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Die Macht der Drei
Die Macht der Drei

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Die Macht der Drei

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Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Es war die vierte Nachmittagstunde des sechzehnten Juni. Vor der Tür im Schatten des alten Nußbaumes saß Mrs. Harte in ihrem Lehnstuhl, neben ihr in einem Korbsessel zurückgelehnt Jane. Das Köpfchen mit dem gleichmäßigen Profil in das Kissen gelehnt, auf welches das lichtblonde Haar reich und schwer niederfiel. Die Sonnenstrahlen drangen durch das Gezweig des alten Baumes und malten auf Haar und Wangen wechselnde Reflexe. Ein reizvolles Bild. Aber alles an dieser Erscheinung war wie hingehaucht. Man konnte vor solcher Zartheit erschrecken, die bei Menschen wie bei Blumen nur den vergänglichsten Blüten eigen ist.

Jane Harte beschäftigte sich mit einer Stickerei. Ihre schlanken Finger setzten geschickt Stich neben Stich und formten in schwerer Seide das Muster einer roten Rose. Aber ihre Gedanken waren nicht bei dieser Arbeit. Ihre Miene verriet, daß eine Sorge, ein Kummer sie drückte. Die Schatten unter den Augen sprachen von durchwachten Nächten, die Blässe ihrer Wangen steigerte noch das Ätherische ihrer ganzen Erscheinung. Mit einem Seufzer ließ sie die Arbeit sinken.

»Heute ist eine Woche vergangen, seit Silvester zum letztenmal bei uns war.«

»Du machst dir vielleicht unnötige Sorge, mein Kind. Ich denke, er hat eine plötzliche Reise unternehmen müssen … vergaß es in der Eile, uns zu benachrichtigen.«

»Vergessen?«

Ein bitterer Zug zuckte um Janes Mund.

»Jane, was hast du?«

»Laß, Mutter! Ich weiß, daß man in den Werken ebenfalls keine Erklärung für sein plötzliches Verschwinden hat. Man glaubt dort … und ich fürchte es … eine innere Stimme gibt mir die Gewißheit, daß er das Opfer eines Unglücksfalles oder vielleicht … eines Verbrechens geworden ist.«

Sie barg ihr Gesicht in die Hände und versuchte vergeblich, die fließenden Tränen zurückzuhalten.

»Unmöglich, Kind. Der harmlose, freundliche Mensch. Wer sollte ihm übelgesinnt sein? Außer uns verkehrte er mit niemand im Orte. Wie wäre es, wenn wir Dr. Glossin um Rat fragten. Er hat doch für diesen Nachmittag sein Kommen in Aussicht gestellt. Vielleicht kann er uns helfen.«

Jane ließ die Hände sinken.

»Dr. Glossin?«

Ein Zucken ging über ihre Züge. Ihre Augen öffneten sich weit, und ein Beben lief durch den schlanken Körper.

»Dr. Glossin … Ja … Er!«

Beinahe überlaut kam es von ihren Lippen. Grübelnd ruhten ihre Blicke auf dem dichten Blättergewirr über ihr. Die Gedanken jagten sich hinter ihrer Stirn. Sie versucht, einen ganz momentan und instinktartig aufgetauchten Verdacht zu ergründen … Vergeblich. Sie fand keinen Zusammenhang. Der gespannte Ausdruck ihrer Züge wich dem einer Enttäuschung. Was war das, was da einen Augenblick ganz klar vor ihrer Seele stand und sich dann wieder verwirrte und verdunkelte, so daß alle Zusammenhänge verlorengingen?

Das Einschnappen der Gartentür klang dazwischen und ließ sie auffahren.

»Ah, Dr. Glossin!«

Schreck und Erwartung kämpften in ihren Mienen.

»Sie riefen mich, meine liebe Miß Jane. Da bin ich. Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Sie kommen zur rechten Zeit, Herr Doktor«, wandte sich Mrs. Harte an den Besucher. »Seit einer Woche ist Mr. Logg Sar verschwunden. Wir stehen vor einem Rätsel. Helfen Sie uns, es zu lösen.«

Janes Blick hing unverwandt an dem Gesicht des Doktors. Ihre Augen blickten so fragend und angstvoll, als würde von dieser Stelle aus über ihr eigenes Leben entschieden.

»Ja, helfen Sie uns, Herr Doktor«, schloß sie sich der Bitte der Mutter an.

