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Der Sinn und Wert des Lebens
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Der Sinn und Wert des Lebens

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Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Rudolf Eucken

Der Sinn und Wert des Lebens

Die Wohnung des Lebens

sind viel weiter denn die

Wohnungen des Todes.

Luther.

Vorwort zur ersten Auflage

Mit einer Behandlung der Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens suche ich die inneren Probleme der Gegenwart jedem einzelnen möglichst nahe zu bringen und ihn zur Teilnahme daran zu gewinnen. Solche Fassung der Aufgabe zog der philosophischen Erörterung bestimmte Grenzen: daß es aber innerhalb dieser Grenzen genug zu klären gibt, das hofft die Untersuchung selbst zu zeigen. Dem einen oder anderen Leser wird vielleicht der erste kritische Teil zu weit ausgesponnen scheinen. Aber es konnte die entscheidende Hauptthese, an der die Möglichkeit einer Wiederbefestigung des Lebens und einer Verjüngung der Kultur hängt, ihre volle Überzeugungskraft nur erlangen, wenn sie als der einzig mögliche Weg zum Ziele erwiesen war; dafür aber war jene Kritik unentbehrlich, sie steht nicht neben, sondern in der Sache.

Jena, Dezember 1907.

Vorwort zur fünften Auflage

Zwischen der vierten und der fünften Auflage liegt der Beginn und der Verlauf des Weltkriegs; notwendig mußten seine Eindrücke und Erfahrungen auch auf das Gesamtbild des menschlichen Lebens wirken, und solche Wirkung mußte sich auch auf eine Untersuchung erstrecken, welche sich mit dem Sinn und Wert des Lebens befaßt. So ist denn diese neue Auflage aufs gründlichste umgestaltet, ja völlig erneuert worden, ganze Abschnitte sind stark verkürzt, andere neu hinzugefügt worden, das Ganze ward straffer zusammengefaßt und mehr in den Dienst eines einzigen Hauptgedankens gestellt. So wenig ich meine Grundanschauungen zu verändern brauchte – die Erfahrungen des Krieges haben sie nur bestätigt – , ihre Darstellung mußte kräftiger werden, die Gegensätze waren schärfer zu scheiden, die Forderungen deutlicher herauszuheben. So hoffe ich, daß das Buch an innerem Leben gewonnen hat, und daß zugleich sein Verhältnis zur Gegenwart in Ja und Nein enger geworden ist. Mein Hauptwunsch geht dahin, in unserer wirren Zeit möchte es suchenden und kämpfenden Seelen irgendwelche Förderung bringen.

Jena, im Juli 1917.

Rudolf Eucken.

