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Halbtier
Helene Böhlau
Halbtier
1
Fernes Gewittergrollen verliert sich im lauten Treiben des Menschenstroms, der die schwülen Straßen füllt.
Über dem ganzen überspannten, überbürdeten Menschentum lastet die große Sonnenhitze und die Enge der Gassen, die Höhe der Häuser.
All diese Menschen sind so eingezwängt, wenn sie’s auch nicht klar wissen.
Die Enge der Herzen, die Enge der Köpfe und Gesinnungen, der Höfe und Gänge, die Enge der Stuben, der ganze Brodel in dem sie leben, alles lastet und drückt und macht sie stöhnen und stimmt sie unbewußt sehnsuchtsvoll, unbewußt unzufrieden.
Da kam der erste große, freie Donnerschlag.
Oho!
Darauf ein verdächtiges Schauerlüftchen, das den fettigen, feuchten Straßengesichtern den Staub entgegenbläst.
Alles wirbelt.
Das, was einst lebte und nun als ekler Staub geduldig liegt, beginnt zu tanzen – tanzt und fährt den Lebenden widrig in die Augen und bedrängt sie. Es kommt ein Hasten in die stumpfsinnige Menge, so ein gesundes natürliches Hasten, das der Herdentiere.
Wie sie laufen, als ob sie aus Zucker wären und die schweren frischen Regentropfen an ihnen lecken und sie auflösen würden.Und wie wohl thun diese schweren Tropfen! Auf den glutheißen Steinen geben sie dunkle, thalergroße Flecken und von dem aufgehäuften Staub lassen sie lebendigen Erdgeruch aufsteigen.Blitz und Donner und die schweren gesegneten Tropfen! Wenn die in den Städtequalm hineinfahren, das ist etwas! Ein Hochgefühl zum aufjauchzen!
Und wie wohl thun diese schweren Tropfen! Auf den glutheißen Steinen geben sie dunkle, thalergroße Flecken und von dem aufgehäuften Staub lassen sie lebendigen Erdgeruch aufsteigen.Blitz und Donner und die schweren gesegneten Tropfen! Wenn die in den Städtequalm hineinfahren, das ist etwas! Ein Hochgefühl zum aufjauchzen!
Blitz und Donner und die schweren gesegneten Tropfen! Wenn die in den Städtequalm hineinfahren, das ist etwas! Ein Hochgefühl zum aufjauchzen!
Nur immer ärger! immer toller!
Die braunen Güsse, die durch die Rinnen jagen, die braunen Teiche und Tümpel auf Schritt und Tritt, in denen die Tropfen aufspringen und hüpfen und spritzen!
Das ist lustig.
Und die staubkrustigen Bäume mit dem früh hinsterbenden Laub, wenn in sie die Regenflut rauscht, wenn die nicht wissen, wohin mit dem Überschwall von Frische – da lacht einem das Herz.
Nur immer ärger – immer toller, wenn auch ein paar Äste daran glauben müssen!
Und die Straßen so rein gefegt vom Gesindel!
Das thut wohl!
Da sind sie einmal verscheucht, die Alltagsgesichter!
Hei – wie das schön ist! So sauber, so morgenfrisch!
Wenn sie sich doch so bald nicht wieder herauswagen wollten!
Aber die kommen wieder; ganz gewiß, – das weiß man schon.
*Auf einem alten merkwürdigen Platz, hinter der griechischen Kirche, haben sie eine Fleischbank abgetragen, um eine große Markthalle zu bauen und sind dabei auf menschliche Gebeine gestoßen, – auf eine so große Anzahl von Gebeinen, daß es den Leuten angst und bange wurde.
Auf so etwas waren sie jahraus, jahrein getreten, bei ihren Einkäufen, ihren Spaziergängen und bei manchem Stelldichein.
Gerade an der Straßenecke, in dem dunkeln Winkel, der abends so ungestört, so einladend war, auf dem so viel Generationen heimliche Küsse getauscht haben, hat so ein Großer, Langer gelegen, kaum einen halben Meter unter den Pflastersteinen, so gut noch beisammen, so langgestreckt, und die hohlen Augen gen Himmel gerichtet.
Auf solch einem Grausen hatten die Pärchen also immer gestanden.
Hunderte hatten tagsüber den Platz umlagert und auf das Schauerhandwerk der Arbeiter geschaut.
