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Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
Dann der fade, taubmachende Geschmack des Schnees am Fausthandschuh: auf der Schlittschuhbahn oder beim Endspurt des Fünf-Kilometer-Langlaufs. Die Loipe verlief rund um eine Gaspumpanlage, die durch eine Rohrleitung die Rülpser aus dem Erdinnern von Urengoi nach Uschgorod jagte. Die ganze Schulzeit über heulte in der Anlage ununterbrochen eine schwermütige Trauersirene. Im Sommer war dieses Geräusch eine gute Orientierungshilfe, wenn jemand Pilze oder Beeren sammeln gegangen war und sich verirrt hatte. In der Anlage hatte es einmal einen Zwischenfall gegeben, bei dem zig Hektar Wald abgebrannt waren. Um die trostlose Brandstätte zogen sie nun ihre monotonen Kreise. Mitten in dem verschneiten Zauberwald schürte dieser riesige Aschekrater eine untergründige Angst. Unbemerkte Geister totgeborener Hoffnungen, frühgeborene Ideen, die sich ins Leben drängten, streunten zum wehmütigen Geheul der Turbinen durch die dichten Staketen der verbrannten Stämme. Damals wusste Koroljow nicht, dass die Sache in der Grenzstadt Uschgorod noch nicht erledigt war, dass die donnernde Ladung der Anlage weiter durch die Rohre raste – nach Warschau, Prag, Berlin, Belgrad, Dubrownik, Triest, Venedig – und sich als gelb-blaue Seerosen an den Herdringen in Wohnungen und Palazzi ausbreitete und über Töpfen, Schmorpfannen und Kaffeekochern duftende Dämpfe entließ, die sich auflösten über der Lagune, über den Kanälen und Plätzen des »aufgeblähten Croissants«*, der »ertrunkenen Schönen«*. Der Zivilisation.
XXXIV
Die Bö des großen Umbruchs trübte Koroljows Jugendjahre. Das schmutzige Hellblau ihrer Wände zog sich über ihm zusammen wie der düstere Himmel über einem leeren Rettungsboot.
Manche Erinnerungen brannten. So wie die Handflächen, wenn man im Tarzanflug am Seil von der Turnhallendecke hinabschießt.
Das Klirren eines zerbrochenen Kreidestücks.
Das Poltern der Schulbänke.
Das Dröhnen der Klingel.
Das Feuerwerk.
Das Feuerwerk wurde auf einem unbebauten Gelände abgeschossen, in den Flussniederungen des Setun, wo es eine spezielle Betonbrüstung für Salvenwerfer gab. Sie rannten dicht an die Brüstung. Sahen das Zeichen des Kommandanten. Schauten hoch, dem jaulenden, senkrecht emporschießenden Stängel hinterher, an dem nach kurzer Pause strahlende Astern erblühten, die wie das Fangnetz eines Gladiators ein leuchtendes Spinnennetz in den weiten Himmel warfen. Direkt nach dem Aufblitzen musste man sich hinhocken und die Hände auf den Hinterkopf legen, damit man keine Papphülsen abbekam. In der Nähe bauten sie sich im Frühling oberhalb des Setun Baumhäuser – Laubhütten auf Bretterbohlen, die sie an den Ästen geeigneter Weiden befestigten. Dort alberten sie herum, setzten sich angekokelte halbrunde Saluthülsen als Kippas auf, büffelten Landawschitz Band eins*, knackten die Aufgaben für die Aufnahmeprüfung an der Fakultät für Mechanik und Mathematik, plagten sich mit stereometrischen Übungen aus dem Lehrbuch für Physik und Technik, spielten Préférence, rauchten, lasen Salinger, übten sich an einer Art Gravizap* oder starrten einfach nur in den riesenhohen, leeren Himmel, der sie anlockte wie die Zukunft oder eine entblößte Jungfer.
