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Der Sinn und Wert des Lebens
Der Sinn und Wert des Lebens

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Der Sinn und Wert des Lebens

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Der Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Angriffe mächtig anschwellen lassen. Zunächst wirkt die Erschütterung der Religion auch zu einer Schwächung des weltlichen Idealismus. Denn seine Überzeugung von einer Tiefe des Alls und von dem Walten eines unsichtbaren Ganzen hat die Menschheit meist nur im Anschluß an eine religiöse Überzeugung gewonnen, nur eine solche machte den Bruch mit der sichtbaren Welt auch dem Einzelnen zur zwingenden Notwendigkeit, und die Veredlung, welche jener Idealismus an der Welt vollzieht, ist kaum denkbar ohne das verklärende Licht, das die Überwelt der Religion auf diese wirft; je mehr die Zurückdrängung der Religion dieses Licht verblassen läßt, desto mehr verliert auch jener seine leitende Stellung im Leben, wird er aus dessen Mittelpunkte an die Außenseite gedrängt. Sodann aber hat die neueste Zeit der sichtbaren Welt eine Selbständigkeit gegeben, welche sie nie zuvor für uns hatte; immer energischer hat die wissenschaftliche Arbeit aus ihr alles Seelenleben vertrieben, dafür aber ein neues Reich reiner Tatsächlichkeit eröffnet und aus ihm eine überströmende Fülle neuer Aufgaben abgeleitet, deren Lösung das menschliche Wohlsein aufs erheblichste zu steigern verspricht. Zugleich hat die Forschung die Besonderheit und Gebundenheit des menschlichen Lebens und Strebens aufs stärkste hervorgekehrt, es scheint ihr in enge Schranken gebannt und dadurch gänzlich verhindert, jene Welt starrer Tatsächlichkeit sich innerlich anzueignen und ihre Unermeßlichkeit als ein Ganzes zu erleben; sie wird bei aller äußeren Annäherung unserer Seele immer fremder. Kann ein solcher Gedankengang im Menschen den Vollender des Weltalls sehen? Aber mehr als alles das widersprechen dem weltlichen Idealismus im modernen Leben die Erfahrungen innerhalb der Menschheit selbst. Es erschien hier so viel wilde Leidenschaft und unbegrenzte Selbstsucht, so viel Kleinheit der Gesinnung, so viel moralische Unlauterkeit, so viel Mangel an geistiger Größe und an Kraft der Persönlichkeit, es stellte sich das menschliche Dasein so sehr als ein wirres Chaos dar, daß alle Hoffnung verflog, in ihm ein Reich der Vernunft entdecken oder es in ein solches verwandeln zu können. Wie vermöchte sich aber bei solcher Lage geistiges Schaffen und edle Bildung als der Kern des Lebens zu behaupten? Auch der gegenwärtige Krieg muß den Eindruck ihrer Ohnmacht über die menschliche Seele verstärken. Wäre eine gemeinsame Vernunft die Grundkraft menschlichen Lebens, so müßte sie die Menschheit zusammenhalten und einen etwaigen Zwiespalt rasch überwinden, sie müßte allem Rohen und Gemeinen siegreich widerstehen, das an einzelnen Stellen erscheinen möchte. Deutlich genug aber sehen wir, daß das keineswegs geschieht. Was hilft uns dann aber jene Geisteskultur mit ihrer gepriesenen Bildung? Ist sie nicht bloß ein gefälliger Schein, mit dem sich das menschliche Leben umkleidet, um seine nackte Gestalt zu verhüllen? Und lohnt es sich dann, so viel Muße und Arbeit an diesen Schein zu verwenden? So ist es kaum zu verhüten, daß viel Geringschätzung dieses weltlichen Idealismus aufkommt und um sich greift. Und doch haben wir uns zu hüten, solcher Stimmung nachzugeben und die Güter geringzuschätzen, die er mit Behauptung und Leistung vertritt. Denn sie berühren keineswegs die bloße Oberfläche des Lebens, sie wirken weit über die Stimmung und Neigung der Individuen hinaus zu seiner Durchbildung von innen her, sie haben eine Klärung, Vertiefung, Veredlung an ihm vollzogen, deren Preisgebung uns in den Stand der Barbarei zurückschleudern würde; mag einer besonderen Zeit unter besonderen Geschicken sich ihr Bild verzerren, sie hören darum nicht auf, im Grunde des Lebens tätig zu sein und mehr aus dem Menschen zu machen, als sein eigenes Bewußtsein ihm zeigt. Das Reich der geistigen Güter verbleibt, auch wenn sich dem Menschen der Zugang zu ihm durch manche Hemmung zeitweilig versperrt. Immerhin verbleibt solche Hemmung und will vollauf gewürdigt sein; die führende Stellung des weltlichen Idealismus wird jedenfalls durch die Erfahrungen der Gegenwart schwer erschüttert. Und zugleich machen sie zweifelhaft, wieviel wir an ihm überhaupt besitzen, und wo sein Recht innerhalb eines weiteren Lebensganzen liegt. So verwandelt sich uns auch hier in eine unsichere Frage, was früheren Zeiten eine zuversichtliche Antwort gab.