Die Knochen wurden aus dem dunkelbraunen Sand herausgewühlt und in große Kisten gelegt.
Ein fideler Kapuziner, der zur Beaufsichtigung der Angelegenheit beigegeben war, hatte hin und wieder den Deckel einer Kiste gehoben und schmunzelnd Umschau über seine Schutzbefohlenen gehalten.
Es waren halt auch Kapuziner gewesen, diese braunen Knochen. Der Kapuziner hatte daher etwas ganz Kollegialisches im Verkehr mit ihnen.
„Wir sind vom selben Orden. Ich kenne eure Schliche, Fratres.“
Er wog einen Schädel in der Hand – und schmunzelte. Er wog einen Schenkelknochen und schmunzelte, nahm es, Gott Lob, von der leichten Seite.
Und das alte Bahrtuch, das über jede der großen Kisten gebreitet war, deckte er allemal vorsorglich darüber, wenn wieder ein Schupp Knochen eingeschüttet war.
Ehre, wem Ehre gebührt.
Dabei schmunzelte er nicht, das nahm er ernst.
Die Schulbuben waren wie versessen auf das seltene Schauspiel, und auch die alten Weiber hatten gestanden und gestanden ohne Aufhören. Was thut nicht so ein altes Weib, wenns was zu sehen giebt. Da haben sie Kräfte wie Dämonen.
Die Schulbuben hatten sich um die uralten Sarghenkel gerauft, die hin und wieder zu Tage gefördert wurden, verrostet und wie in eine Schicht von Kies eingebacken.
Es waren Altertümer – wirkliche Altertümer, die Jahrhunderte bei den Toten gelegen – also ganz echt, wahre Schätze.
Über diesen Haufen neugieriger Lebewesen, die sich um die armen Knochen drängten, war das Hochgewitter hereingebrochen.Der erste, große, freie Donnerschlag hatte auch sie überrumpelt, und der mächtige Regenguß sprühte die Menge an und vertrieb sie.Sie waren wie weggewaschen, – auch der Kapuziner und der pflichtgetreue Schutzmann; nur die Knochen unter den zerrissenen triefenden Bahrtüchern blieben über der aufgewühlten Erde, die im Nu zu einem braunen Tümpel umgestaltet war.*Ein Schädel war vom Regenstrom aus dem Sande frei gespült.Er lag mitten im Wassertümpel. Seine Glatze schaute ein wenig darüber hinaus. Die Wellchen spülten um die kleine beinerne Insel.Aus dem Fenster eines großen Zinshauses schaute ein Mädchen auf den eirunden gelblich bräunlichen Fleck.
Der erste, große, freie Donnerschlag hatte auch sie überrumpelt, und der mächtige Regenguß sprühte die Menge an und vertrieb sie.
Sie waren wie weggewaschen, – auch der Kapuziner und der pflichtgetreue Schutzmann; nur die Knochen unter den zerrissenen triefenden Bahrtüchern blieben über der aufgewühlten Erde, die im Nu zu einem braunen Tümpel umgestaltet war.
*Ein Schädel war vom Regenstrom aus dem Sande frei gespült.
Er lag mitten im Wassertümpel. Seine Glatze schaute ein wenig darüber hinaus. Die Wellchen spülten um die kleine beinerne Insel.
Aus dem Fenster eines großen Zinshauses schaute ein Mädchen auf den eirunden gelblich bräunlichen Fleck.
‚Ein Stein‘ dachte sie – ‚oder?‘
Schon lange hatte sie sich am Fenster aufgehalten und hinausgesehen, bald halb knieend, auf dem Stuhl, bald im Stuhl lehnend, die jungen Hände um das Knie gefaltet; bald hatte sie mit den Fingern am Fensterglas leise geklimpert oder eine Lockenspitze zwischen die Zähne genommen und daran geknabbert.
Der kleine feste Kopf mit dem dunkeln Geschau, prächtig frei auf dem schlanken Hals sitzend, war unverwandt auf das geschäftige Wühlen der Arbeiter gerichtet.