Einleitung

Die Frage nach einem Sinn und Wert des Lebens macht ruhigen Zeiten wenig Sorge, da dann die Umwelt dem Einzelnen einen festen Lebenszusammenhang zuführt, ihm darin einen sicheren Halt und eine Antwort auf etwaige Zweifel gibt; sie wird erst dringend, wenn über den Grundstock des Lebens eine Unsicherheit entsteht, wenn sich in ihm Spaltungen bilden und das Handeln nach verschiedenen Richtungen ziehen. Dann müssen wir wohl oder übel unsere Zuflucht zum eigenen Denken nehmen, dann müssen wir suchen, mit seiner Hilfe wieder eine Hauptrichtung des Lebens zu gewinnen und in der Arbeit dafür eine Wehr und Waffe gegen all das Dunkle und Feindliche, das unaufhörlich auf uns eindringt. So erweist das Fragen und Mühen um einen Sinn und Wert des Lebens immer einen geistigen Notstand, einen solchen erweist es auch heute. Dieser Notstand ist keineswegs eine bloße Folge des Krieges, er reicht weit hinter ihn zurück und ist aus dem Ganzen des modernen Lebens mit Notwendigkeit hervorgegangen. Dieses Ganze hat sich in verschiedenartige Ströme gespalten, die auseinandergehende Richtungen verfolgen und abweichende Wertschätzungen enthalten. Namentlich stehen hier gegeneinander eine unsichtbare und die sichtbare Welt. Der früheren Zeit galt jene als der Kern der Wirklichkeit und als der Hauptstandort echten Lebens, während die Neuzeit mehr und mehr die sichtbare Welt auch zur geistigen Heimat des Menschen macht und alle seine Ziele von ihr erhofft. Innerhalb der Hauptrichtungen aber erschienen weitere Unterschiede und trieben das Leben auseinander, das freudige Ja der einen wurde den anderen zum herben Nein, eine peinliche Unsicherheit griff um sich und mußte zur Schwächung alles Strebens wirken, das die Notwendigkeit des Lebens und die selbstischen Zwecke überschreitet. So mußte die Menschheit bei aller Fülle äußerer Berührungen sich innerlich mehr und mehr zerwerfen und ein gegenseitiges Verständnis verlieren. Ernsteren Seelen waren diese Gefahren schon vor dem Kriege deutlich geworden, und an Bemühungen, sie zu überwinden, hatte es nicht gefehlt. Aber die Breite der Zeit fühlte sich viel zu sehr in reichem Kulturbesitz und wurde durch die Befassung mit ihm viel zu sehr festgehalten, um diesen Fragen viel Aufmerksamkeit zu schenken; so blieb das Mühen um sie im Hintergrunde und erlangte nicht die nötige Kraft. Der Krieg hat die Lage weiter verschärft, er stempelt die willenlose Ergebung in die Widersprüche des Daseins zu flacher und niedriger Art. Er zeigt uns handgreiflich die völlige Abhängigkeit unseres Lebens und Strebens von dunklen Geschicken, er zeigt die Menschheit bei sich selbst gespalten und bis zu wildem Haß verfeindet, er zeigt im Völkerleben eine häßliche Mischung moralischer Unlauterkeit und intellektueller Schwäche, er zeigt freilich auch viel Kraft in den Völkern und viel Aufopferungsfähigkeit für gemeinsame Zwecke, aber im Gesamteindruck stellt er die Lage der Menschheit als höchst verworren und ihr Streben als eines deutlichen Zieles entbehrend dar, er erschüttert aufs stärkste den Glauben an das Walten einer Vernunft bei ihr. Einer so verworrenen Lage gegenüber versagt alles bloße Grübeln und Deuten, Scharfsinn und menschlicher Witz werden uns nicht von ihr befreien; die einzige Hoffnung einer Rettung besteht darin, daß durch alles menschliche Meinen und Suchen hindurch eine tiefer gegründete Tatsächlichkeit im Leben waltet, auch uns sich eröffnet und unser Handeln zu sicheren Zielen leitet. Dieser Tatsächlichkeit den Weg zu bahnen, zunächst der Richtung inne zu werden, in der sie zu suchen ist, das muß einer Selbstbesinnung zur Aufgabe werden. Sie kann das aber nicht tun ohne vorherige Orientierung über den heutigen Lebensstand mit all seinem Durcheinander. Denn was an vermiedenen Strömen wirkt und sich gegenseitig zu hemmen droht, das sind keineswegs bloße Lehren, die sich behaupten und zurücknehmen lassen, sondern das enthält tatsächliche Leistungen, Bewegungen des Lebens selbst, Konzentrationen, welche ihrem ganzen Bereich eine eigentümliche Beschaffenheit verleihen; wir kämpfen daher nicht um bloße Deutungen eines gegebenen Lebensstandes, sondern wir kämpfen um den Lebensstand selbst, wir kämpfen nicht um Bilder, sondern um Wirklichkeiten. Die Verwicklung aber stellt sich nun dahin, daß jede einzelne dieser Lebensentfaltungen Berechtigtes und Wertvolles enthält, das, einmal belebt, sich nicht wieder aufgeben läßt, daß sie aber, anscheinend untrennbar, mit diesem anderes verquickt, was wir unmöglich festhalten können, wovon wir uns befreien müssen. Daß so Notwendiges und Unmögliches bei uns zusammentrifft und vielfach ineinander verfließt, das versetzt uns in ein peinliches Schwanken zwischen dem Ja und dem Nein; wir sehen nicht, wo das eine sich gegen das andere abgrenzt, wir werden nach dem Wechsel der Stimmung bald hierher, bald dorthin gezogen. Um so mehr bedürfen wir einer überlegenen Tatsächlichkeit, die uns Wahres und Falsches scheiden, das Wahre aber miteinander verbinden und mutig in den Kampf führen lehrt. Ohne den Glauben an das Bestehen und das Wirken einer solchen Tatsächlichkeit wäre alles Streben nach Rettung vergeblich, auch unsere Untersuchung ruht auf einem solchen Glauben, sie wird getragen von der Überzeugung, daß in der Tiefe des Lebens Notwendigkeiten walten, die nicht an menschlicher Meinung hängen. Im Vertrauen auf solche Notwendigkeiten beginnen wir unser Werk.