Demnach ist die Lebensordnung des weltlichen Idealismus heute nicht weniger erschüttert als die der Religion, wir verspüren die Erschütterung nur nicht so stark, weil sie weniger durch einen direkten Angriff als durch ein allmähliches Verblassen und Ermatten erfolgte; wie der weltliche Idealismus nicht die Kühnheit der Religion besitzt, so entzündet der Streit um ihn auch nicht so gewaltige Leidenschaft. Aber hier wie da kommen wir zu demselben Endergebnis: Lebensmächte, welche Jahrtausende lang die Menschheit beherrschten, ihrem Leben Ziele gaben und ihm dadurch einen Sinn verliehen, haben eine feste Wurzel im Bewußtsein des heutigen Geschlechts verloren und erhalten sich mehr durch träge Gewohnheit als durch eigene Erfahrung. Nur die Verstrickung in die Geschäfte des Alltags und das Überwiegen von Einzelfragen läßt uns übersehen, wie Ungeheures bei uns vorgeht. Oder ist es nicht etwas Ungeheures, wenn Ziele, an die Jahrtausende ihre beste Kraft gesetzt haben, und im Glauben an die sie lebten und starben, nunmehr eine bloße Einbildung scheinen und damit der bisherige Hauptzug des Strebens als ein leerer Wahn befunden wird? Ist es nicht etwas Ungeheures, wenn die unsichtbare Welt, früher als eine sichere Zuflucht ergriffen und als ein Quell der Liebe und Wahrheit gepriesen, nunmehr sich völlig auflösen muß? Wir müßten die Umwälzung anerkennen, wenn das Gebot der Wahrheit sie forderte; aber nur flache Denkart kann leicht und vergnüglich alles hinter sich werfen, was bisher als heilig galt. Zum mindesten dürfte sie nicht übersehen, daß das Durchschauen eines so langen Irregehens der ganzen Menschheit allen Glauben an ihr Vermögen zur Wahrheit aufs tiefste erschüttern müßte.