Wenn sie da unten wieder einen Fund gethan, ist sie immer mit ganzer Seele dabei gewesen. ‚So etwas! – so ein Glück, die grausliche Geschichte vor dem Fenster zu haben! Wie gut, daß sie hier gemietet hatten!‘
Sie sah so befriedigt aus. Über ihr, am weißen, verwaschenen Fenstervorhang, hängt ein fünffaches Kißchen, eins über dem andern, aus gelbem Atlas, ein Riechkißchen mit Irispulver gefüllt, und dieser trockene Duft berührt mit jedem Atemzug ihre Geruchsnerven.
Das Zimmer, in dem sie sich aufhält, paßt nicht gerade gut zu der verwöhnten hingerekelten Gestalt des jungen Geschöpfes.
Es hat etwas Spießbürgerliches, etwas Verbrauchtes, etwas, aus dem sie herausgewachsen ist.
Es sind da auch zwei Seelen in dem einen Raum zu spüren. Zwei grundverschiedene Seelen, mit grundverschiedenen Angewohnheiten.Das eine schmale Bett mit einem roten, altertümlichen Stück Damastseide zugedeckt, das nach einer Altarverkleidung aussieht; das andere Bett ganz unbedeckt und unsäglich sorgfältig hergerichtet, kein Fältchen, keine Unebenheit. Über diesem Bett hängen Photographien von Familiengliedern, Freundinnen.Ganze Regimenter Kotillonsträußchen sind zu Sternen und Rosetten geordnet, japanische Papierfächer und allerhand Krimskrams, alles wohl abgestäubt.
Das eine schmale Bett mit einem roten, altertümlichen Stück Damastseide zugedeckt, das nach einer Altarverkleidung aussieht; das andere Bett ganz unbedeckt und unsäglich sorgfältig hergerichtet, kein Fältchen, keine Unebenheit. Über diesem Bett hängen Photographien von Familiengliedern, Freundinnen.
Ganze Regimenter Kotillonsträußchen sind zu Sternen und Rosetten geordnet, japanische Papierfächer und allerhand Krimskrams, alles wohl abgestäubt.
An der Wand des Bettes mit der geflickten Purpurdecke ist nichts dergleichen zu sehen; nur ein paar unaufgezogene Originalphotographien nach alten Meistern sind hier mit gelben Zeichenstiften fest gemacht.
Die tiefen, vornehmen Töne unterbrechen das Banale der Wand.
*Die Thür zum Nebenzimmer wird geöffnet und eine weinerliche Stimme sagt:
„Hast du denn garnichts weiter zu thun?“
Die Stimme gehört einer langen schlanken Frau mit kleinem Kopf und feiner Gestalt.
„Ach – das ist doch zu arg!“
Jetzt wendete sich das Mädchen um. Sie schien zuerst nicht gehört zu haben.
„Mama?“ antwortete sie.
„Thust du denn auch gar nichts?“ – dieselbe weinerliche Stimme.
„Was soll ich denn thun?“
„Siehst du denn nicht, wie ich mich plage?“
„Ach Mama.“
Es lag so etwas in dieser gedehnten müden Antwort, als wollte sie sagen: Laß doch! Ich weiß wirklich nicht, was ich thun soll. Du plagst dich doch auf alle Fälle!
„Nun, und Marie, weiß die es etwa nicht?“
„Ja wohl, gescheidter wär’s aber, ihr ließt das Mädel mehr arbeiten, ihr verderbt jedes Mädchen.“
„Werden etwa alle Tage Kapuziner hier ausgegraben?“
„Das fehlte auch noch! Wie kannst du da nur immer zusehn? Ich bin froh, wenn ich nichts davon gewahr werde.“
„Laß mich doch!“
„Frau Doktor!“ rief dreimal hinter einander die ungebildete überlaute Stimme des Dienstmädchens vor der Thür.
Und, als hätte ihr Vorgesetzter gerufen, war Frau Doktor Frey hastig zum Zimmer hinausgeschlüpft.
Die junge Isolde seufzte, dehnte sich und hockte sich wieder am Fenster zurecht.
Der Regen hatte nachgelassen. Der Tümpel auf dem Totenfeld war fast eingekrochen. Schimmernde Wasserblasen saßen im Sande und platzten und ließen einen feinen schwarzen Ring zurück, aus winzigen Kohlen- und Holzteilchen gebildet.
Auch der ganze Tümpel hatte die verschiedenen Stadien seines Einkriechens mit schwarzen Linien bezeichnet – tripp, trapp, troll.