Oft dachte Koroljow über Folgendes nach: Seine Kommilitonen waren alle ungefähr Jahrgang 1970. Dank der historischen Umstände hatten sie das Denken in einer Zeit gelernt, als es fast nichts zu denken gab, oder besser gesagt, als man keine Zeit dafür hatte: Die Flutklappen des Gefangenenschleppers standen offen, die Mannschaft war von Bord gegangen und hatte kein Rettungsboot dagelassen. Menschen, die um 1970 geboren sind, unterscheiden sich von denen, die man unter normalen Umständen Altersgenossen nennen würde. Nach Dreißig verflüchtigt sich der Unterschied zwar langsam, doch noch ein paar Jahre zuvor waren Menschen Jahrgang 1967 oder 1973 entweder »noch nicht wie sie« oder »nicht mehr so wie sie«. In der Jugend nimmt man ungeheuer beschleunigt Eindrücke und Gedanken auf, die Zeit vergeht langsamer, da sie vor Leben trieft, als befände man sich in größter Gefahr. Daher, so überlegte Koroljow, hatten sie sich zwischen 18 und 20 auf dem Kamm eines Tsunamis befunden, von dem man jetzt weiß, was er umgestürzt hat. Ihre Entwicklung vollzog sich parallel zu dieser turbulenten Zeit, sie waren das erste Gelalle der Epoche – und obwohl sie den Umwälzungen keine Beachtung schenkten, warfen sie doch unwillkürlich einen Blick darauf, betrieben Selbstreflexion und konnten, im Unterschied zu den anderen, das in der Ferne erkennbare Ufer – waren es Felsen, war es das Paradies? – und den tristen, unerreichbaren Horizont freier überblicken. Mit anderen Worten, sie hatten einen einmaligen Bewegungsvektor: entlang der Welle. Ob sie wollten oder nicht, sie projizierten die Entwicklungen und die Zerstörung der Umgebung auf ihre eigene Entwicklung. Insofern konnte man damals durchaus sagen, dass ihre Lebensjahre im gleichen Tempo dahingaloppierten wie die Inflation. Gerade weil die Epoche, die sie hervorgebracht hatte, ihrem Wesen nach destruktiv war, hätte er früher nie gedacht, dass von seiner Generation jemals etwas Bemerkenswertes zu erwarten sei. Koroljow dachte, dass er im besten Fall ein guter Beobachter sei und seine Bestimmung offensichtlich einzig in einer genauen phänologischen Selbstanalyse liege. Doch insgesamt erwies sich die Schaffenskraft dann als genauso stark wie die Selbstzerstörung. Die Freiheit hatte sie entschädigt. Wenn er sich jetzt umschaute und Bilder, Taten und Strömungen betrachtete, so wurde Koroljow klar, dass ein erheblicher Teil des wenigen Guten im Land das Werk seiner Generation war.
Daher würgte ihn die Leere wie ein Krampf und stieß ihm bitter auf.
Rundherum sah er nur Angst. Sah sie mit eigenen Augen, überall. Dachte zunächst, dass dies seiner Einsamkeit geschuldet sei, dass sich der unbewusste Teil seiner Seele einfach langweile und im Aussichtslosen Schmerz suche. Doch bald merkte er, dass das alles nicht so einfach war.
Trotz der völligen Sicherheit, trotz der totalen Abwesenheit äußerer Bedrohung, trotz der endgültigen Unmöglichkeit des Weltuntergangs, der die ältere Generation auf Trab gehalten und der jetzt futsch war, hatte sich überall Angst ausgebreitet. Nackt stand die tägliche Angst in den Augen der Menschen, rundum erstarrte die Angst zu Sülze, sie zitterte wie eine wabbelige, zähe, luftleere Masse. Die Menschen – schon abgestumpft gegen die Verelendung, gegen die qualvolle alltägliche Vergeblichkeit – fürchteten sich, man wusste nicht wovor, aber sie taten es heftig und voller Unruhe. Es regierte das Angsterhaltungsgesetz. Sie fürchteten keine entfernten Instanzen, keine abstrakten Machtstrukturen, sondern den konkreten Alltag, konkrete Verkehrspolizisten, konkrete Niedertracht, konkrete Demütigungen und Übergriffe. Aber es war nicht einfach nur Furcht. Durch diese irdischen Ängste drang ein gewaltiger Strom unfassbaren Grauens. Vor einem war Leere, unter den Füßen war Leere, jeglicher Glaube an die Zukunft ist in der Gesellschaft – und erst recht bei den Mächtigen – längst flöten gegangen. Nur noch Gott schert sich um dieses Land. Und bei allen Versuchen, sich an Ihn zu wenden, stürzen die Menschen in die Leere des Aberglaubens.
Wadja
XXXV
Er liebte sie zwar, behandelte sie aber absichtlich grob. Er war überzeugt, dass es nicht in die Tüte kam, seine Frau zu verpimpeln!