Die neueren Lebensordnungen

Die gemeinsame Grundlage

So schwer wir die Erschütterung der Gegenwart durch das Verblassen der unsichtbaren Welt nehmen mögen, es sei nicht vergessen, daß zu ihrem Ersatz ein vielverheißender Aufbau im Werke ist, und daß einem neuen Leben die sichtbare Welt unvergleichlich mehr geworden ist, als sie früheren Zeiten war. Diese Welt hat sich nicht nur in der Natur um uns wie in der eigenen Geschichte der Menschheit der Erkenntnis in ungeahnter Weise erschlossen, sie hat auch dem menschlichen Wirken immer mehr Angriffspunkte gezeigt; der Befund der Dinge, sonst wie ein unentrinnbares Schicksal hingenommen, zeigt sich jetzt sehr wohl einer Veränderung und Verbesserung fähig: Elend und Roheit werden angegriffen, das Leben durchgängig in rascheren Fluß versetzt und zu mehr Fülle und Freude gebracht. Den Kern des neuen Lebens bildet aber die Arbeit, das heißt die Tätigkeit, welche den Gegenstand ergreift und ihn für den Menschen bereitet; was von altersher davon vorlag, das hat die Neuzeit erheblich dadurch gesteigert, daß ihr die Arbeit weit mehr über die Kräfte und Zwecke der Individuen hinauswächst, ja durch Bildung eigener Zusammenhänge eine Selbständigkeit gegen den Menschen erlangt. So zeigen es Wissenschaft und Technik, so zeigen es auch politisches und soziales Wirken; sie alle machen den Menschen zum Gliede eines Arbeitsganzen, dessen Forderungen er unbedingt nachkommen muß. In solcher Unterordnung der Einzelnen gewinnt das Ganze eine gewaltige Macht, es faßt das Nebeneinander der Kräfte und das Nacheinander der Zeiten zu gemeinsamem Wirken zusammen, das in sicherem Zuge vordringt und keine Grenze als endgültig anerkennt. So gewinnt die Menschheit einen frischen Mut und ein stolzes Selbstvertrauen, sie entwickelt in ihrem eigenen Bereich ein mannhaftes, klares, zielbewußtes Leben, das auch zu entsagen vermag, aber durch das Entsagen keineswegs niedergedrückt wird. Denn für alles, worauf zu verzichten ist, scheint der Gewinn an Sicherheit und an Wahrhaftigkeit vollen Ersatz zu bieten. Unerschütterlich fest scheint der Boden, der hier die Arbeit trägt, alle Einbildungen und Vorurteile, die gleich trübem Nebel die Dinge umhüllten, sind gewichen und machen hellem Sonnenlicht Platz, die Tätigkeit findet nach allen Seiten ein offenes und unbegrenztes Feld; so scheint erst hier das Leben sich selbst und seine Kraft zu finden, von einem Schlummerstand in volle Wachheit überzugehen. Alles Wirken hat dabei den Reiz eines frischen Sehens und selbständigen Entdeckens. Dürfen wir uns wundern, daß dieses Leben eine starke Anziehungskraft ausübt, und daß ihm das Goethewort zugute kam.

»Er stehe fest und sehe hier sich um,Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm«?

Die Wendung vom allgemeinen Gedanken zur näheren Durchführung ließ jedoch ersehen, daß das hier gebotene Leben keineswegs einfach ist. In zwei Bereichen liegt uns das Dasein vor: in der Natur und im Menschheitsleben. Jeder dieser Bereiche läßt sich zur Hauptsache machen, jeder kann von sich aus eine allumfassende Lebensordnung zu bilden suchen. So entspringen aus dem gemeinsamen Grunde zwei verschiedene Lebensströme und wollen gesondert behandelt sein. Es sei zunächst als der einfachere derjenige behandelt, dem das Verhältnis des Menschen zur Natur als das Grundverhältnis seines Lebens gilt.

Die Lebensordnung des Naturalismus

Eine Lebensordnung des Naturalismus konnte nicht entstehen, bevor das Bild der Natur alles Fremdartige ausgeschieden und seine Eigentümlichkeit deutlich ausgeprägt hatte; das aber ist zuerst seit Beginn der Neuzeit geschehen. In Abweisung aller religiösen und spekulativen Deutung wird hier zum Ziel der Forschung die Erfassung der Natur in ihrer reinen und bloßen Tatsächlichkeit; hier entsagt jene aller inneren Eigenschaft und allem seelenartigen Streben und verwandelt sich in ein Reich unbeseelter Massen und Bewegungen, das sich in festen Zusammenhängen und unwandelbaren Ordnungen darstellt, ohne dem Menschen eine besondere Stellung einzuräumen und ihn zum Gegenstand besonderer Sorge zu machen. Von Anfang an bestand viel Neigung, dies Reich der Natur für das Ganze der Wirklichkeit auszugeben und zugleich alle Wissenschaft nach Art der Naturwissenschaft zu gestalten; schon Bacon (1561 bis 1626) nannte die Naturwissenschaft »die große Mutter und die Wurzel alles Erkennens«, diese Neigung hat immer mehr Boden gewonnen und Naturbegriffe immer tiefer in alle Gebiete eindringen lassen, so daß heute »naturwissenschaftliche Weltanschauung« vielen als Weltanschauung überhaupt gilt. Um sich so zum All zu erweitern, mußte die Natur auch den Menschen an sich zu ziehen und ganz und gar in sich aufzunehmen suchen. Das konnte so lange nicht gelingen, als eine unübersteigbare Kluft Ursprung und Wesen des Menschen von der Natur zu trennen schien; aber der Anerkennung einer solchen Kluft hat die Naturwissenschaft immer entschiedener widersprochen, sie hat immer mehr verbindende Fäden aufgewiesen, bis die moderne Entwicklungslehre eine völlige Verkettung herzustellen schien.