Die Antworten der Zeit

Die älteren Lebensordnungen

Die religiöse Lebensordnung

Von den verschiedenen Lebensordnungen, die den Menschen der Gegenwart umwerben, wirkt am stärksten auf das Ganze noch immer die der Religion. Ein Erbe uralter Zeiten hat die Religion durch besondere Erfahrungen des ausgehenden Altertums eine herrschende Stellung erlangt; jene Zeiten ließen den Menschen sowohl die Nichtigkeit des gewöhnlichen Lebens als das eigene Unvermögen mit peinlicher Schärfe empfinden und erfüllten ihn zugleich mit einer tiefen Sehnsucht nach einem neuen Leben, ja einer neuen Welt. Ein solches Leben hat in unserem westlichen Kulturkreise das Christentum ausgebildet, es hat, nachdem das leidenschaftliche Verlangen nach Rettung der Seele sich später geklärt und gemildert hatte, ein religiöses Lebenssystem geschaffen und ihm alle Kulturarbeit angefügt; dies Lebenssystem hat durch die Kette der Jahrhunderte hindurch seine Macht bis zur Gegenwart behauptet und hält auch heute den Anspruch auf Beherrschung der Seelen noch aufrecht.

Diese religiöse Lebensordnung setzt mit einer heroischen Kraft die Welt, die uns umgibt, zu einer niederen herab und macht eine unsichtbare Welt des Glaubens und des Gemütes zur geistigen Heimat des Menschen; zugleich vollzieht sie eine energische Konzentration, indem sie zum alleinigen Ziel des Lebens und Strebens die Einigung mit dem Geist vollkommener Macht, Weisheit und Güte erhebt. Mit ihrer Einführung absoluter Maße wird sie der Quell aller Erhabenheit, die das menschliche Leben kennt, zugleich aber läßt sie, und sie allein, das Leben eine reine Innerlichkeit, ein volles Beisichselbstsein, gewinnen, indem es hier an erster Stelle ein Verhältnis von endlichem und unendlichem Geiste wird. Aus solcher Innerlichkeit vermag es den Menschen unvergleichlich mehr sich selbst zu erschließen, und lehrt es zugleich die Menschen sich gegenseitig besser verstehen und inniger miteinander fühlen. Das hier entwickelte Leben hat bei seinem Wurzeln in göttlicher Liebe eine große Weichheit und Zartheit, aber der Liebe verbindet sich eng die Heiligkeit einer sittlichen Ordnung und gibt dem Leben bei aller Innigkeit einen unermeßlichen Ernst.

In diesem Zusammenhange durfte der Mensch von sich und seinem Tun aufs Höchste denken. Als Ebenbild Gottes bedeutete er den Mittelpunkt der Wirklichkeit, um den sich das All bewegte, und dessen Tun über seine Geschicke entschied. Wohl hatte der Einzelne sich dem Ganzen des Gottesreiches gliedmäßig einzufügen, aber zugleich bildete er einen eigenen Kreis und wurde als ein Selbstzweck behandelt; zur Vollendung des Ganzen, das kein Glied missen durfte, gehörte auch seine Rettung.

Diesem Leben fehlte es nicht an Sorgen, Nöten und Schmerzen, die Höhe der Forderung und der weite Abstand des Menschen verhinderten alles bequeme Behagen und alles spielende Glück, ja das Gewicht von Leid und Schuld schien mehr zu wachsen als abzunehmen. Aber die Grunderfahrung der Religion, die Befreiung von drückender Schuld und die Schöpfung eines neuen Lebens durch göttliche Liebe und Gnade, hob den Menschen über den ganzen Bereich von Kampf und Not hinaus; die Einigung mit Gott ließ ihn ein vollkommenes Leben und hohe Seligkeit teilen, in die freilich für den Menschen immerfort der überwundene Schmerz hineinklingt. Wohl verblieb der Widerstand einer gleichgültigen, ja feindseligen Welt, aber in Zweifel versetzen und das Streben lähmen konnte er nicht. So war es kein leichtes Leben, das hier entstand, aber es war ein Leben voller Bewegung und in sicheren Zusammenhängen, es war kein leeres, kein sinnloses Leben.