Hier hatte er ein wenig gezögert, hier wieder, hier wieder. Es war wie eine feine Linienarbeit.
Die kleine beinerne Insel, um die die Wellchen des Tümpels gespült hatten, der Schädel, lag jetzt ganz frei; auch um die Stirn saß das schwarze Linienwerk in perlmutterschimmernden Bläschen und leichtem Wasserschaum.
Das alles sah das junge Mädchen. Sie hatte aus einem Schubfach ein Opernglas genommen und hielt es auf den Schädel gerichtet.
Dann ging sie im Zimmer auf und nieder, ganz nachdenklich und nahm dann wieder das Opernglas.
Die Dämmerung brach herein und am Himmel drohten schwarzblaue Wolken zu neuem Regenguß.
Es kam ein Nachtrab.
Vielleicht erst jetzt das Wahre! Auch der Wind hatte sich wieder erhoben. Die Leute rannten schon mit aufgespannten Regenschirmen.
Des Mädchens ganzes Benehmen wurde ein unruhiges; etwas Unschlüssiges lag in ihren Bewegungen.
Sie wanderte weiter im Zimmer auf und ab.
Jetzt öffnete sie den Schrank, griff nach dem Hut, band ein Schleierchen vor, vorsichtig huschte sie aus dem Zimmer; draußen nahm sie ihren Regenmantel um, ging dann zur Korridorthür hinaus, und unter dem Regenschirm gerad über das aufgewühlte nasse Erdreich. Mit einem leichten blitzschnellen Niedertauchen hatte sie etwas ergriffen und schüttelte sich vor innerem Ekel.
Sie schaute sich ängstlich um und vor der Hausthür blieb sie wieder aufatmend stehn.
Wie ihr das Herz schlug!
Aber, was sie wollte, hatte sie. Und etwas später wäre sie von den Arbeitern überrascht worden.
Sie hörte sie kommen, auch der Kapuziner war unter ihnen.
Sie murmelten und lachten; der Kapuziner hatte etwas Drolliges gesagt, wie es schien. Sie waren alle sehr guter Laune, denn sie hatten während des Regens im nächsten Gasthaus eins getrunken.
Durch die enge Jungfernturmgasse, die auf den Platz mündet, kam ein Leichenwagen gefahren, und stand bald vor dem kleinen Totenfeld.
Isolde hielt den Schädel unter dem Regenmantel verborgen.
Unausgesetzt dieses Ekelgefühl und das Grausen – auch ein Gefühl der Schuld, so geheimnisvoll anziehend, wie aus einer andern Welt.
Die Kisten wurden von den Arbeitern gelupft und in den Wagen geschoben.
„Fahrt hin, ihr nassen Deiwel,“ sagt einer.
„Herrschaft, seid’s ihr schwer!“ ein anderer. „Die haben sich zu guter Letzt noch tüchtig eins angedudelt.“
Isolde drückte sich voller Grauen eng an die Hausthür an und erst als der gefüllte Leichenwagen dumpf davon rollte, trat sie ein.
„Du bleibst eben bei mir“, sagte sie warm und trug ihren sonderbaren Schatz die Treppe hinauf.
Oben angekommen, warf sie Hut und Mantel ab und ging mit dem Schädel in der Hand in die Küche.
Die Magd kreischte auf. Sie kreischte, ohne aufzuhören. Isolde kehrte sich nicht daran und hielt den Schädel unter den Strahl der Wasserleitung.
„Das erfrischt,“ sagte sie gutmütig.
Frau Doktor Frey bügelte mit ihrer ältesten Tochter im Nebenraum.
Auf das Geschrei des Dienstmädchens kamen sie herbei.
„Isolde!“ schrie auch Frau Doktor Frey außer sich.
Isoldes Schwester verbarg das Gesicht in der Schürze, und wagte gar nicht aufzusehen.
„Schön ist er doch!“ meinte Isolde gemütsruhig. Sie hob den Schädel mit beiden Händen hoch.
„Daß du mir jetzt mit dem Ekel gehst! In der Küche so ’ne Schmutzerei! – Pfui Tausend!“
„Wir haben ja doch alle so einen unter dem Gesicht – was ist da weiter?“
Sie ließ sich nicht irre machen, besprühte den Schädel von neuem unter dem Wasserstrahl.