Gehört aber der Mensch ganz und gar zur Natur, so muß auch sein Leben ganz dem der Natur entsprechen, so hat alles auszuscheiden, was im überkommenen Befunde dem widerspricht. Die Natur aber erscheint hier als ein Nebeneinander einzelner Elemente, die in vielfachste Beziehung treten und auch manche Verwebung bilden, deren Verbindung aber nie mehr als eine Anhäufung und Zusammensetzung ist; es gibt hier keinen inneren Zusammenhang und daher auch kein Wirken aus einem Ganzen, auch kein Selbständigwerden eines Inneren. Wie die Natur in reiner und bloßer Tatsächlichkeit verläuft, so kann auch das Menschenleben, das zu ihr gehört, keine die natürliche Selbsterhaltung überschreitende Wertschätzung, kein Gut und Böse anerkennen; nur die Entfaltung der Kraft und die sie begleitende Lust kann dem Leben einen Antrieb geben, und, soweit hier überhaupt von Zielen die Rede sein kann, haben sie in die Kraftsteigerung einzumünden.

Die Übertragung dieser Maße auf das menschliche Leben erwies ein gutes Recht dadurch, daß sie Tatsachen zur vollen Anerkennung brachte und untereinander zusammenschloß, die früher vereinzelt geblieben und als Nebensachen behandelt waren. So die Gebundenheit aller seelischen Betätigung an körperliche Bedingungen, so die elementare Macht der Naturtriebe und der natürlichen Selbsterhaltung, so die überwiegende Macht der materiellen Faktoren im Menschenleben, so das aufrüttelnde und vorwärtstreibende Wirken des Kampfes ums Dasein, so die weite Ausdehnung der blinden und sinnlosen Tatsächlichkeit auch im Bereich des Menschen. Alles zusammen ergibt einen eigentümlichen Lebenstypus, der sich auch der geistigen Arbeit, die er an sich zieht, mitteilen muß.

Da diese Lebensordnung dem geschichtlich überkommenen Stande schroff widerspricht, so muß sie mit einer entschiedenen Verneinung beginnen, mit einer Verneinung alles dessen, was die Natur überschreitet und damit die Wirklichkeit auseinanderzureißen scheint. So geschah es nach ihrer Überzeugung in Religion und Metaphysik, gemeinsam war ihnen der Fehler, das menschliche Subjekt von seiner Umgebung abzulösen und seiner ungezügelten Phantasie eigene Wege zu gestatten. Dadurch entstanden erdichtete Bildungen, die, so meint man, einen vielfachen Druck auf den Menschen üben und mit ihren Satzungen und Vorurteilen das Leben verengen und entstellen. Es scheint ein großer Gewinn an Freiheit, wenn das aus dem Leben verschwindet. Zugleich ein Gewinn an Einheit, indem die verhängnisvolle Spaltung aufhört, die aus jener Überhebung des Subjekts hervorging. Im eigenen Aufbau aber verheißt dies Leben eine gewaltige Steigerung der Kraft, der anschaulichen Nähe, ja der Wahrhaftigkeit. Denn nur in Berührung mit dem Gegenstande draußen scheint das menschliche Vermögen sich vollauf zu entfalten, ja erst Leben in vollem Sinne zu werden. In endloser Weite und Fülle breitet sich dabei vor dem Menschen das Reich der Arbeit aus, und was in ihr das Erkennen erringt, das findet hier, wo sich der Tätigkeit deutliche Angriffspunkte bieten, ohne viel Mühe den Weg zum Handeln; wie aus der modernen Naturwissenschaft unmittelbar die moderne Technik entsprang, so scheint diese Denkweise überhaupt der gegebene Weg, die menschlichen Verhältnisse zu verbessern und den Gesamtstand menschlichen Wohlseins zu heben.