So hat die religiöse Lebensordnung lange Jahrhunderte beherrscht, sie hat Individuen und ganze Völker verbunden, sie hat unzähligen Seelen sowohl eine kräftige Aufrüttelung als seligen Frieden gebracht. Ihr eigentümlich sind besonders die schroffen Kontraste, worin sie das menschliche Leben versetzt: die Gottheit zugleich in weltüberlegener Hoheit und in nächster seelischer Nähe (»Gott ist mir näher als ich mir selber bin«, Meister Eckhart), der Mensch verschwindend klein und doch zur Gemeinschaft mit dem Höchsten berufen, Liebe und Ehrfurcht, Milde und Ernst eng miteinander verflochten, tiefes Dunkel und strahlendes Licht, Elend und Seligkeit sich gegenseitig steigernd, ein Aufstieg zum Ja durch ein Nein hindurch, eine volle Anerkennung, aber zugleich auch Heiligung des Leides, in dem allen eine starke Bewegung, die allererst der Seele des Einzelnen wie dem Leben der Menschheit eine wahrhaftige Geschichte eröffnet und diese zum Kern aller Wirklichkeit macht, ein unablässiges Hinausstreben über alle Gegenwart bloßer Zeit, aber zugleich ein sicheres Ruhen in einer gegenwärtigen Ewigkeit. Eine so heroische Größe und zugleich eine solche Innigkeit hat das Leben an keiner anderen Stelle erreicht.