Ob ihrer Wortkargheit nannte er sie liebevoll Stummchen.
Manchmal ging er mit ihr Hand in Hand.
Oder er sagte, scherzhaft seinen Gefühlen Ausdruck gebend:
»Blöd, dass du bekloppt bist, sonst würd ich dich glatt heiraten.«
Zwar war er grob und bisweilen grausam zu ihr (das eine wie das andere in Maßen), konnte aber nicht ohne sie. Wobei ihre Hilflosigkeit sein seelisches Wohlbefinden noch steigerte. Für ihn war es, als gäbe ihm der physische Defekt seines Kindes das Vergnügen eines kleinen Zubrots.
Aber er hatte auch keine Angst, sie zu verlieren. Er war nämlich zu dem Schluss gekommen: Weib oder kein Weib, das ist Glückssache. Glück wiederum ist Schicksal – und das Schicksal ist ’ne Sau, die als Kotelett in der Pfanne landet, wie Skorytsch zu sagen pflegte.
Im Großen und Ganzen[51] hatte Wadja vor gar nichts Angst. Seine Furchtlosigkeit war nicht Folge von Schlamperei, sondern von Erfahrung: Er wusste genau, dass man Verstümmelung fürchten musste, aber nicht den Tod. Das Einzige, wovor er Angst hatte, war ausgedachtes Zeug. Wadja hatte Angst vor den Träumen von einem Vater, den er gar nicht hatte.
In diesen Träumen passierte beinahe nichts, ja, es gab auch keinen Vater. Der trat dort weder als Figur noch als Handlung in Erscheinung. Die Relevanz des Vaters war größer als seine physische Anwesenheit: Er war die Quelle.
Die Träume handelten alle vom Unterwegssein und begannen am Straßenrand. Wadja sah den Vater nicht, bekam aber von ihm irgendwie, wie einen Brotkanten, einen Klumpen Schwermut gereicht und die Aufforderung, diesen Ort zu verlassen und sich aufzumachen. An diesem Platz am Wegesrand, eine mit Ziegelsteinen eingefasste, tiefe Feuerstelle mit Holzgestänge und eine Bank aus einem Brett und zwei Holzblöcken, die hinter den Büschen nicht zu sehen und von der windigen Weite des Feldes durch ein kleines Waldstück abgetrennt waren, hatte der Vater einst gelagert. Bevor Wadja sich auf den Weg machte, besah er sich den Platz und packte Gegenstände ein, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Die Suche nach wertvollen Gegenständen war noch das Erträglichste an dem Traum. Wadja lief umher, begutachtete den Müll am Straßenrand, hob hin und wieder etwas auf und betrachtete es. Mal war es ein Fächer aus vier verrosteten Belka-Taschenmessern, an denen sprechende Fischköpfe festgetrocknet waren, sie waren unglücklich, hatten perlmutterne Wangen und flüsterten: »Wind, Wind, Wind …« Mal kramte er aus dem Wust von Laub plötzlich ein gleichzeitig heiles und zerbrochenes, doch irgendwie nicht auseinanderfallendes Porzellanmädchen hervor. In ihrer hohlen Ferse rollte klirrend eine Schrotkugel, mit der er aus einem Luftdruckgewehr das Figürchen zerschossen hatte. Mal war es ein Plüschbär mit abgerissener Nase, der ein hicksendes Gejaul von sich gab. Bei diesem jämmerlichen Gejaul begann die vom Vater überreichte Schwermut zu würgen, in die Augen traten Tränen. Mal kam aus einer alten Waschmaschine (so eine mit einem sternförmigen Schaufel-Agitator aus Hartgummi und knarzenden Schleuderwalzen) ein altes japanisches Radio zum Vorschein. Säurepulver ausgelaufener Batterien rieselte heraus, den Sender stellte man mit einem Drehknopf ein, der sich sanft unter der Daumenkuppe dahinbewegte. Foxtrott und Dixieland spritzten heraus, sprangen ins Ohr, und er legte das Gerät vorsichtig auf den Boden des Rucksacks. Das letzte Fundstück war immer eine zerlegbare Holzflöte. Er nahm sie aus einem kaputten Kasten, die Teile ließen sich mit einem Schnappverschluss zusammensetzen – Wadja blies versuchsweise hinein und ging dann im Kombinieren der Töne vollkommen auf. Seine Improvisation dauerte lange, er spielte voller Hingabe, der Klang flog auf wie ein beseelter Gedanke und wurde zur Fortsetzung seines Fleischs, bis er plötzlich stutzte, wie flüssig die Musik aus ihm herauskam, obwohl er doch im Wachen gar nicht spielen konnte. Sogleich verlor er die Zauberkraft und überblies fies: Ein enormes Dröhnen schlug aus dem Schalltrichter, ohrenbetäubend, beängstigend, es durchdrang und erschütterte das Innere, verlegte die Ohren. Und nun folgte Wadja völlig ertaubt der Aufforderung, sich auf den Weg zu machen.
