nicht davon ab, das Lernen und die Institution Schule spannend zu finden.

Ich habe Kinder immer gemocht, habe immer gerne mit Jugendlichen gearbeitet ... aber das sagt jede und jeder, der Lehrer werden will. Eine deutsche Psychologin hat einmal die Meinung vertreten, jeder Beruf sei auch ein Stück weit Selbstheilung. Alles, was man in der Jugend erlitten habe, versuche man mit dem Beruf geradezurücken. Bei mir war es wohl so, dass mein Selbstvertrauen mit sechzehn keineswegs gefestigt war. Die Verhältnisse daheim waren schwierig, ich war nicht so chäch, wie ich mich gab. Und der Lehrberuf, der verlieh mir nun Autorität. Es schauten täglich zwanzig Augenpaare auf dich, die Schüler gehorchten dir, damals war das noch so. Für ein angeknackstes Selbstvertrauen war der Lehrberuf wunderbar. Allerdings, als Landgiel im städtischen Lehrerseminar, das ist auch bei Lukas Hartmann nachzulesen, einem Jahrgänger von mir, das war doch recht speziell. Man fragte dich: Spielen Sie ein Instrument? Klar, Handorgel ... Und darauf der Musiklehrer: Das ist doch kein Instrument!

Das Seminar war für mich unheimlich verunsichernd, neben vielem Schönem, ich las, ich lernte einiges über Literatur oder Musik, da habe ich viel profitiert. Aber beide Beine auf den Boden gebracht habe ich erst, als ich zum ersten Mal vor einer Klasse stand. Da hatte ich das Gefühl, doch, das ist mein Beruf. Als Lehrer hast du eine gewisse Macht, die man früher auch hemmungslos ausspielen konnte; erst die Achtundsechziger begannen das dann zu hinterfragen.

Und die Ausbildung, später auch die Arbeit gab mir klare Strukturen. Das hat mir geholfen, ich hätte nicht Schaufensterdekorateur werden oder die Kunstgewerbeschule besuchen können, wahrscheinlich wäre ich abgestürzt.

Das Lehrerseminar gab mir den Takt vor, zum Glück. Die ersten beiden Jahre verbrachte ich im Internat in Hofwil, Münchenbuchsee. Wenn du am Abend weg wolltest, musstest du den Direktor um den Schlüssel bitten und genau begründen: Konzert oder Stadttheater, etwas anderes kam gar nicht infrage. Kino kam nicht in Betracht.

Das also sind die geheimen Gründen, warum man Lehrer wird: Macht, Selbstbewusstsein gewinnen durch die Position, die man hat? Aber das andere, Umgang mit Kindern, mit Jugendlichen, das ist ja auch nicht immer eitel Sonnenschein, heute offenbar sowieso nicht? Oft scheinen Lehrpersonen doch gerade daran zu scheitern. Die Kinder seien frech, fordernd, schlecht erzogen, wollten nicht lernen. Das sei doch bei vielen der Grund für ihr Burn-out? Was gefällt dir denn nun am Umgang mit Jugendlichen? Was interessiert dich daran?

Heutige Sechzehnjährige haben völlig andere Lebensbedingungen, als wir sie damals hatten, auch ihre Lebenskonzeptionen sind vielgestaltiger. Die Gesellschaft war früher normierter, die Strukturen waren klarer.

Aber dieses andere, das ist etwas, was mich fasziniert: Was kommt mir da alles entgegen? Und das Zweite: die Auseinandersetzung. Zum Teil leben die Jugendlichen heute ja in einer entgrenzten Zeit: anything goes. Und je älter ich bin, desto mehr bin ich nicht mehr ihr «Vater», sondern eher eine Art Grossvater, ich kann es mir leisten, mit ihnen über Grenzen zu reden. In meiner letzten Autoassistenten-Klasse gab es einen Lehrling, das war der, der alleine in einer Einzimmerwohnung hauste, der kam unregelmässig zur Schule. Bis ich merkte, was mit ihm los war – ganz allmählich hat er mir sein ganzes Leid erzählt, es war ja viel Leid dabei. Er kam also nur zur Schule, wenn er gerade in Stimmung war.