Es war klar, daß die beiden Frauen noch keine Ahnung von der Affäre in Sing-Sing hatten, und Dr. Glossin handelte danach.

»Oh, Mr. Logg Sar ist verschwunden? Da wäre es doch wohl das einfachste, wenn man sich an die Polizei wendete. Freilich müßte man glaubhaft machen, daß der begründete Verdacht eines Verbrechens vorliegt, denn sonst … man reist viel in den Staaten, und eine achttägige Abwesenheit eines jungen unabhängigen Mannes wäre noch kein Grund, den polizeilichen Apparat in Bewegung zu setzen.«

Dr. Glossin hatte seine Züge in der Gewalt. Jane, die ihn gespannt beobachtete, merkte keine Veränderung an ihnen, während er ruhig fortfuhr: »Ich will mich selbst mit der Polizei in Verbindung setzen, aber … aber vielleicht hat Mr. Logg Sar triftige Gründe …«

»Herr Doktor! Was soll das heißen?«

Jane rief es mit fliegender Hast. Sie schaute den Besucher mit großen, klaren Augen an. Doch nur auf Sekunden. Vor dem magnetischen Fluidum, welches aus den funkelnden Augen des Doktors auf sie überströmte, senkten sich ihre Augenlider schwer und furchtsam.

»Ich bin nur gekommen, um eine Kleinigkeit, die ich bei meinem letzten Hiersein vergaß, aus dem Laboratorium zu holen. Ich muß gleich wieder abreisen.«

Im Umdrehen suchte er nochmals den Blick Janes zu fassen, den diese beharrlich zu Boden gerichtet hielt. Einen Augenblick nur dauerte der stumme Kampf. Dann schaute das Mädchen besiegt zu dem Manne empor. Ihre Blicke versenkten sich ineinander.

»Eine kleine halbe Stunde, dann ist mein Geschäft erledigt.«

Der Doktor schritt dem Hauseingang zu.

»Bring mich ins Haus, liebe Jane. Die Sonne ist hinter dem Dach verschwunden. Mir wird kühl.«

Während Jane die herabgesunkene Decke um sie schlug, strich ihr die Mutter liebkosend über das bleiche Gesicht.

»Mein Liebling, es wird noch alles gut werden.«

»Möchtest du recht haben, liebe Mutter.«

Ruhig, fast eintönig sprach Jane die Worte. Im Hause bettete sie die Kranke auf einen Diwan und wandte sich zum Flur. Leise schloß sie die Tür und stand wie mit sich selbst kämpfend einen Augenblick still. Dann schritt sie dem Laboratorium zu.

Dr. Glossin kam ihr entgegen und führte sie zu einem bequemen Stuhl. Der suggestive Befehl war auf die Minute genau ausgeführt. Noch einmal versuchte sie es, sich zu erheben, aber es gelang ihr nicht. Eine unüberwindliche Kraft fesselte sie an ihren Sitz. Ihr Mund öffnete sich, als wolle sie rufen. Dr. Glossin streckte die Hände über Janes Haupt aus, und kein Ton kam von ihren Lippen. Ohne Kraft und Willen ließ sie ihren Kopf auf die Rückenlehne sinken. Sie war in jenem rätselhaften Zustand, in dem das körperliche Auge geschlossen ist, während die Seele Dinge wahrnimmt, die räumlich oder zeitlich in weiter Ferne liegen. Dr. Glossin zog seine Hand zurück und fragte: »Wo hat Logg Sar die Aufzeichnungen über seine Erfindung gelassen?«

Die Züge Janes strafften sich. Sie schien etwas zu suchen und schwer oder unvollkommen zu finden. Ihre Lippen öffneten sich und formten Worte einer fremden Sprache.

»Om mani padme hum.«

Eintönig wiederholte sie die vier Worte. Dr. Glossin hörte sie und verstand den Sinn nicht. Mit größter Konzentration stellte er die Frage noch einmal, gab er Befehl, das Versteck der Aufzeichnungen zu nennen. Die Antwort bestand immer wieder in diesen vier Worten, die ganz mechanisch, fast maschinenmäßig wiederholt wurden, wie wenn etwa ein Phonograph den gleichen Text ein dutzendmal herunterspielt.

Der Doktor ließ die Frage fallen und stellte eine andere.