„Ide göh doch – ich bitt’ dich – mir wird ganz schlecht.“
Das war so eine weiche, weiche Stimme und diese Stimme kam aus einem Geschöpf, das wie von Sammetschimmer umgeben war – dazu rötlich blonde Haare, eine ganze Symphonie von Weichheit.
„Sammtaff’“ hatte Isolde ihre Schwester Marie getauft und titulierte sie jetzt so.
Jetzt ging sie und nahm den Schädel mit sich.
„So was!“ sagte die Köchin und schüttete einen Eimer voll Schmutzwasser in den Ausguß.
„Mi beutelts ganz, der soll doch net etwa im Hause bleiben? Saftig. – Dös möcht feierlich werden.“ —
*Isolde hatte ihre Thüre geschlossen und war eifrig dabei, ein kleines hölzernes Postamentchen, ihrem Bett zu Füßen, an die Wand zu nageln.
Sie schlug den Nagel mit dem Absatz ihres Hausschuhs ein, so fest wie es mit diesem Werkzeug gehen mochte. Zuerst hatte sie den Rücken ihrer Hausbürste benutzt, als sie aber die Nägelmale in dem polierten Holz merkwürdiger Weise wahrnahm, war sie bedächtig genug gewesen, nach etwas Anderem Umschau zu halten.
Auf das Postamentchen wurde der Schädel gesetzt.
Und wie er seinen Platz eingenommen hatte und mit seinen hohlen Augen geheimnisvoll grinsend über das purpurne Bett hinwegsah, geschah etwas ganz Wunderliches: des Schriftstellers Heinrich Ewald Frey’s Tochter, Isolde, im glücklichen, zu allen Überschwenglichkeiten geneigten Alter von siebzehn Jahren, fiel auf die Kniee, reckte die Hände zum Schädel auf und sagte mit heißen Thränen in den Augen: „Du Mensch aller Menschen!“
Über ihr zartes Gesicht mit den tiefen dunkeln Augen ging etwas Verzücktes, etwas Überirdisches, etwas Bräutliches, eine wundervolle Verliebtheit, wie sie in manchen siebzehnjährigen Naturen zu Tage tritt, die nicht wissen, wo ein und aus mit der Fülle ihres Wesens.
Und diese süße Liebeswonne schüttete sie über das braune, grinsende Knochengehäuse aus, wie eine Nonne über eine heilige Reliquie.
Sie sah aber einen eleganten jungen Mann vor sich, mit französisch zugestutztem Spitzbart, einer schönen Stirn, in die das kurzgeschorne Haar in scharfem Winkel hineingewachsen war; einen jungen Mann, der sich im Hochsommer in weißen Flanell zu kleiden liebte.
Ja, es war da etwas, eine Ähnlichkeit in der Kopfform, die ihr verliebter Blick vom Fenster aus entdeckt hatte.
Wie sie das große Geheimnis bewegte!
Und dieser Schädel war so neutral. Sie vergab sich nichts. Ihm gegenüber gingen die Dinge in einer andern Sphäre vor sich, in einer Sphäre, in der alles Eins geworden, alles zusammengeflossen ist.
Sie empfand etwas so Beruhigendes und konnte sich gehen lassen.
*Die verriegelte Thür wurde kräftig zu öffnen versucht.
„Déesse!“ rief eine heftige Stimme. „Sapperlot!“
Wie aus tiefem Schlaf erwacht sagte sie „Papa?“
„Seid ihr denn alle des Kuckucks! Ihr wißt doch, daß ich in einer Stunde …“
Da war schon die Thür aufgeriegelt und ein großer blonder Mann mit rötlichem Gesicht, vollem lockigen Haar, das aber auf dem Wirbel einem Glätzchen gewichen war, trat ein.
Eine markige Persönlichkeit.
„Weibergegacker! – Draußen laufen sie wie die Hühner umeinand’! Und was machst du denn hier, Déesse? Mein Handkofferl sollt doch gepackt sein?
Ich werd euch mal Beine machen! Fertig sollt’s sein und die Mutter bügelt noch an den Stärkhemden. Zum Teufel, – ich will gar keine Stärkhemden! – Touristenhemden will ich.“
Das kam alles herausgepoltert. Das ganze Zimmer war voller Lärm und Spektakel, als wäre ein Bergstrom hereingebrochen.