Trotzdem haben sich gegen dieses Leben starke Zweifel erhoben, Zweifel nicht bloß aus eitler Widerspruchslust flacher Seelen, sondern auch aus dem heiligen Ernst eines Ringens um lautere Wahrheit. Bedenken entstanden zunächst aus der eingreifenden Veränderung, welche seit Beginn der Neuzeit das Bild der Natur und bald auch das der Geschichte empfing, es ergab das wachsenden Widerspruch nicht nur an einzelnen Stellen, wie bei der Frage der Wunder, sondern die ganze Welt der Religion konnte von hier aus als zu eng und mit viel menschlicher Zutat behaftet erscheinen. Dieser Widerspruch der Weltbetrachtung läßt sich überschätzen, er läßt sich aber auch unterschätzen. Sicherlich ist Religion etwas anderes als bloße Weltanschauung, aber einen Widerspruch mit gesicherten Zügen des Weltbildes kann auch die Religion nicht ohne schweren Schaden ertragen; ihre Wahrhaftigkeit leidet darunter, wenn sie einer Auseinandersetzung mit ihm aus dem Wege geht. Tiefer freilich geht die schärfere Scheidung der geistigen Arbeit vom menschlichen Seelenstande, wie das moderne Denken sie vollzogen hat. Der Mensch konnte danach als ein Sonderwesen erscheinen, das ganz unfähig ist, die Welt in seine Begriffe zu fassen und ihre Tiefen zu ergründen; die Religion erschien von da aus leicht als ein bloßes Hineintragen menschlicher Bilder und Wünsche in das All, sie konnte diesem Gedankengange schließlich als ein bloßes Wahnbild erscheinen. Aber gegen das alles hätte sich kämpfen und die Grundwahrheit der Religion auch gegen den schroffsten Widerspruch durchsetzen lassen, wäre das Ganze des Lebens in der Verfassung geblieben, aus der die Wendung zur Religion hervorging. Hier aber war ein Umschlag erfolgt, der den Gesamtstand völlig verschob. Jene Wendung war in einem Bruch mit der nächsten Welt entstanden, zu einer Zeit, wo die Menschheit den Glauben an sich selbst und ihr Vermögen verloren hatte, wo sie im besonderen einen schweren moralischen Zwiespalt empfand, und wo nur das Ergreifen einer neuen Welt ihre geistige Vernichtung schien verhüten zu können. Nun aber hatten neue Völker in langen Jahrhunderten der Erziehung neue Kraft gesammelt, und diese Kraft strebte mit dem Beginn der Neuzeit nach voller Betätigung, die nächste Welt wurde ihr zum willkommenen Vorwurf, und das Wirken in ihr drängte die moralischen Probleme, drängte im besonderen den moralischen Zwiespalt der Seele weit in den Hintergrund. Wenn aber solche Wandlung des Lebensgefühls kein starkes Verlangen nach einer Erlösung und völligen Umwandlung aufkommen ließ, so verlor die Religion ihre seelische Nähe und ihre Überzeugungskraft; die Gefahr entstand, daß sie mehr als ein Erbstück der Vergangenheit fortgeführt wurde, als aus eigener Erfahrung hervorging, ja daß sie als eine bloß gesellschaftliche Einrichtung erschien und als solche aus Gründen der Wahrhaftigkeit hart angefochten wurde. Eine derartige Bewegung hat sich von der Höhe der Gesellschaft, wo sie entstand, immer mehr in die breiten Massen gesenkt; wie weit sie auch bei uns Deutschen um sich gegriffen hat, das würde noch deutlicher zutage treten, wenn nicht die sehr problematische Hilfe, welche bei uns der Staat der Religion noch immer zukommen läßt, den wirklichen Stand der Dinge schonend verdeckte. Auch dürfen wir nicht erwarten, daß der gegenwärtige Weltkrieg diese Lage wesentlich ändert. Gewiß bringt er mit seinen ungeheuren Gefahren und schweren Verlusten einen großen Ernst in die Stimmung und lenkt zwingend die Gedanken auf die Fragen des Geschicks und der Bestimmung des Menschen, auf die Fragen von Zeit und Ewigkeit. Aber einer einfachen Beantwortung dieser Fragen im Sinne der überkommenen Religion widerspricht der unabweisbare Eindruck des Wirkens eines dunklen Schicksals, das unbekümmert um menschliches Wohl und Wehe nur die blinde Notwendigkeit walten läßt, den einen opfert, den anderen rettet, wie es sich eben trifft. Auch das gewaltigste äußere Ereignis kann ohne ein inneres Entgegenkommen keine seelische Wandlung erzeugen; so dürfte auch dieser Krieg auf die Seelen verschieden wirken, je nachdem was sie an ihn bringen: er wird die Gläubigen gläubiger und die Ungläubigen ungläubiger machen; er wird die Religion wieder mehr als eine unabweisbare Frage empfinden lassen, aber eine Frage ist keine Antwort.

So kann es scheinen, als sei die Zeit der religiösen Lebensordnung abgelaufen, und als müsse die Religion als ein irreleitender Wahn aus dem menschlichen Leben verschwinden. Aber so einfach, wie ihre Gegner sich die Sache denken, ist diese nicht. Denn die Religion hat weit über alle Lehren und Einrichtungen hinaus in den Grundbestand des menschlichen Lebens eingegriffen und ihm Weiterbildungen gebracht, deren Preisgebung es einer kläglichen Verarmung ausliefern würde. Von ihr kam eine Befreiung von dem schweren Druck des Daseins, das uns sonst unbarmherzig umklammert; sie eröffnete mit ihrer Erhebung über dieses und ihrer Erschließung einer neuen Welt die einzige Möglichkeit, alles Unzulängliche und Verfehlte des menschlichen Lebensstandes vollauf anzuerkennen, ohne darüber die Festigkeit des Glaubens und den Mut des Handelns einzubüßen; mit ihrer Umkehrung des Lebens wurde sie ein Quell heroischer Größe und mit ihrer Vorhaltung absoluter Maße eine gewaltige Kraft der Aufrüttelung und nimmer fertigen Bewegung; die einzigartige Stellung, welche gemeinsame Schätzung der Menschheit der moralischen Aufgabe zuerkennt, rechtfertigt sich vollauf nur in der Welt der Religion; dazu ihre Entfaltung reiner Innerlichkeit – auch die eigentümlich deutsche Färbung des Ausdrucks Gemüt ist der Religion zu verdanken – , sowie ihr Vermögen, den Menschen wie der Menschheit der kaum erträglichen Vereinsamung in einem seelenlosen Weltall zu entziehen, der sie sonst verfallen sind; – wahrlich, wir können die flachen Seelen nur bedauern, die ohne Schaden und Schmerz glauben das alles aufgeben zu können; jedenfalls sind sie mit ihrer Flachheit nicht die berufenen Vertreter der Menschheit, und bringt ihre leichtherzige Verneinung die Sache nicht schon zum Abschluß. Aber zugleich bleibt alles bestehen, was sich gegen die Religion an Bedenken und Zweifeln erhob; so steht das Geistesleben der Gegenwart zwischen dem Ja und dem Nein in haltloser Mitte, und es ist uns die Religion, mit ihr auch die religiöse Lebensordnung, aus einem festen Besitz zu einem schweren Problem geworden; auch das Ewige, was sie enthalten mag, hat sich der Gegenwart neu zu bewähren, es ist zu einer offenen Frage geworden.