»Wo ist Logg Sar jetzt? Können Sie ihn sehen? Können Sie hören, was er spricht?«

Abgebrochen und stoßweise kamen die Worte von Janes Lippen: »Ich sehe … Wolken … ein Schiff … ein Flugschiff … Logg Sar! Er trägt ein dunkles Kleid. Zwei Männer sind bei ihm … Das Schiff landet … Viel Heidekraut. Die Männer verlassen das Schiff … Das Schiff verschwindet. Logg Sar geht über die Heide … Es wird neblig. Ich sehe nichts mehr.«

Atemlos hatte Dr. Glossin Wort für Wort aufgefangen.

»In welchem Lande sind sie? Wo liegt das Land?«

»Ein Land im Norden … dunkle Tannen und Heidekraut … ein Haus an einem Fluß. Die Nebel steigen … Ich sehe nichts mehr …«

Dr. Glossin zwang sich zur Ruhe. Er wußte aus früheren Erfahrungen, daß es vergeblich war, weiterzufragen, wenn das Bild sich verschleierte. So setzte er die Nachforschung in anderer Richtung fort. Viel Hoffnung auf einen Erfolg hatte er nicht. Wenn die Vision schon bei Vorgängen abbrach, die, wenn auch weit entfernt, in der Gegenwart stattfanden, war wenig Aussicht, zeitlich zurückliegende Dinge zu erblicken. Aber er beschloß, den Versuch zu machen.

»Gehen Sie in Logg Sars Wohnung!«

»Ich gehe … die Johnson Street, die Washington Street … ich bin in dem Hause … ich trete in das Zimmer …«

»Blicken Sie sich genau um! Sind alle Gegenstände vorhanden? Oder fehlt etwas? Wurde in der letzten Zeit etwas aus dem Zimmer genommen? Blicken Sie rückwärts.«

Jane hob die Hände, als ob sie sich in einem dunklen Raum vorwärts tastete.

»Ich sehe … Logg Sar ist fortgegangen. Eine Person kommt. Ich erkenne sie. Es ist Dr. Glossin. Er sucht und findet nichts … Er geht wieder fort. Zwei andere Männer kommen. Der eine … ein Riese, blond, mit blauen Augen. Der andere dunkel. Ein Neger? … Nein, ein dunkler Mann. Sie suchen. Sie nehmen … Om mani padme hum … Om mani padme hum.«

Der Doktor ballte erregt die Hände.

»Om mani padme hum? … Schon wieder die sonderbaren Worte. Was bedeuten sie? Geben sie den Schlüssel? Wie finde ich die Lösung? … Verdammt daß die Zeit so knapp ist! In drei Stunden muß der Diktator seinen Bericht haben.«

»Om mani padme hum«, kam es automatisch von Janes Lippen.

»Was nehmen die zwei? Strengen Sie sich an! Versuchen Sie, deutlich zu sehen. Was nehmen die beiden Männer?«

»Papierstreifen … ich sehe eine kleine Handmühle … das Bild wird trübe. Die Nebel steigen.«

»Eine Mühle?«

Dr. Glossin zerbrach sich den Kopf. Eine Mühle? Was konnte Logg Sar für eine Mühle haben? Bei der Durchsuchung seines Zimmers hatte Dr. Glossin allerlei asiatische Erzeugnisse gesehen … vielleicht eine buddhistische Gebetmühle? Gab etwa der rätselhafte Spruch die Lösung nach dieser Richtung?

Dr. Glossin wußte, daß er es heute nicht mehr erfahren würde. Er legte die Hand aufs neue auf Janes Stirn. Im Augenblick vollzog sich eine Veränderung in ihrem Aussehen. Ihre Züge entspannten sich, und wie eine tief Schlafende saß sie in dem Stuhl. Der Arzt ließ sie zehn Minuten in dieser wohltätigen Ruhe. Dann strich er ihr wieder über die Augen und das Haar. Ein Strom mächtigen Willenfluidums drang durch die Nerven seiner Finger. Jane schlug die Augen auf und schien es für die selbstverständlichste Sache von der Welt zu halten, daß sie hier im Laboratorium saß.