Das war Doktor Heinrich Ewald Frey, Schriftsteller und Allerweltsmann, Vereinsmann, Redner, voraussichtlicher Reichstagsabgeordneter und so weiter.
„Na also, packen wir,“ sagte das schöne rassige Geschöpf in aller Ruhe.
„Na also? – Großartig! Was soll denn das ‚Na also‘? Fertig hätt’s sein sollen. Thu net so großartig, Déesse!“ Dabei kniff er sie in die zarte Wange „Götterköpfchen verdammtes!“
„Wo hast du denn dein Kofferl, Pa?“
„Hab’s denn ich?“
Frau Doktor Frey trat herein und trug das Kofferchen in der Hand.
Auf ihrer Stirn glänzten feine Schweißtropfen.
„Hättest du mir’s nur gesagt, Heinrich! Gestern abend sollte doch nichts daraus werden bei schlechtem Wetter?“
„Schlechtem Wetter? Ist denn das schlechtes Wetter, wann das Barometer gestiegen ist wie noch nie? Schau doch erst nach, eh du denkst.
Meine Stiefel!“
„Na, ich meine, wenn es gießt,“ sagte Frau Doktor Frey zaghaft.
„Ja, wenn du anfängst zu denken!“ donnerte er. „Meine Stiefel und die beiden rohseidenen Hemden.“
„Heut machst du dich ja fein,“ sagte Isolde.
„Paar Berliner Schriftsteller! Solchen Gockeln muß man … den Kofferschlüssel! Herr Gott noch einmal!
Wo ist denn die Marie?“
„Du hast ja dein’ Schlüssel an die Uhrkett’ gehängt für alle Fäll’,“ sagte Isolde.
„Vorlauter Schnabel!“ Der Vater blinzelte ihr zu. „Wo ist Marie?“
„Marie bügelt die Stärkwäsch,“ sagte die Mutter.
„Wenn der Vater abreist, hat sie dabei zu sein; wär’ net übel! Wenn wir die Idee der Familie nicht aufrecht erhalten, wer soll’s denn thun? Eins da, das andre dort, der Vater reist ab – kein Hahn kräht danach – das ist ja – weiß Gott – großstädtisch!
Meinen Rucksack! Marie!“ donnerte er abermals.
Frau Doktor Frey war schon vordem aus dem Zimmer gegangen, um Marie zu holen.
Jetzt traten sie miteinander ein.
„Marie, dein Vater reist ab,“ sagte er mächtig.
„Ja Papa. Auf wie lang denn?“
„Drei bis acht Täg’ denk ich; wenn wir das Kaisergebirg mitnehmen, acht Täg.“
„Du Glücklicher!“ sagte Marie aufatmend.
„Hat sich was ‚Glücklicher‘! Wenn ich mich net zeig – Teufel auch – die tanzten mir bald auf der Nasen. —
Was ist denn das?“ rief er ganz perplex.
Seine Blicke hatten den Schädel gestreift.
Frau Doktor Frey und Marie bemerkten ihn auch erst jetzt.
„Jesses! über das Mädchen!“ rief die Mutter.
„’nen Kapuziner, Déesse, dumme Gans, was bedeutet denn das?“
Das Mädchen war errötet bis in die Stirnhaare.
„Zu allererst kommt es bei dem Weib darauf an, daß die Lebensfreudigkeit gewahrt wird,“ predigte Doktor Heinrich Ewald Frey wieder mächtig. „Das ist notwendig, daß das Weib lebensfreudig bleibt.“
Ein strafender Blick streifte Frau Doktor Frey.
„Das Weib soll auch religiös sein. Ein Schädel hat immer etwas mit Religion zu thun. – Wenn du dir den Schädel nicht aus Verschrobenheit, aus unverstandenem Pessimismus heraufgeholt hast, mag er bleiben.“
Marie war erblaßt.
„Ide!“ sagte sie zu ihrer Schwester leise, „der soll doch net bleiben?“
„Papachen,“ begann Frau Doktor Frey sanft und freundlich. „Eh’ du gehst, – Karl kann sich nicht auf der Schule halten, – ich glaub’ mal nicht. Ich war auch heut beim Direktor. Er kommt auch dies Jahr nicht fort.“
„Es muß sich eben ein Hilfslehrer finden, um ihn wieder flott zu machen. Emil hat’s auch geleistet. Verpimple ihn nur recht! – Was nutzt es denn, wenn du bis in die Nacht hinein mit ihm über seinen Arbeiten hockst? Dazu gehört ’was mehr als so ein Hennenhirn.“
In das verarbeitete Gesicht mit den schönen Formen stieg eine flüchtige Röte auf.