Die Lebensordnung des weltlichen Idealismus

Die Verwicklungen der Religion zu vermeiden, ohne die Tiefe des Lebens zu mindern, glaubt ein der Welt zugekehrter, sie umfassender und durchdringender Idealismus, ein Idealismus, der mit seiner Entfaltung einer Geisteskultur seit Jahrtausenden eine selbständige Art neben der Religion entwickelt, bald sie freundlich ergänzend, bald ihr als Feind begegnend. Die Lebensordnung des Mittelalters hatte diesen Idealismus ihren eigenen Überzeugungen angegliedert, die Neuzeit gab ihm eine wachsende Selbständigkeit, so daß er sich schließlich der Religion überlegen fühlte und ihr die Beherrschung des Lebens bestreiten konnte. Auch dieser Idealismus nimmt seinen Standort in einer unsichtbaren Welt, aber ihm bedeutet diese nicht ein neben dem sinnlichen Dasein befindliches, von ihr abgelöstes Reich, sondern seinen eigenen Grund, seine belebende Seele; daß das All nicht in das Nebeneinander der einzelnen Erscheinungen aufgeht, sondern eine dem äußeren Auge verborgene Tiefe besitzt, daß es ein Ganzes bildet und ein inneres Leben führt, das ist die Grundüberzeugung, mit der diese Lebensordnung steht und fällt. Aus solcher Überzeugung verbindet dieser Idealismus den Menschen eng mit dem All und läßt ihn sein Leben aus diesem schöpfen, aber zugleich gewährt er ihm eine einzigartige Stellung und ein ausgezeichnetes Werk. Denn alles Untermenschliche scheint das Leben bewußtlos und aus dunklem Zwange zu führen, es verwandelt das Vermögen des Ganzen nicht in den Besitz der einzelnen Stelle; dies aber geschieht beim Menschen, der den Gedanken des Ganzen denkt und dieses selbst damit weiterführt. Erst bei ihm erhebt sich die Welt zu voller Klarheit und Freiheit und erlangt damit ihre Vollendung; der Mensch darf groß von sich denken, indem sein Wirken so viel für das Ganze bedeutet.

Diese Lebensordnung bewegt sich vornehmlich um den Gegensatz von Innerem und Äußerem, von unsichtbarer und sichtbarer Welt. Das Innere hat als der Hauptträger des Lebens das Äußere zu ergreifen und zu beseelen, es tut das namentlich in Kunst und Wissenschaft, aber auch durch Entwicklung einer in der menschlichen Natur angelegten Moral; das Äußere aber ist unentbehrlich, um das Innere von mattem Umriß zu voller Durchbildung zu bringen. So entsteht ein geistiges Schaffen, das, getragen von einer Weltvernunft, gegenüber der gebundenen Natur, auch gegenüber der äußeren Ordnung des Menschenlebens, wie die Zivilisation sie vertritt, ein höheres Leben schafft, eine Geisteskultur, deren Wahres, Schönes, Gutes den Menschen den reichsten Gehalt gewinnen und den ganzen Umkreis des Daseins veredeln läßt. Dieses Leben bedarf keines außer ihm gelegenen Lohnes und ist nicht auf einen Nutzen gerichtet, es findet vollste Befriedigung in seiner eigenen Entfaltung und freudigen Selbstanschauung; bei unablässigem Wirken ruht es sicher im eigenen Wesen und bewahrt bei allem Streben ins Weite einen beherrschenden Mittelpunkt.