Die Auseinandersetzung mit dem Jungen dauerte fast über die ganzen zwei Jahre der Ausbildung. Erst allmählich begriff ich, in welcher Situation er steckte: dass die Mutter ihn ausquartiert hatte, dass er mutterseelenallein wohnte, dass am Abend, wenn er von der Garage nach Hause kam, niemand da war, dass nicht gekocht wurde für ihn, dass er dann in die Beiz ging, sich zudröhnte.

Es ging und geht immer um Grenzen, ums Grenzensetzen, Grenzenaushandeln. Aber aus einer solchen Auseinandersetzung entsteht auch Zuneigung, Beziehung. Das ist es, was mich am Beruf interessiert.

Wie kannst du das als Berufsschullehrer, Beziehungen aufbauen? Du verbringst ja nur eine sehr begrenzte Zeit mit den Jugendlichen? Was braucht es denn überhaupt, um eine solche Beziehung aufzubauen?

Interesse am Menschen. Die Frage ist letztlich, warum du Lehrer bist. Es gibt welche, die sich vor allem für ihren Stoff interessieren, die vor allem Inhalte vermitteln wollen. Ihnen ist es in einer gewissen Weise egal, wer auf der andern Seite sitzt. Aber für mein Gefühl geht es nicht ohne das Interesse an den einzelnen Menschen.

Das spürt man auch aus deinen Texten, obwohl du dich ja als «Kognitivist» bezeichnest. Es gibt Autoren, die ähnliche Themen behandeln wie du, im Vergleich zu deinen wirken ihre Texte aber fast etwas bürokratisch, distanziert – viele Checklisten, was man alles abhaken muss. Bei dir ist anderes zu spüren, Emotionen. Du bist als Person in deinen Texten anwesend.

Ohne Emotionen geht es nicht. Als Lehrer musst du immer auch als Person präsent sein, mit der ganzen Verletzlichkeit, mit deinen Sonn- und Schattenseiten. Ich hatte nie den Eindruck, ich müsse ausgeglichen sein. Das heisst nicht, dass ich cholerisch geworden wäre, aber ich konnte sehr konkret und direkt werden. Wie bei Ädu, als ich ihm klar machte, was er aufs Spiel setzte, wenn er nicht lernte: Bist du verrückt, durch die Prüfung zu fliegen und deinem Lehrmeister so viel Geld zu schenken? Willst du das wirklich?

In der Auseinandersetzung mit dem Jugendlichen gehe ich auf den Menschen zu. Er muss spüren, dass es um ihn geht. So habe ich mich auch im Förderunterricht immer verhalten. Wenn die Lernenden apathisch dasassen, sagte ich zum Beispiel: Ich glaube, ich muss gleich wieder gehen. – Warum? – Ich merke, dass ihr nicht wirklich dabei seid. Einer von uns muss nächste Woche zur Lehrabschlussprüfung, aber ich bin das nicht ...

Es hat auch mit Konfrontation, mit Begegnung zu tun. Ich mag das. Wenn du das nicht magst oder wenn du es nicht kannst, dann kommt es zum Burn-out. Du kannst nicht einfach alles, was da läuft, draussenhalten und dein Züglein fahren. Das geht nicht.

Kann man so etwas in einer Ausbildung vermitteln? Hast du das in den siebenunddreissig Stunden Ausbildung pro Woche gelernt? Anders gefragt: Von dem, was du dort gelernt hast, was konntest du nachher brauchen?