Der Rucksack war voll und ragte hinter seinem Rücken auf. Ein Rucksack voller Leben, all seinen stroboskopischen Momenten, seiner ganzen Dinglichkeit, Scheinbarkeit, Qual, Dummheit, Bosheit, Leere, Wärme – dieser ganze myriadische Kosmos aus Müll türmte sich hinter seinen Schultern, zog sich als Schleppe, schepperte, klapperte, sang und schlurrte dahin. Er lief damit am Straßenrand entlang, voller Bedauern passierte er Haltestellen, weil ihm klar war, dass ihn mit einer solchen Last kein Bus mitnehmen würde. Lkws warfen holpernd zerschlagene Ziegelsteine vom Anhänger ab, jagten höllisch vorbei und lösten Druckwellen aus. Der Rucksack vergrößerte die Segelfläche, und Wadja wurde zur Seite geblasen wie eine Feder.
Gelegentlich tauchten am Straßenrand Berge auf. Der Pfad wurde immer steiler, er wunderte sich schon, wie leicht er mit einer solchen Last auf dem steilen Weg fertigwurde. Da stemmte sich ihm der Abhang plötzlich fast in die Brust, und er schwenkte, auf der Suche nach einem Ausweg, auf die Fahrbahn um, die nicht ganz so jäh anstieg, sondern ein sanftgeneigtes Bett in den Hügel schnitt.
Die Träume endeten alle gleich.
Wadja stieg den Steilhang hinab zur Straße, die jetzt als Fluss weiterlief, sich dann zu einem Meer ausweitete, der hohe Rucksack warf ihn auf einem Hubbel plötzlich nach hinten, er landete im Wasser und schwamm langsam an der Klippe entlang, die immer höher im Himmel entschwand.
Oben auf der Klippe stand der Vater und beobachtete, wie sein Sohn schwimmen lernte. Wadja gab sich große Mühe zu schwimmen, obwohl ertrinken einfacher gewesen wäre. Jeder neue Zug war ihm eine Last – bald jedoch fror das Meer zu, nun schwamm er nicht mehr, sondern brach sich durch das immer dicker werdende Eis, schaffte mit Mühe, sich einen Weg freizustoßen. Er wollte, dass der Vater ihn am Rucksack packte, am Schlafittchen, so gut er konnte, ihn emporschwang, einfing, rettete.
Aber dem Vater gefiel nicht, wie sein Sohn schwamm, und da verließ er Wadja.
Er winkte einfach und trat von der Klippe weg, dann schritt er, riesig und unsichtbar, über das kahle Feld in den silbernen Wald. Es war Spätherbst, der bei jedem Schritt glitzernde Reif bedeckte das vertrocknete Gras, die Stämme und Äste.
Geschickt wie ein Tier erklomm der Vater eine Kiefer, bis zum Wipfel, band ein Seil fest, steckte die Füße durch die Schlinge und stürzte sich hinunter.
Und Wadja blieb unten, eingefroren in das weiße, funkelnde Eis, das sich schon in stacheligen Eisblöcken aufs Ufer zubewegte und den Horizont aufbäumen ließ.
Hinter dem Wald ging die Sonne unter und ließ langsam ihre Strahlenbündel durch die Baumstämme blicken.
Die Leiche des Vaters drehte sich ein wenig hin und her, bog sich, rauschte, schälte mit der Wange durchsichtige Schuppen vom Stamm.
Eine glänzende Krähe kreiste aufmerksam über dem Feld, segelte dicht über dem gefrorenen Acker, besann sich plötzlich, trudelte im Zickzack hinüber zum Wald und setzte sich auf das aufgeklappte Kinn.
Reglos starrte sie auf den dunkelnden Horizont.