»Ich bitte Sie, Miß Jane, lassen Sie alles machen, was sie für notwendig halten, und legen Sie mir die Rechnungen bei meinem nächsten Besuch vor. Ich möchte, daß das Laboratorium in gutem Zustande gehalten wird.«

»Jawohl, Herr Doktor. Es soll alles nach Ihren Wünschen besorgt werden.«

Jede Erinnerung an den vorangegangenen Zustand des Hellsehens war bei Jane geschwunden. So befahl es die retroaktive Suggestion, die Dr. Glossin ihr bei der letzten Berührung erteilt hatte. Sie verließ das Laboratorium mit dem Bewußtsein, eine einfache geschäftliche Unterredung mit dem Doktor geführt zu haben. Aber auch jede Sorge um Logg Sar, ja jede Erinnerung an ihn war wie weggewischt. Sie stand für den kommenden Tag unter dem suggestiven Befehl Glossins, war in jenem Zustande, der Silvester früher sooft zur Verzweiflung gebracht hatte. Der Doktor war sicher, daß sie vor dem Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden kein Interesse mehr an dem Schicksal des Verschwundenen nehmen würde. Obwohl sie ihn liebte, wie es Glossin mit Furcht und Eifersucht beobachtet hatte, obwohl sie sich als Silvesters Verlobte betrachtete, wovon Dr. Glossin noch nichts wußte.

Der Arzt blieb allein zurück.

»Drei Männer sind es. Ein dunkler dabei … das stimmt mit unseren Beobachtungen … Drei Personen sollen den Kraftwagen in Sing-Sing bestiegen haben … Sie sind im Luftschiff entflohen. Es ist kein Zweifel, daß es R. F. c. 1 war … Die anderen waren in seiner Wohnung und haben die Aufzeichnungen geholt und mitgenommen. Hier bricht die Spur ab. Ich werde sie an einem anderen Ende wieder aufnehmen … Telenergetische Konzentration … Gerhard Bursfeld kannte das Geheimnis. Sein Sohn hat es wiedergefunden. Vererbung … Zufall … Schickung? Wer weiß?«

Dr. Glossin erhob sich mit einem Ruck von dem Schemel.

»Wir müssen klar sehen, bevor Cyrus Stonard den Schlag wagt. Es wäre unmöglich, wenn die Gegner das Geheimnis besitzen.«

Mit zweihundertachtzig Metern in der Sekunde schoß R. F. c. 1 Kurs Nordwest zu Nord über den Lorenzgolf dahin. Land und See lagen dreißig Kilometer unter dem Rapid Flyer. Automatisch arbeiteten die Benzolturbinen des Kreuzers, und selbsttätig regulierte die einmal eingestellte Steuerung den Kurs und die Höhenlage.

Nur drei Personen befanden sich im Flugschiff im Zentralraum. In einem Korbsessel, leicht ausgestreckt, die Gestalt eines etwa Dreißigjährigen. Die Farbe seines Haupthaares war nicht zu erkennen. Es war ganz kurz geschnitten, wie rasiert. Die Farbe des Antlitzes zeigte eine Nuance in das Gelblich-Rötliche, wie man sie an Menschen der weißen Rasse kennt, die lange in den Tropen gelebt haben. Die hohe Stirn wies auf geistige Bedeutung. Ein schwarzer Anzug von eigenartig schlotterndem Schnitt umschloß die Glieder.

Ein anderer machte sich an den Hebeln und Reguliervorrichtungen zu schaffen, die von der Zentrale aus den Gang der Turbinen beeinflußten. Er war blond, blauäugig, von nordischem Typus. Eine jener hochgewachsenen reckenhaften Gestalten, wie man sie bis auf die Gegenwart in den Tälern von Darlekarlien bis hinauf zum Ulea und Tornea findet.

Ein Dritter durchspähte am Ausguck der Zentrale mit scharfem Glase den Raum unter dem Flugzeug. Braunhäutig, auch in seiner europäischen Tracht als indisches Vollblut kenntlich.

Die Unterhaltung wurde in wechselnder Sprache geführt. Bald schwedisch, bald deutsch. Bald wurde von allen Dreien fließend und geläufig ein reines Tibetanisch gesprochen und bald wieder Englisch. Sie wechselten die Sprache in irgendeinem Satze der Unterhaltung, wie gerade irgendein Wort den Anstoß dazu gab.

Silvester Bursfeld war es, der noch im Hinrichtungsanzug mit kahl geschorenem Schädel in dem Sessel ruhte.