„Darum eben müssen wir sorgen, daß sich jemand findet.“
„Ich werde am Kegelabend mal mit dem Direktor reden. – Weiber sollen die Hände aus dem Spiel lassen! Möcht’ wissen, ob hinter mir immer ein Unterrock gestanden hat. Du mit deinen paar lateinischen Brocken – daß i net lach! Laß den Jungen in Ruh!“
„Hättest du mich gewähren lassen,“ sagte die Frau klagend, „wär Isolde jetzt wenigstens eine Person, die etwas leisten könnte. Sie würde sich ihr Brot bald selbst verdienen,“ – Frau Doktor Frey sprach weinerlich – „wär’ jetzt schon bald staatlich angestellte Lehrerin.“
„Götterköpfchen, – verdammtes,“ lachte Doktor Frey – „Déesse! Lehrerin! daß i net lach! Die soll heiraten, Weib sein! Gar noch, daß ich meine Bamsen zu so ’was auf die Welt gesetzt hätt’.
Ja wohl, Lehrerin oder Gott weiß was noch!
Das Weib ist eben Weib. Wenns net Weib genug ist, um nur Weib zu sein, soll man’s tot schlagen!“
„Aber was soll ich denn mit Karl machen?“ fragte Frau Doktor Frey wieder.
„Siehst du net, daß augenblicklich die unpassendste Zeit für dein Gegraunz ist? Willst du mir alle Bamsen gerad jetzt auf den Buckel hängen? Sapperlot, höchste Eisenbahn!“
Er fuhr mit den Armen in die Träger des Rucksackes, griff nach dem Köfferchen – und war mit viel Geräusch und Gepolter zur Thür hinaus.
Tiefe Stille, als hätte sich ein Sturm gelegt.
„Weißt du, wie wir vor drei Jahren in Kramsach waren?“
Marie schaute sehnsüchtig zum Fenster hinaus, dem Vater nach.
„Alle von unsern Bekannten gehen aufs Land.“
„Ja, mein Gott,“ sagte die Mutter, „daß trägts uns heuer nicht. Daß die Buben auch gar so viel kosten.“
„Ja, wenns nur ein grünes Fleckchen wär, auf das man schaute!“
Das war wieder die weiche, weiche Stimme.
„Gehen wir heut wenigstens durch den englischen Garten?“
„Ja, wenn ich nicht auf Karl warten müßt. Wo bleibt der denn nur? der hat ja noch die schwere Menge zu thun!“
*Karl kam erst spät heim. Sie hatten lange mit dem Abendessen auf ihn gewartet.
Er war bei Emil gewesen, der auswärts wohnte und Emil hatte gerade einige Kameraden auf der Bude gehabt.
Die Mutter seufzte, sie dachte sich ihr Teil.
„Das solltest du doch nicht, bevor du deine Arbeiten gemacht hast, zu Emil gehen. Die setzen dir Gott weiß was in den Kopf, Karl. Studenten sind kein Verkehr für dich.“
„Mama,“ sagte der Bub, „red’ doch net.“
Er sprach nachlässig, schläfrig. Seine Backen sind außerordentlich ausgebildet und engen ihm die Mundwinkel ein, so daß der Mund etwas sonderbar Säuglinghaftes an sich hat, trotz einer gewissen bräunlichen Färbung, die ihn umgiebt und die mit einigen Härchen bepflanzt ist.
„Mulier taceat in ecclesia,“ sagt der Bursche und schiebt ein großes Stück Butterbrot mit Wurst zwischen die Lippen.
„Was hat er gesagt?“ fragt Isolde.
„Das Weib schweige … und so weiter,“ übersetzt der liebenswürdige Bruder patzig.
„Zur Mutter hast du das gesagt?“ fragt Isolde ganz bleich.
„Bäh!“ macht der Bruder. Und im Nu hat er von Isoldes Hand eine so derbe Ohrfeige, daß seine etwas gelbe Wange stark gerötet ist.