Und plötzlich hackte sie, eins ums andere, die Augen aus.
R. W. S. N.* – Revolution, wir schlafen nie
XXXVI
»Redste jetzt oder nicht?«
»Ja.«
»Schubs doch nicht, hör auf.«
»Du lieber, lieber Keerl …«
»Ich hau dich, Nadja!«
»Hör auf, du bist doch lieb.«
»Wie kommste denn drauf, dass ich lieb bin, Dummerle? Wie heißen se noch … die Tannen da bei dir? Zypressen?«
»Ja. Meer. Zypressen. Ein Flugzeug stand auf der Straße. Uuuuhhhh.«
»Nun hör doch auf zu schubsen. Was hampelste so rum?«
»Laaasss miiich. Wann schenkste mir Glasperlchen?«
»Was willste mit Glasperlchen? Verstreust doch alles, verliersts.«
»Nee, ich werd was mit nähen. Und schenk mir doch Knöpfe.«
»Jetzt lieg doch endlich still, du …«
»Ich werd damit nähen. Ich kauf ein Kissen und näh sie drauf …«
»Von wegen nähen. Ich werd dir was husten, mit deinen Kissen. Red endlich! Erzähl schon!«
»Das Meer … Am Ufer läufste lang, weit und breit …«
»Gleich setzts was, dumme Gans!«
»Am Ufer läufste lang, das Meer singt, Fische liegen da. Riiieesenfische. Sooolche Haauufen! Stiinken wie die Pessst. So Fische habt ihr gar nicht.«
»Nu erzähl schon. Was biste so geknickt?«
»Wie, geknickt? Was meinste, Waadeeenka?«
»Was heulste denn? Flennst rum, na? Warum denn? … Siehste, flennst doch schon wieder! Ist doch alles kein Problem – eins, zwei sind Knöpfe gekauft. Glasperlchen, na die muss man wohl suchen. Aber Knöpfe – hier haste. Komm schon, Dummchen …«
»Wadja, du Lieber, warum? …«
XXXVII
Wadja machte ein Auge auf und kniff es wieder zu. Ein Lichtstrahl schlich an seiner Schläfe entlang und streifte die Wimpern. Im Halbkreis des staubigen, in Sonnenspalten zergliederten Fensters erhob sich der Morgen. Das Fenster ähnelte einem Schaufelrad, das sich mit seinen Platten raschelnd durchs Laub wühlte, und wurde eins mit dem Halbschlaf, tauchte über dem Hauseingang auf, kam über dem Hof, über der Grünanlage ins Rollen und kehrte dann langsam zurück.
Nadja räkelte sich im Schlaf, brabbelte etwas, heftig und aufgebracht, war dann wieder still.
Ohne seine Körperhaltung zu ändern, tastete er nach den Zigaretten. Der Rauch wallte auf, lockte sich, rankte in die Höhe und legte sich als Gaze über die Luke zum Treppenhaus.
Die Asche fiel auf Nadjas Schuh und kullerte unter den Schnürsenkel. Er befeuchtete den Finger, berührte sie, nahm sie auf.
Er blickte Nadja immer an, wenn sie schlief. Wenn sie wach war, wollte er sie nicht so anschauen.
Jetzt versank er in Gedanken: Warum sind Tote schöner als Lebende? Weshalb sind ihre Gesichter, wenn sie nicht mehr durch das Mienenspiel von Wünschen, Ängsten, Freude, Gleichgültigkeit oder Zorn verzerrt sind, so viel klüger, bedeutender, schöner, dass man sie zuweilen gar nicht wiedererkennt? Liegt im Tod etwa die Wahrheit?
Nein, er wusste ganz sicher: Das Leben war wenigstens etwas, jedenfalls mehr als das Loch in einem Gebäckkringel.
Vielleicht verschwinden wichtige Säfte aus Wangen, Muskeln, Stirn und Kinn? Oder wie das Meer bei Windstille besser als bei Seegang, so spiegelt das tote Gesicht den inneren Himmel besser wider?
Wadja kniff die Augen zu, zwang sich dann aber, sie wieder zu öffnen. Er konnte sich Nadja nicht tot vorstellen. Statt ihrer lag vor seinen Augen kein Dummchen, sondern eine fremde Schönheit.
Er schaute aus dem Fenster. Versuchte weiter nachzudenken.