Auch die einzelnen Gebiete bringt diese Lebensordnung in eine starke Bewegung nach eigentümlicher Richtung. Überall ein ausgeprägter Realismus, der von erträumten Höhen abruft, alle Ziele, der Kunst wie der Wissenschaft, der Erziehung wie der Moral, des politischen wie des sozialen Lebens, innerhalb der sinnlichen Erfahrung findet und ihren Gehalt damit eigentümlich gestaltet. Durchgängig gilt es, die sinnlichen und materiellen Faktoren als die Wurzeln aller Kraft voll zur Wirkung zu bringen, das Leben dadurch zu sättigen, es in frischen Fluß und sicheren Fortgang zu bringen. So inmitten alles Realismus ein Leben mit so viel Spannung, Leistung und Hoffnung, daß es auf die weltüberfliegenden Ausblicke früherer Zeiten ohne Schmerz scheint verzichten zu können. Ein neuer Tag scheint hier anzubrechen, dessen helles Licht alle frühere Zeit zu einer trüben Dämmerung herabsetzt.

Dieser Lebensstrom hat viel zu viel Kräfte in Bewegung gesetzt, viel zu viel Leistungen hervorgebracht, ja den Gesamtstand des menschlichen Daseins viel zu sehr umgewandelt, als daß sich seine Macht verkennen und seine Bedeutung angreifen ließe. Was in Frage kommen kann, ist lediglich dieses, ob er das ganze Leben zu erfüllen und seinen Gesamtstand zu beherrschen vermöge. Denn dagegen erheben sie freilich schwere Bedenken, sie gehen von einem Punkte aus, der bei flüchtigem Anblick nebensächlich scheinen mag, der sich aber bei näherer Prüfung als so bedeutend herausstellt, daß jener ganze Lebensstrom mit all seiner Tatsächlichkeit dadurch an die zweite Stelle gedrängt wird und sich damit bescheiden muß, ein Stück eines weiteren Lebens zu bilden. Jener behandelt den Menschen als ein bloßes Stück der Natur und verlegt in sie sein ganzes Leben. Aber woher kennen wir die Natur, wie wissen wir überhaupt von ihr? Wir kennen sie nur als ein Erlebnis der menschlichen Seele, wir kennen sie nur in ihrer Wirkung auf die Seele, und nur von der Seele aus wird das Bild entworfen, mit dem sie uns vor Augen steht. Diesen Aufbau der Natur von der Seele her hat eben die neuere Philosophie mit besonderer Klarheit aufgewiesen, sie hat gezeigt, daß sowohl was in ihm an festen Elementen als an Zusammenhängen vorliegt, uns nicht von außen zugeführt, sondern von der Seele aufgebracht und von ihr in das auf uns eindringende Chaos zu seiner Bewältigung hineingelegt wird; die Seele ist es, welche die Natur erst im wissenschaftlichen Sinne entdeckt und aus der Flut der Eindrücke herausarbeitet; dabei ist völlig klar, daß das nicht von der sinnlichen Empfindung aus, sondern aus der Arbeit des Denkens geschieht; das kann verkennen nur, wer wissenschaftliche und naive Stellung des Menschen zur Umgebung in eins zusammenwirft. Mit der Anerkennung des Unterschiedes tritt vor die sinnliche Empfindung die Denkarbeit, also eine geistige Tätigkeit, und es zeigt sich zugleich, daß im Bilde der Natur die Eindrücke auf ein Gerüst von Gedankengrößen, von Begriffen aufgetragen und nur dadurch in ein Ganzes verwandelt worden sind. In Wahrheit ist die Welt des Forschers mit ihrer Umsetzung der Natur in Kräfte, Beziehungen, Gesetze etwas wesentlich anderes als das, was die Sinne uns übermitteln. Diese Überlegenheit des geistigen Wirkens bekundet aber eine Selbständigkeit des Seelenlebens gegen die Natur und läßt uns zugleich verstehen, daß es seelische Antriebe sind, welche über den Zwang der Selbsterhaltung hinaus der Befassung mit der Natur einen Wert verleihen. Der Anhänger des Naturalismus legt, wenn auch unwillkürlich, selbst dafür Zeugnis ab. Denn was ihn bewegt, ist nicht bloß der Trieb, seine Kraft in Bewegung zu setzen, sondern ein Streben nach Befreiung von irreleitendem Wahn, nach mehr Einheit und nach mehr Wahrhaftigkeit der Weltanschauung; sind aber solche Ziele von der bloßen Natur aus irgendwie zu begreifen, bekunden sie nicht ein aller Natur überlegenes Leben und Streben? Kurz, es hat der Naturalist, indem er die ganze Weite der Welt überdachte, leider etwas vergessen, was im Grunde das Allernächste ist, er hat sich selbst, die eigene Seele, vergessen. Aber die Seele ist nun einmal da und läßt sich nicht wegdisputieren; selbst wer sie leugnet, tut es aus einem Drange nach Wahrheit, damit aber aus einem Antriebe seelischer Art. Und die Seele ist nicht bloß da, sondern sie zeigt auch eine eigentümliche Art und stellt aus ihr Forderungen, denen die naturalistische Lebensordnung nicht zu entsprechen vermag. Das seelische Leben ist kein bloßes Nebeneinander, es umfaßt alle Mannigfaltigkeit und bezieht sie auf einen Mittelpunkt, es geht nicht in die Beziehungen nach außen hin auf, sondern es bildet sich einen eigenen Kreis und gewinnt damit ein Beisichselbstsein; es erschöpft sich nicht in bloße Tatsächlichkeit, sondern es entwickelt Maße und Ziele aus sich selbst heraus und prüft danach alles, was bei ihm vorgeht, kurz es ist ein wesentlich anderes Leben, was hier entsteht, als das der sinnlichen Natur. Auch ist dieses Leben nicht ohne ein gemeinsames Werk großen Stiles geblieben, welches das menschliche Dasein wesentlich umgewandelt hat, in nichts anderem liegt dies vor als in der Hervorbringung eines Kulturstandes, womit der Mensch sich über die Natur hinaushob und ihr gegenüber ein neues Reich mit eigentümlichen Größen und Gütern erzeugte. Das ergibt allerdings eine Zweiheit, aber sollen wir den Aufstieg bekämpfen und zugleich alle Kultur verwerfen, weil sie das Leben minder einfach macht? Sehr wohl kann bei dieser Bewegung der Mensch die Natur zu weit zurückgeschoben und sich in seiner Meinung zu sehr von ihr abgelöst haben, – die Bekämpfung dessen ist ein unbestreitbares Verdienst des Naturalismus – , aber wenn der Kulturmensch zur Natur zurückkehrt und ihr eine höhere Schätzung für das Ganze des Lebens verleiht, so wird er dadurch nicht im mindesten ein bloßes Stück der Natur, seine geistige Überlegenheit bleibt dabei unangetastet.