Erik Truwor, der Schwede aus altem, warägischem Dynastengeschlecht, bediente die Hebel für die Maschinen und die Steuerung. Noch in der ernsten bürgerlichen Kleidung, in der er als Zeuge zu der Elektrokution gegangen war.

Soma Atma, der Inder, stand spähend am Ausguck. Jetzt ließ er das Glas sinken und wandte sich den beiden anderen zu.

»Wir sind durch! Der letzte amerikanische Kreuzer ist hinter uns aus dem Gesichtsfeld entschwunden.«

»Wir sind durch!« Erik Truwor wiederholte die Worte und stellte die automatische Steuerung fest ein. Mit frohem Lächeln wandte er sich zu Silvester Bursfeld.

»Das schwerste Stück liegt hinter uns! Ich denke, Logg Sar, wir sind in Sicherheit. Wir fahren im schnellsten Flugschiff der Welt. Ein zweites Schiff der Type existiert noch nicht. Jetzt haben wir Ruhe und können sprechen.«

Der Schwede trat ganz nahe an den Sitzenden heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Wir sind in Sicherheit, Logg Sar. Noch wenige Stunden, und wir stehen auf schwedischem Boden. Armer Freund! Sie haben dir böse mitgespielt. Wir haben es ihnen vergolten. Sie werden in Sing-Sing noch lange an den heutigen Tag denken. Du mußt ihn möglichst schnell vergessen.«

Silvester Bursfeld sammelte sich, bevor er stockend zu antworten begann. Die ungeheure Erregung der letzten vierundzwanzig Stunden führte jetzt zu der unausbleiblichen Reaktion.

»Weißt du, was es heißt, mit dem Leben abschließen zu müssen? Den Tod, einen schimpflichen und qualvollen Tod unaufhaltsam heranrücken zu sehen?«

Der Sprecher schauderte zusammen.

»Die Stunden werde ich nie vergessen. Plötzlich gefangen … eine Farce von einem Gericht … zum Tode verurteilt. Im Besitze des Rettungsmittels und unfähig, es anzuwenden … dann erblickte ich dich unter den Zeugen. Unsere Blicke trafen sich, und ich wagte ganz leise zu hoffen … Haben die anderen das Geheimnis gefunden?«

Erik Truwor hatte eine faustgroße Messingkapsel zwischen den Händen, ein reichverziertes, mit winzigen Glöckchen behangenes zylindrisches Gebilde. Er hielt die Kapsel in der Linken und drehte mit der Rechten mechanisch einen Knopf.

»Sie haben es nicht entdeckt. Nach dem ersten Besuche des Dr. Glossin kamen wir in deine Räume. Ich suchte, und Atma fand. Er sah den Tschosor …«

Der Schwede fiel bei dem tibetanischen Worte wieder ins Tibetanische.

»Atma öffnete die Gebetmühle und sah, daß der Text auf den Streifen nicht vom Kleinod im Lotos sprach. Wir lasen deine Anweisung. Einen halben Tag brauchte ich, um sie zu verstehen. Noch einen halben Tag, um die versteckten Teile zu finden und wieder zusammenzubauen. Dann hatten wir den Strahler! In seinem Besitze, in der Kenntnis des Geheimnisses war es uns leicht, die Maschine zu sprengen.«

Mit zitternden Händen griff Silvester Bursfeld nach der Gebetmühle und streichelte sie liebkosend.

»Das Geheimnis ist gerettet. Alles, was ich darüber schrieb, steht auf den Bändern. Ich will ihnen …«

Zorn und Erregung malten sich auf seinen Zügen.

»Ich will ihnen Brände und Stürme schicken, daß sie …«

Erik Truwor hob beschwörend die Rechte. Ein goldener Schlangenring von alter indischer Arbeit gleißte am vierten Finger. Ein Stein schimmerte darin in wundersamem Farbenspiel. Bald glänzte er tiefgrün, und dann wieder, wenn ein Strahl der elektrischen Lampe ihn traf, sandte er blutrotes Rubinlicht aus.

Atma trat hinzu. Der gleiche Ring erglänzte an seiner Hand wie an der seines Gefährten. In Überraschung und Staunen weiteten sich die Augen Silvesters. Zwischen den beiden Ringen wanderten seine Blicke hin und her und hafteten dann auf dem leeren Ringfinger der eigenen Hand.