Einiges. In all meinen Ausbildungen, durch meine ganze Schulzeit eigentlich, hatte ich Lehrer, bei denen ich dachte: So wie der! Einer von ihnen war der damalige Direktor der Gewerbeschule Bern. Er sagte uns, wir könnten jederzeit bei ihm im Unterricht vorbeischauen. Also besuchten wir an einem Montag um acht seine Lektionen: die verletzlichste Zeit für einen Lehrer (am Freitag um fünf hielt er keinen Unterricht, das wäre auch so eine Zeit). Es war vor einer Abstimmung, und er arbeitete damals schon in einer Art mit seinen Jugendlichen, die heute noch top wäre. Er moderierte: Herr Soundso – er sprach seine Lernenden mit Nachnamen an, und immer respektvoll –, Sie leiten diese Diskussion, ich weiss, Sie können das. Es geht jetzt um die und die politische Frage, alle mit dieser Meinung setzen sich auf diese Seite, die mit der andern Meinung auf die andere Seite, die ohne Meinung nach hinten. So, Herr Soundso, ihr habt ja bei mir einiges über Gesprächsführung erfahren, Sie leiten jetzt dieses Streitgespräch. Es waren Hochbauzeichner, blitzgescheite Jugendliche. Aber es ging gar nicht darum, sondern um die Art und Weise, wie er mit der Klasse arbeitete. So muss man mit Jugendlichen umgehen. Man muss ihnen etwas zutrauen.

Als ich etwa fünfundfünfzig war, begann ich mir bei den jährlichen Pensionierungsfeiern immer zu überlegen: Will ich so in Pension gehen? Der muss gehen, weil er krank ist. Nein, so nicht! – Der, weil er mit den Schülern nicht mehr klarkommt. So schon gar nicht. – Alle drei Jahre war einer dabei, bei dem ich dachte: Okay, so wie der!

Vorbilder waren für mich immer wichtig, wie du siehst. Wir lernen im sozialen Kontext ...

Gut, wenn man sagt, am meisten lernt man an Vorbildern, was kann dann eine Ausbildungsstätte wie unsere, die PH, bieten?

Was die Lehrerausbildung angeht, so bin ich, ich gebe es zu, etwas erschüttert. Inzwischen geschieht ja sehr viel im Selbststudium. Bei den einen Studierenden ist das fruchtbar, bei andern weniger: Im sozialen Kontext würden sie wesentlich mehr lernen. Und das Zweite: In allen meinen Praktika, in der Primarlehrerausbildung, aber auch später bei der Ausbildung zum Allgemeinbildungslehrer, habe ich sehr viel von erfahrenen Lehrpersonen gelernt. Und diese Praktika sind ja zurückgefahren worden. Aber die Dinge, die ich bei älteren Lehrern gesehen habe, nicht nur das Gute, auch Fehler, davon habe ich profitiert. Die Lehrerausbildung ist heute wohl etwas zu kognitiv – obwohl bekannt ist, dass eine wichtige Basis des Lernens Emotionen sind.

An der PH Zürich sind die Praktika ja wichtig und machen rund ein Viertel der Ausbildung aus ...

Bei mir war es noch so: In diesem ganzen Ausbildungsjahr waren wir jeweils einen halben Tag pro Woche zu dritt bei einem erfahrenen Praktikumslehrer, erst sahen wir ihm beim Unterrichten zu, dann mussten wir selbst Unterricht erteilen. Du konntest also beobachten, wie der erfahrene Lehrer unterrichtete, aber jeder stand auch in Konkurrenz mit den Kollegen, mit denen man die Stunden vorbereitete. Das war das Laboratorium des Denkens und Handelns. Heute machen zwar viele Leute ihr Studium berufsbegleitend, aber nach meiner Auffassung werden sie dabei selbst zu wenig begleitet.

Das andere, was für mich nicht aufgeht, ist die Frage der Weiterbildung. Meine ganze Berufslaufbahn hindurch habe ich Weiterbildungen besucht, so ging meine Ausbildung ständig weiter. Die Weiterbildungspflicht ist heute aber, zum Teil aus finanzpolitischen Gründen, auf ein Minimum heruntergefahren worden. Aber es kann doch nicht sein, dass jemand zwanzig, fünfundzwanzig Jahre lange unterrichtet, höchstens da mal einen Kurs, dort mal einen besucht. Auch da besteht die Gefahr eines Burn-outs: wenn man sich nicht weiterentwickelt.

Sind die Lernenden eigentlich anders als früher?