Von solcher Überlegenheit aus muß ihm aber die naturalistische Lebensordnung als durchaus unzulänglich erscheinen. Denn folgerichtig durchgedacht muß sie alles Bestehen einer Innerlichkeit und allen Wert von inneren Gütern, muß sie zum Beispiel Größen wie Gesinnung, Pflicht, Ehre, Persönlichkeit, Charakter als völlige Einbildungen verwerfen, als ebenso verderbliche Einbildungen, wie es nach ihrer Meinung die Ideen von Gott und Weltvernunft sind. Das will jene Lebensordnung nicht, gewiß nicht; auch sie hält an jenen Größen fest, auch sie will Moral, auch sie will eine Veredlung des Menschen, aber sie kann das nur in Widerspruch mit den eigenen Grundgedanken. Selbst den Begriff der Wahrheit kann sie nur in solchem Widerspruch beibehalten. Denn wie kann von einer gemeinsamen und zwingenden Wahrheit die Rede sein, wenn nur einzelne Individuen mit ihren verschiedenen, unablässig wechselnden Meinungen nebeneinanderstehen, und wenn aus ihrem Zusammensein höchstens ein gewisser Durchschnitt hervorgeht? Auch für echte Kultur ist hier kein Platz. So sehr jene Ordnung die Lebensbedingungen nach allen Richtungen hin zu verbessern vermag, sie gibt damit dem Leben weder eine innere Bildung noch irgendwelchen Gehalt, sie überliefert es geistiger Leere; über die bloß äußere Ordnung der Lebensverhältnisse, die Zivilisation, kommt sie mit eigenen Mitteln nun und nimmer hinaus.