»Die drei Ringe des Tsongkapa … Die alte Prophezeiung … Vom Anfang des Bogens der Wille … Vom Ende das Wissen … von Mitternacht … mein Ring fehlt …«

War es das Flimmern der Steine, war es der strahlende Blick des Inders, Silvester Bursfeld hielt stockend inne und schloß die Augen zu tiefem Schlaf.

Atma kehrte auf seinen Beobachtungsposten zurück.

Erik Truwor hantierte am Empfangsapparat der telegraphischen Station. Mit schnellen Blicken überflog er die Zeichen des aus dem Apparate quellenden Streifens. Dann ein Wink an den dunklen Gefährten. Der schob und drehte das schimmernde Aluminiumrad der selbsttätigen Steuerung, bis die schwarze Marke genau über der Spitze des nordweisenden Kreisels stand, der die Steuerung betätigte. In weit ausholendem Bogen gehorchte das Flugschiff der Steuerung und schoß über Labrador hin nordwärts gerichtet auf den Pol zu.

Der Schwede wies auf die Telegrammstreifen.

»Amerikanische Kreuzer auf Grönland und über Island. Wir müssen über den Pol gehen, um die Sperre zu meiden.«

Atma hörte, und ein stärkerer Glanz leuchtete in seinen großen strahlenden Augen.

»Gezwungen?«

»Gezwungen!«

Der Inder nahm die alte Weissagung da wieder auf, wo Silvester, in den Schlaf fallend, gestockt hatte.

»… Von Mitternacht kommt die Macht.«

Erik Truwor erschauerte. Er kannte die Weissagung. Der Moment trat ihm vor die Augen, als der greise Abt von Pankong Tzo ihm den Ring auf den Finger schob und dazu nur die Worte sprach: »Das ist der dritte!«

Es ging um die alte, so schwer deutbare Prophezeiung, an der sich die Ausleger seit siebenhundert Jahren versuchten. Erik Truwor war ein moderner Mensch. Er beherrschte das Wissen der Gegenwart, kannte als Ingenieur die Naturwissenschaft seiner Zeit. So hatte er den Ring genommen und hatte ihn mit den Blicken des Naturforschers betrachtet. Der Stein, eine Abart des Chrysoberyll, ein gut geschliffener Alexandrit, der die Eigenschaft besitzt, in natürlichem Lichte grün, in künstlichem rot zu leuchten. Die Prophezeiung … eine jener vielen aus der Vorzeit überkommenen dunklen Weissagungen, die man in jedem Jahrhundert auf die Ereignisse der Zeit zu deuten versucht. Erik Truwor wollte ihr skeptisch gegenüberstehen und brachte es doch nicht fertig. Zu sehr klangen die Worte des Tsongkapa mit alten dunklen Überlieferungen zusammen, die in seinem Vaterhaus umgingen. Zu sehr auch brachten sie in seinem Gemüt eine Saite zum Mitschwingen, die wohl nur leise angeschlagen zu werden brauchte, um zu klingen. Schon einmal sollten die Truwors vor mehr als tausend Jahren den Völkern in den weiten Steppen Rußlands einen Herrscher gegeben haben. Aber über diese geschichtliche Überlieferung ging die Legende hinaus, daß es nicht das letztemal gewesen sein sollte. Ein dunkles Grenzgebiet tat sich hier auf. Ein Ineinanderfließen grauer Vergangenheit und ferner Zukunft.

Erik Truwor hätte lächeln mögen, wenn er nicht im fernen Osten Dinge gesehen hätte, die ihm das Lachen verlegten. Dinge, für die das eherne Kausalitätsgesetz seine Wirkung zu verlieren schien. Erscheinungen, bei denen Zeit und Raum ihre Ausdehnung verloren. War es blinder Zufall oder war es irgendeine Fügung, daß sie jetzt infolge der erzwungenen Abweichung vom kürzesten Kurs direkt vom Pol her genau aus Mitternacht in ihre Heimat stoßen mußten?

»… Aus Mitternacht kommt die Macht«, sagte die alte Weissagung. Er entsann sich ihrer jetzt Wort für Wort.

»Vom Anfang des Bogens kommt der Wille«, das ließ sich auf Atma, den im fernen Osten Geborenen, deuten, der die Fähigkeit der Willensübertragung, der telepathischen Fernwirkung in übermenschlichem Maße besaß.

»Vom Ende das Wissen.«

Das mochte wohl auf den Mann gehen, der dort ruhig im Stuhle schlummerte und Erfindungen von so gewaltiger Tragweite gemacht hatte.