Blöd, dass er sie beschimpft. Blöd, dass er sie anschreit. Und völlig sinnlos, dass er sich deswegen Vorwürfe macht. Dadurch schreit er sie nur noch mehr an.
Wadja hatte keinen Vergleich, doch ihm schien, dass das Nachdenken bei ihm ganz gut klappte. Er glaubte, das lag nicht nur an seinem Kopf, sondern auch an der Geschicklichkeit seines ganzen eher kleinen Körpers und der großen Hände, die er wie versuchsweise an die Stirn hob und zur Schläfe führte. Es war schwer auszudrücken – bemüht, noch ein bisschen weiterzudenken, bewegte er versuchsweise die Lippen, als würde er mithelfen, einen daran festklebenden, schwerelosen Fussel auf die Zunge zu saugen. Das Denken begann für ihn immer mit etwas, das gerade zur Hand war, und entwickelte sich über den Zusammenklang des Körpervolumens mit seiner direkten Umgebung, über eine gewisse Reichweitenstrahlung, die dem Körper erlaubte, sich auf Gebiete auszudehnen, die derart entfernt waren, dass dort, am Rand, Rückströmungen der Zeit erfasst wurden. Wadja war der Meinung, dass sich Raum und Zeit nur hier – um Arme, Augen, Beine herum – aneinander rieben. Weiter davon entfernt drückten sie sich vor ihrem Joch, schlugen Kapriolen, die mal in die Kindheit, mal zu den Toten führen konnten.
Den Morgen widmete Wadja stets dem Raumzuwachs. Das Denken, das sich wie eine funkelnde, fließende Blase bewegte, betrachtete er mit Ehrfurcht, als auserlesenes Vergnügen. So nannte er das Denken insgeheim auch: Traum.
Ihm gefiel das Wort an sich, doch sein landläufiger Wesenskern war schwer zu greifen. In seiner Kindheit hatte er oft den Film über einen Motorradrennfahrer gesehen, der auf Silbertraum an den Start ging. Dieses Motorrad raste dann durch eine Kristallkugel und blähte sie durch das wüste Kreiseln auf wie der orkanartige Atem eines Glasbläsers.
Er wunderte sich, wie wenig das, was er dachte, den Worten ähnelte, mit denen er es Nadja hätte wiedergeben können. Die Welt des Denkens stellte sich ihm insgesamt als jenseitig dar, als etwas, das der Wahrheit näherkam, und deswegen ging er sparsam damit um, verpulverte es nicht durch groben Gebrauch.
Zunächst stellte er sich vor, was sie an diesem Tag tun würden. Oder er erinnerte sich an seine Kindheit. Oder er dachte darüber nach, wie unfähig Nadja doch war, wie man ihr etwas beibringen, wie man sie lenken könnte.
Nach dem Sieg beim Motorradrennen war der Fahrer tödlich verunglückt.
Jetzt wollte er pinkeln. Aber er wusste, dass er sich das verdrücken musste, denn wenn er es sich nicht verdrückte, würde er zweimal rennen müssen. Er atmete ein. Und aus. Und zündete sich noch eine Zigarette an.
Er hatte den Eindruck, dass er gleich etwas noch Angenehmeres denken würde, und versuchte, nicht alles auf einmal zu denken, sondern mit zusammengekniffenen Augen ins Sonnenlicht zu schauen. Die Sonne erfüllte die Wimpern, breitete sich zu einem Strahlenring aus. Er blinzelte.
Ja, heute würden sie wieder nach Glasstücken suchen gehen. Klasse!
Vor zwei Tagen hatten sie endlich entdeckt, wovon Wadja immer geträumt hatte: einen Schatz.
Wadja tastete in der Hosentasche nach dem Flakon, rieb ihn am Ärmel. Stellte ihn vor sich hin und konnte sich nicht sattsehen. Das derbe, jodfarben schillernde Glas leuchtete auf. Trübes Licht erfüllte das Fläschchen und zerstreute den Lichtkranz, der sich um den Zigarettenqualm gelegt hatte. Die Flakons aus dem Schatz waren bunt – weiß, blau, grün, braun, mit abgenutzten Korken, mit Wappensiegeln, Bildern oder Aufschriften wie APOTHEKE, PHARMACIE. Wahre Kostbarkeiten.