Sicher sind sie zum Teil anders, sie haben ja auch andere Lebensaufgaben zu lösen. Aber als Jugendliche, als junge Menschen sind sie uns eigentlich sehr ähnlich. Sie beschäftigen sich nur mit anderem, es zeigt sich nicht mehr auf die gleiche Weise.

Als ich 1972 mit dem Unterrichten begann, waren wir mit dem Problem konfrontiert, dass einige Klassen in die Beiz zum Mittagessen gingen und dann mit drei, vier Bier im Kopf zurückkamen. Ganze Klassen kamen leicht alkoholisiert von der Mittagspause. Heute sind sie vielleicht bekifft. Alkohol spielt zwar immer noch eine Rolle, aber in einem andern Mass und anderer Form. Heute geht es darum, dass sich einige am Wochenende oder auf Exkursionen sinnlos betrinken – die bekannten Vorfälle mit Klassen, die ausser Rand und Band geraten.

Es hat immer Wellen gegeben, Dinge, über die sich die Lehrer erregten. Einst war es das Kaugummikauen, dann kamen die langen Haare, jessestroscht, man verlangte von den Stiften, dass sie Haarnetze trugen, weil sich sonst ihre Haare in den Spindeln der Drehbank verfingen, dann kamen die Rollerblades, Stifte, die mit den Rollschuhen im Atrium rundherum fuhren, und die Lehrer drehten im roten Bereich. In der letzten Zeit waren es die Chäppi, die einen tragen sie links, die andern rechts, die dritten verkehrt rum, und das Allerletzte, worüber sich die Lehrer unheimlich aufregen, sind natürlich die Handys. Immer kam wieder etwas Neues, was zum Kristallisationspunkt der Empörung wurde.

Wie warst denn du als Jugendlicher?

Bei uns brauchte es nicht viel, um den Vater in die Sätze zu bringen. Er hörte «Hoch- und Deutschmeisterkapelle» oder Wiener Walzer, ich hörte Louis Armstrong und Presley, das reichte schon. Wenn ich Elvis hörte, rief der Vater, ich solle diese Negermusik abstellen.

Oder es kamen die ersten Jeans auf, und ich ging mit meinen in den Brunnentrog, damit sie eng wurden, auch das reichte schon. Oder wenn die Haare die Ohren noch halb bedeckten. Es brauchte wenig, um sich von der letzten Generation abzuheben. Aber ich war eigentlich nicht sonderlich aufmüpfig, 1968 ging mehr oder weniger an mir vorbei. Ich musste zusehen, dass ich meinen Job machte, ich war schliesslich Lehrer.

Als ich im Oberseminar war, besuchte ich in Bern diese Kellerlokale, wo Sergius Golowin oder Walter Vogt ihre Lesungen hielten. Und im Junkernkeller diskutierten wir nächtelang über gesellschaftliche Veränderungen, was für mein Leistungsvermögen nicht grade förderlich war.

Aber ich war eher angepasst. Mit vierundzwanzig habe ich geheiratet, wir hatten zwei Kinder. Auch die Berufsschule hielt mich in Bahnen. Wenn ich allerdings zurück ins Dorf kam, fühlte ich mich schon ziemlich progressiv.

Und dann doch dein Engagement, zum Beispiel für die Attestlernenden, woher kam das?

Es gibt drei Gründe. Der eine ist, dass ich nicht aus einem behüteten Milieu stamme, ich weiss, wie es in einer Familie zu- und hergehen kann. Das Zweite: Ich interessiere mich für die Frage, warum es bei einem Einzelnen falsch läuft, warum er nicht versteht, nicht lernen kann. Das Dritte ist das Gesellschaftspolitische: Wir haben neunzig Prozent Sekundarstufe-II-Abschlüsse und sprechen von fünfundneunzig Prozent, die wir 2015 oder 2020 erreichen wollen. In der Schweiz haben wir zwar himmlische Zustände, verglichen mit Deutschland (von anderen Ländern gar nicht zu reden). Aber wir müssen achtgeben, dass es so bleibt.