So kann die naturalistische Lebensordnung die höheren Forderungen des Menschenwesens nur in Widerspruch mit sich selbst festhalten; daß bei solchem inneren Widerspruch zur Erfüllung jener viel geschehen kann, ist schwerlich zu erwarten. Die Leere und Sinnlosigkeit, in die hier das Leben gerät, muß augenscheinlich und zugleich unerträglich werden, sobald die Frage aufs Ganze gerichtet wird, was der zum Denken erwachte Mensch schließlich doch nicht unterlassen kann. Was wird hier aus dem Ganzen des Lebens, was aus dem Lebensstand der Menschheit? Kein inneres Band verknüpft hier die Menschheit mit dem All, auch kein solches Band die Menschen untereinander. Wir mühen und hasten uns im wilden Lebenskampf, damit sich mehr und mehr Kraft entfalte, aber es gibt nichts, dem diese Kraft zugute komme, es gibt keine Möglichkeit, sie in ein wahrhaftiges Leben eines Beisichselbstseins überzuführen. Die der Kraftentfaltung anhangende Lust steht in grellem Mißverhältnis zu all der Mühe und Arbeit, all der Aufregung und Aufopferung, welche die Erhaltung des Lebens vom Kulturmenschen fordert. So viel Verwicklung und Umständlichkeit in Erziehung und Bildung, in staatlicher Ordnung und sozialem Aufbau, und das alles, damit wir im wesentlichen dasselbe erreichen, was das Tier so viel leichter erreicht!

Über solche Bedenken sich leicht hinwegsetzen kann nur, wer einem starken Optimismus gegen den Menschen und die menschliche Lage huldigt, wer keine inneren Verwicklungen, keine schweren Probleme in ihr anerkennt. So ging in der Tat der Naturalismus oft mit einem flachen Optimismus zusammen. Dieser Optimismus hatte schon vor dem Kriege manche Erschütterung erlitten, es waren im menschlichen Leben manche Probleme und Widersprüche ersichtlich geworden, denen gegenüber der Naturalismus vollständig wehrlos ist; so waren seine Flitterwochen schon vorher abgelaufen. Die Erfahrungen des Weltkrieges müssen das weiter vertiefen. Denn wären wir in den ungeheuren Erschütterungen, die er bringt, und den Problemen, die er eröffnet, allein auf die Hilfen angewiesen, die der Naturalismus zu bieten vermag, so bliebe nichts anderes als eine völlige Verzweiflung, ein trostloser Pessimismus. Und einem solchen Abschlusse wird doch die Menschheit mit aller Kraft widerstehen, selbst in den schweren Verlusten und den durch sie geweckten Zweifeln wird sie eine Überlegenheit gegen die bloße Natur empfinden. Das Leid selbst erweist sich als der stärkste Gegner des Naturalismus, sobald es ins Innere gewandt wird.

So wird dieser seinen Anspruch auf eine führende Stellung nicht durchzusetzen vermögen. Aber glauben wir deshalb nicht, daß wir schon mit ihm fertig sind, daß nicht viele offene Fragen verbleiben. Die naturalistische Lebensordnung hat nicht nur einzelne Daten aufgedeckt und zur Geltung gebracht, ihr Verdienst ist, in zwingender Weise einer ganzen Seite unseres Lebens zur Anerkennung verholfen zu haben, die ihr früher mit Unrecht versagt ward. Diese Anerkennung läßt sich aber nicht vollziehen, ohne daß schwierige Fragen erwachen, manche Zweifel entstehen, das Ganze unseres Lebens eine neue Beleuchtung erhält. Den Naturalismus zu schelten mag der landläufigen Apologetik als ein billiges Vergnügen überlassen bleiben; die vom Naturalismus vertretene Tatsächlichkeit im Ganzen des Lebens zu würdigen ist eine Aufgabe, die noch immer recht viel zu tun gibt. Der Mensch ist nicht bloß Natur, aber er ist weit mehr Natur, als die älteren Ordnungen ihm zuerkennen, und dieses Mehr wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis es sein Recht gefunden hat.

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