»Von Mitternacht kommt die Macht.« Wörtlich ließ es sich jetzt auf sie alle drei zusammen deuten …

Die Steuerung des Kreuzers wurde von Minute zu Minute unsicherer. Der steuernde Kreisel, dessen Achse an jedem Punkte der Erde auf den Polarstern weist, stand jetzt genau senkrecht.

Erik Truwor blickte durch die Scheiben nach unten. Wo die Wolken einen Durchblick ließen, wurden unendlich ausgedehnte Eis- und Schneeflächen sichtbar. Der Kreuzer stand genau über dem Pol. Wohin immer er jetzt fuhr, er mußte nach Süden fahren und aus Mitternacht kommen.

Mit fester Hand griff der Schwede in die Speichen der Steuerung. In weitem Bogen schwenkte das Schiff um einen Winkel von fünfundvierzig Grad und schlug den Kurs auf die Ostecke von Spitzbergen ein. Minuten verstrichen. Dann nahm der steuernde Kreisel ganz allmählich eine schräge Lage an. Die automatische Steuerung begann wieder zu arbeiten, und Erik Truwor konnte zur drahtlosen Station zurücktreten.

Atma wies ihm stumm den Papierstreifen, der inzwischen viele Meter lang unter dem Schreibrad hervorgequollen war … Aufregende Depeschen aus Amerika. Der Krieg mit England so gut wie sicher. Kühle Auslassungen von Washington. Dann wieder siedend heiße Telegramme der amerikanischen Presse. R. F. c. 1 spielte die Hauptrolle darin.

Die amerikanischen Wachtflieger sollten seine Landung in Schottland beobachtet haben. Der Äther war voll von gefährlichen Nachrichten.

Erik Truwor las, während die Stunden der Fahrt sich summten. Endlich hatten sie das offene Meer unter sich. Das Nordkap kam in Sicht. Gebirge, Fjorde, weite Flächen … alles noch in bläulichem Nebel verschwommen. Jetzt schoß der Flieger mit starkem Gefälle nach unten. Seine Geschwindigkeit nahm ab, als er in die dichteren Luftschichten eindrang. Dann senkte er sich mit stehenden Maschinen im Gleitflug und stand auf einer weiten, nur mit Heidekraut bewachsenen Fläche still.

Atma trat auf den Schläfer zu und strich ihm leicht über die Augen. Silvester Bursfeld erwachte und erhob sich erfrischt. Der magnetische Schlaf hatte die Spuren der erlittenen Anstrengungen und Leiden verwischt. Nur noch das kurze Haar und der ominöse Anzug erinnerten daran, daß er vor zehn Stunden zum Tode geführt werden sollte.

Als Erster sprang Erik Truwor aus dem Schiff und stand fest und sicher auf dem heimatlichen Boden. Sorglich half er Silvester beim Verlassen des Fliegers.

»Willkommen auf heimatlichem Boden! Willkommen, Silvester, im alten Schweden, in unserem Linnais! Ein neues Leben beginnt heute für uns alle. Deine Erfindung, Silvester, ist größer, als du selbst vielleicht denkst und ahnst. Das Schicksal hat uns viel gegeben. Wir werden uns der Gabe würdig zeigen müssen.«

Soma Atma war als der Letzte aus dem Flugschiff gesprungen. Seine Frage unterbrach den Gedankenflug Erik Truwors.

»Wohin mit dem Flugschiff? Hier darf es nicht stehen. Die Luft hat Augen.«

Silvester Bursfeld trat näher und strich liebkosend über die silbern schimmernde Wand des Schiffes. An den Körper einer Schwalbe erinnerte sein Rumpf. Schmal und schnittig, daß die Luft es noch sanft umstrich, wenn es mit Flintenkugelgeschwindigkeit durch den Äther dahinschoß. Der Rumpf vom langausgezogenen Steuerschwanz bis zum Motorkopf kaum zwölf Meter lang. Die Schwingen zu ebener Erde jetzt zusammengefaltet und an den Rumpf gelegt wie die Flügel einer ruhenden Schwalbe. In der dünnen Atmosphäre, in dreißig Kilometer Höhe, da reckten sich diese blanken Flächen aus, streckten sich von innen her gespreizt weit nach beiden Seiten, bis sie fünfzig Meter klafterten.

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