Die zweijährige Grundbildung hat einen eminent politischen Auftrag. Alles, was wir in diese Jugendlichen hineinstecken, ist gut investiertes Geld. Jugendarbeitslosigkeit wie in Griechenland, Italien, teilweise in Frankreich oder auch Deutschland – das führt zu gesellschaftspolitischen Problemen. Schon aus Vernunftgründen muss man also viel in dieses Segment stecken.

Dazu braucht es auch sozialpolitische Einsicht ...

Bei uns zu Hause war oft ein solches Durcheinander, dass ich gar nicht lernen konnte. Und dass ich mich mit Migrationsfragen beschäftige, ist auch kein Zufall. Ich bin ja Migrant in dritter Generation, ich habe erlebt, was Migration bedeutet. Mein Grossvater ist über Mailand, Savoyen und die Westschweiz ins innere Emmental gekommen, hat dort eine Frau kennengelernt. In der Strasse, in der wir wohnten, waren alles Handwerker, Migranten der ersten oder zweiten Generation, Marazzi, Prato, Peverelli, Grassi ... Bauhandwerker aus Norditalien. Wir wohnten alle dort an dieser schattigen Strasse. Mein Grossvater war noch ein Aussenseiter, mein Vater hat sich herangekämpft, und mein Bruder, der im Dorf geblieben ist, hat es schliesslich zum Gemeinderatspräsidenten gebracht. Drei Generationen hat es gebraucht, um sich zu integrieren. Mein Vater wäre nie in den Gemeinderat gewählt worden, das wäre völlig undenkbar gewesen. Und mein Grossvater konnte noch zu wenig gut Deutsch, der hätte sich auch nicht einfach integrieren lassen.

Anderen fehlt dieser Hintergrund, sie sind nicht durch die eigene Geschichte sensibilisiert. Aber ein grosser Teil der Berufslernenden hat einen solchen Hintergrund, wir haben schon davon gesprochen – vielleicht liegt er nicht einmal so weit zurück wie bei dir. Vielleicht sind die Eltern Migranten ...

Leider ist das ein Thema, mit dem sich die Profis ungern beschäftigen, wie schon gesagt. Es ist eine Art «Unthema». Das ist wohl nicht berufsbildungsspezifisch, das hat auch mit den ganzen politischen Konstellationen zu tun.

Auf der andern Seite gibt es Migrationsthemen, bei denen alle diskutieren und sich ereifern, Minarette, Kopftücher ... Wir sind uns ja nicht einmal bewusst, wie viele «Migranten» wir in unserer eigenen Sprache haben, Tasse, Kaffee, Karaffe usw., alles Wörter aus dem Arabischen ...

Meine letzte Klasse hat mir erklärt, warum man die Minarett-Initiative annehmen müsse. Aber sie essen am Mittag einen Döner, am Abend Pizza … Unter den Jugendlichen selbst gibt es auch Ausländerfeindlichkeit, nicht nur Schweizer gegen Immigranten, auch unter Migranten ... Portugiesen, die Jugos beschimpfen und umgekehrt. Manchmal gibt es wirklich schwierige Klassenkonstellationen, in denen auch Spannungen entstehen. Wenn du es aber thematisierst und wenn es dir gelingt, das Thema auf eine menschliche Ebene zu holen, dass sich die Einzelnen begegnen, dann kann es klappen. Solange es auf einer ideologischen Ebene bleibt, ist es schwierig.

Es heisst ja oft, man müsse mit jeder Klasse Regeln aufstellen, möglichst kooperativ, weil es dann besser funktioniert. Aber was, wenn die Regeln nicht eingehalten werden? Wie sanktionierst du, welche Mittel hast du überhaupt?