Von klein auf hatte Wadja einen Schatz finden wollen, er sah ihn als Teil eines jenseitigen, verborgenen Lebens. Ums Reichwerden ging es ihm dabei nicht. Wadja hielt die zugängliche Welt für eine Hochburg der Unwahrheit. Er war überzeugt, dass die Wahrheit weit, weit weg war, dass sie wie der Hund begraben lag. Er brauchte weniger den Schatz als vielmehr das helle Bemühen, mit dem er ihn suchte: Wenn er sich auf eine Bank stellte und auf die Vordächer der Hauseingänge schaute, wenn er sich unter Bänke beugte, im Trolleybus automatisch die Hand unter den Sitz führte. Er suchte nichts Wertvolles, sondern schwer Zugängliches, dem allgemeinen Blick Verstelltes, gar Weggeworfenes: Ihn interessierte eine Puderdose, die geborsten und bis aufs blecherne Rund ausgewischt war, oder eine Kinderuhr, die er im Sandkasten auf dem Boulevard aufgelesen hatte – all das betrachtete er lange und stellte sich genau vor, wie der Besitzer des Fundstücks sich freuen würde, darüber, dass ein Teil der Wahrheit zu ihm zurückkehrte. Und legte es dann zur Seite.
Wadja kannte sich mit Müllschätzen aus, im Gegensatz zu Nadja. Sie konnte nicht suchen, hatte kein Interesse an Sachen. Er brummte vergnügt, wenn er etwas Wertvolles fand – noch eine Art, seine zornige Liebe zu stillen …
Vor einem Monat hatte Wadja einen Geistesblitz gehabt[52]. Ihm war klar geworden, dass man Schätze dort suchen muss, wo Erdarbeiten laufen, wo ein Rammbock ächzt, wo ein Presslufthammer kracht, ein Bagger den Bürgersteig schändet, Brecheisen und Schaufel auffliegen, wo ein Kompressor rattert – und Füße sich unsicher über Holzplanken bewegen, über Eisenplatten donnern, ins Rutschen kommen, die Fallmeter erahnen.
Wadja erinnerte sich nebenbei, wie ein Kumpel mal aus dem Graben einer Fernwärmeleitung das Kopfteil eines Bettes herausgefischt hatte; als er das Krönchen von dem Bettpfosten abdrehte, hatte er einen Stapel Silberrubel entdeckt. Und er erinnerte sich an diesen Landstreicher aus dem Dorf Pjatikresty am Fluss Semislawka, nicht weit von Moskau, der sein Haus bei einem Brand verloren hatte. Der Alte hatte erzählt, dass sein Dorf unter Emir Mamai Berühmtheit erlangt hatte, durch sieben Heldentaten von fünf Recken, die einer nach dem anderen auf dem Dorffriedhof die letzte Ruhe gefunden hatten. Dieser Alte hatte erzählt: Als Wasserleute ein Rohr durch seinen Gemüsegarten legten, da hätten sie ein Panzerhemd, einen Helm und einen Unterkiefer ans Tageslicht befördert, und man hätte die Archäologen geholt. Nun fuhr der Alte immer mal in sein Dorf, machte aber um seinen Garten einen Bogen – saß entweder am Fluss oder im Wald auf einer Anhöhe, hatte richtig Angst, sich seiner Heimstätte zu nähern, und hatte sich dort irgendwo eine Erdhütte ausgehoben. Und irgendwann war er verschwunden.
Viele Male hatte Wadja Nadja die Geschichte von den Silberrubeln erzählt, weitergesponnen, ihr gezeigt, wie sich das Krönchen nicht abdrehen ließ, wie der Kollege es klopfte, presste, schmierte, in Petroleum einweichte, im Lagerfeuer zum Glühen brachte, dann schüttelte, hämmerte, schlug und die festgerosteten Münzen hervorholte. Und während er ihr das beschrieb, liefen sie die Boulevards entlang, durch verwilderte Klosteranlagen, Lager, Keller, durch die Altbauten in den kleinen Straßen um die Petrowka, im Derbenjowka- Viertel inspizierte er verwaiste Baracken, auf der Leninskaja Sloboda flohen sie vor der Eisenbahnmiliz. Sie zogen umher auf der Suche nach Stellen, an denen unterirdische Parkhäuser, Unterführungen, Straßentunnel gebaut, Rohre verlegt, Fundamente freigeschaufelt wurden. Hatten sie einen solchen Ort gefunden, warteten sie, bis gegen drei Uhr morgens die Nachtschicht zu Ende war.