Dies Leben ist verschiedener Färbungen fähig, je nachdem Wissenschaft, Kunst oder Moral den leitenden Grundton geben, und an Kämpfen im eigenen Bereich hat es ihm nicht gefehlt. Aber alle Mannigfaltigkeit beläßt ihm der Religion gegenüber eine eigentümliche Art. Die Religion ist mehr auf die Schärfung, die Weltkultur mehr auf die Ausgleichung der Gegensätze bedacht; jene richtet das Leben auf einen Punkt, diese gibt ihm mehr Weite; jene sieht mehr Schwäche und Kleinheit, diese mehr Kraft und Größe am Menschen; ist sie es doch, die vor allem das Menschsein zu einem hohen Wertbegriff erhoben und Achtung vor allem geweckt hat, was menschliches Angesicht trägt; jene findet den Weg zur Lebensbejahung erst durch schwere Erschütterung und herbe Verneinung hindurch, diese glaubt sie durch vollste Anspannung eigener Kraft unmittelbar vollziehen zu können; jener gilt das Böse mehr als eine Verderbtheit, dieser dagegen als eine Schwäche und Mattheit des Wollens. Vielleicht mag ein Leben weiterer Art den Gegensatz umspannen und zu einer Ausgleichung führen, zunächst ist ein weites Auseinandergehen nicht zu verkennen.

Dieser weltliche Idealismus gewann eine besondere Höhe im altgriechischen Leben; im Mittelalter ein bloßer Nebenstrom, brach er in der Neuzeit mit frischer Kraft hervor, aus ihm entsprang bei uns Deutschen die Epoche geistigen Schaffens, welche wir unsere klassische nennen, und die uns den Ruf eines Volkes der Dichter und Denker eintrug.

Von den reichen Schätzen, welche die Gesamtbewegung des weltlichen Idealismus mit ihrer Geisteskultur erzeugte, zehren wir heute alle, und können uns gar nicht denken, wie sie zu entbehren wären. Aber mit dem Anspruch, das Leben zu führen, ist es dem weltlichen Idealismus nicht anders ergangen als der Religion: die Grundlage wurde erschüttert, das Grunderlebnis verdunkelt; so erhielten feindliche Mächte die Oberhand und vertrieben diese Gestaltung aus dem Mittelpunkte des Lebens. Daß die Welt eine Tiefe habe, und daß diese dem Menschen zugänglich sei, das ist jetzt dem vorwiegenden Zuge des Lebens nicht minder zweifelhaft geworden als die Grundwahrheiten der Religion. Der weltliche Idealismus hatte stets Mühe, seine Behauptung in vollem Sinne zu erhärten. Eine sichere Überzeugungskraft gaben ihm nur besondere Höhepunkte geistigen Schaffens, seltene Sonn- und Festtage der Menschheit, wo eine Gunst des Schicksals mit hohen Aufgaben der weltgeschichtlichen Lage selbstwüchsige Persönlichkeiten großen Stils zusammenführte; dann wurde allerdings eine unsichtbare Tiefe der Welt zu allergewissester Nähe und zum sicheren Standort des Handelns. Aber solche schaffenden Zeiten sind Ausnahmezeiten, und der Alltag übt sein Recht, jenes hohe Leben sinkt und zugleich sein Vermögen, den ganzen Menschen an sich zu ziehen und einzunehmen; aus der eigenen Betätigung wird dann ein bloßes Aneignen und Genießen überkommener Schätze, es verflacht damit das geistige Schaffen unvermeidlich zu einer bloßen Bildung, einer geschmackvollen Formung des Lebens; gewiß hat auch eine solche ihren Wert, aber sie bewegt nicht die letzten Tiefen des Lebens, und sie ist dem Dunklen, ja Dämonischen in der Menschennatur bei weitem nicht gewachsen; sie befreit nicht genügend von innerer Leere, und sie erleidet leicht dadurch Schaden an ihrer Wahrhaftigkeit, daß sie oft weniger aus einer Notwendigkeit eigenen Verlangens als der sozialen Umgebung halber gesucht wird. Alles in allem erscheint die Bildung mehr als ein Leben aus zweiter Hand, ein solches aber kann schwer den Angriffen Widerstand leisten, welche der Grundbehauptung erwachsen.

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