Ich habe nie im Voraus Regeln aufgestellt. Wenn etwas vorfiel, sagte ich: Das geht hier nicht, begründete und fragte: Habt ihr einen Vorschlag, wie man das regeln kann? Dann wurde die Regel mit der Klasse diskutiert. Und das Ergebnis habe ich aufgeschrieben. Das musst du dann aber wirklich handhaben. Die Jugendlichen werden auf jeden Fall versuchen, die Regeln zu brechen. Das ist ihr gutes Recht: schauen, ob die Regel gilt. Dann musst du eben dafür sorgen, dass sie gilt. Du musst die Jugendlichen damit konfrontieren, dass sie eine Regel gebrochen haben. Meistens gab ich den Ball einfach zurück und fragte: Was würden denn Sie nun tun? Wie wollen Sie das nun wieder hinbiegen? Die meisten Jugendlichen sagen dann irgendwas mit Bestrafen.

Manchmal sagte ich ihnen auch, dass sie vom Lehrbetrieb bezahlt würden, in die Schule zu kommen, aber sie würden nicht das kalte Wasser verdienen – und schickte sie auch mal zurück in den Betrieb. Wenn einer ständig ohne seine Sachen, sein Material zur Schule kommt und du das als Lehrer akzeptierst, hast du schon verloren. Du sagst also zum Beispiel zu einem Maler: Hallo, wenn Sie zur Baustelle gehen, ohne Pinsel und Farbe, können Sie dann Ihre Arbeit machen? Genauso ist es in der Schule. Hier brauchen Sie die Bücher, Schreibzeug usw., wenn Sie das nicht dabei haben, können Sie hier nicht arbeiten, also gehen Sie zurück in den Betrieb. Das haben sie immer akzeptiert, ich musste nie jemanden handgreiflich aus dem Klassenzimmer bugsieren.

Es gibt wohl Lehrer, die Flexibilität mit Deformierbarkeit verwechseln. Du musst natürlich flexibel sein, es ist ein Tanz auf Messers Schneide, aber du darfst dich nicht deformieren lassen.

Was braucht es denn sonst noch, um ein guter Lehrer zu sein?

Organisatorische Zuverlässigkeit. Du kannst nicht Hausaufgaben erteilen, und beim nächsten Mal weisst du nicht mal mehr, dass du sie aufgegeben hast. Viele scheitern am Organisatorischen, das ist nicht banal, wenn du sieben oder acht Klassen unterrichtest. Du musst dich daran erinnern, was du wo schon erzählt hast, wo du in jeder Klasse stehen geblieben bist, und das heisst auch Nachbereitung, Aufschreiben, Planung.

Die Schüler bemerken sehr genau, ob du vorbereitet bist. Ob du das Vorbereitete immer exakt so durchführen kannst wie geplant, ist eine andere Frage.

Ich hatte einen Kollegen, mit dem die Schüler buchstäblich machen konnten, was sie wollten, sie liessen ihn turnen. Er sagte zum Beispiel: Frau so und so, Sie schulden mir noch eine Arbeit; sie wusste zwar, dass sie die Arbeit nicht abgegeben hatte, aber sie wusste auch, dass der Lehrer turnte, also sagte sie: Oh, die Arbeit haben Sie längst, Sie müssen sie vernuscht haben. Der Kollege musste sich frühpensionieren lassen.

Bei uns galt die Regel: Einmal pro Semester darf einer zu spät kommen, man entschuldigt sich, verschlafen, den Zug verpasst usw., und dann ist gut. Aber die Lehrperson muss sich erinnern, dass es schon mal vorgekommen ist. Du brauchst ein System, das absolut zuverlässig ist, sonst bist du nicht glaubwürdig. Auch das hat mit Organisation zu tun.

Dabei kannst du von Jugendlichen nichts verlangen, was du selbst nicht einhalten kannst. Wenn du selbst nicht zuverlässig bist, kannst du Zuverlässigkeit, Termintreue usw. von ihnen genauso wenig verlangen.

Auch in solchen Dingen hat der Lehrer eine Vorbildfunktion.

Was ist das Schwierigste, was man als Lehrer erlebt?

Wenn ein tödlicher Unfall passiert. Oder wenn man einer Klasse sagen muss, dass einer ihrer Kollegen Selbstmord begangen hat. Das habe ich dreimal erlebt. Beim einen hatte niemand vorher etwas geahnt. Der Lehrmeister fand ihn im Labor, er hatte sich mit Zyankali umgebracht. Eine junge Frau aus ländlichen Verhältnissen, Bauerstochter, nahm Schwefelsäure, aus Liebeskummer, und einer brachte sich um, weil er eine unheilbare Krankheit hatte. – Das sind die wirklich schwierigen Dinge. Der Tod ist für Jugendliche ja kein Thema, wird es erst in solchen Momenten. Heute bekommen Lehrer professionelle Hilfe, das ist aber erst seit zehn oder fünfzehn Jahren so.

Auch der Umgang mit Jugendlichen mit Problemen ist eine grosse Herausforderung. Wir sind ja keine Therapeuten; es braucht ein Netz von Stellen, an die du sie verweisen kannst, und ein solches Netz musst du dir als Berufsschullehrer erst aufbauen. Aber auch Dranbleiben, Nachhaken ist wichtig. Ich hatte einmal eine junge Frau in meiner Klasse, die magersüchtig war. Ich teilte ihr meine Beobachtungen mit. Erst stritt sie ab, ich sagte, okay, mag sein, dass ich mich irre – sind Sie einverstanden, wenn ich auch den Turnlehrer frage, was er meint? Eine Woche später sagte ich zu der Frau: Ich möchte, dass Sie zum Hausarzt gehen und das abklären ... Dann und wann fragte ich nach. Drei Monate später sagte die junge Frau: Jetzt war ich beim Hausarzt. Sie hatten recht ... Der Arzt konnte sie an eine Fachstelle im Inselspital verweisen.

Das ist ja wohl das Schwierige: ansprechen – und dass sie dann nicht einfach abwehrt, sondern sich einlässt. Das setzt voraus, dass Beziehung besteht ...

… ja, aber auch, dass sie letztlich selbst entscheiden kann, ob sie auf deine Ansprache eingehen will. Es ist alles eine Frage des gegenseitigen Respekts.

«Ein nährender Beruf» - Mine Dal


«Ein nährender Beruf»

Mine Dal, promovierte Germanistin, Übersetzungswissenschaftlerin, Lehrerin für Allgemeinbildung an der Berufsschule für Gestaltung, Zürich

Mine Dal kam 1999 von Istanbul nach Zürich. Nicht aus politischen Gründen, wie sie betont: «Ich wurde weder gefoltert noch verfolgt – der Grund ist einfach: die Liebe.»

Nach verschiedenen beruflichen Stationen in der Schweiz, als Kulturmanagerin, als Leiterin der Abteilung «Deutsch als Fremdsprache» an einer Fachhochschule, als Lerntherapeutin in einem Schulheim, stieg sie 2007 in die Berufsbildung ein und beschloss, sich an der Uni Zürich zur Lehrerin für allgemeinbildenden Unterricht (damals noch ein Master-Studium) ausbilden zu lassen.

Mine Dal ist auch eine begabte Fotografin. In ihrem derzeitigen Langzeitprojekt porträtiert sie Menschen an der Südwestküste der Türkei, vor allem das Leben der Bootsbauer, Imker und Olivenbauern.

In Istanbul hatte sie Germanistik und Kunstgeschichte studiert und dann zunächst eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Sie arbeitete als Dozentin an der Istanbuler Marmara-Universität und spezialisierte sich im Bereich der Übersetzungswissenschaft. Mit einer Arbeit zum Thema «Verständlichkeitsorientierte Textoptimierung bei der Übersetzung von Gebrauchsanweisungen» hat sie auch promoviert. Dieser Hintergrund, der Sinn für die Verständlichkeit von Texten, nütze ihr jetzt noch im Unterricht, fast täglich greife sie auf den Erfahrungsschatz aus jener Zeit zurück, wenn sie ihre Arbeitsblätter gestalte oder mit der Klasse einen Text angehe. Mit Fachwissen sei es ja nicht getan, aber auch mit Methodik und Didaktik allein nicht. Wenn man «zusätzliche Pfeile im Köcher» habe, sei das sehr hilfreich.

На страницу:
3 из 7