Plötzlich fing Chester an zu bellen und riss Lacey aus ihren besorgten Grübeleien heraus. Als sie aufsah, stellte sie fest, dass das Ledergeschäft direkt vor ihnen war. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie fast daran vorbeigefahren wäre.
„Danke, Chester“, sagte sie zu ihrem Welpen.
Er bellte stolz.
Sie lenkte den Lieferwagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Dann sprangen Chester und sie in den strahlenden Sonnenschein hinaus und betraten das Ledergeschäft.
Es war von innen viel größer als Lacey erwartet hatte. Eine große steile Holztreppe zu ihrer Linken deutete darauf hin, dass es neben der Etage, die sie betreten hatte, noch eine weitere gab, die sich endlos weit nach hinten zu erstrecken schien. Als Lacey sich umblickte, sah sie, dass der Laden sowohl neue als auch alte Lederwaren führte, von Cowboystiefeln bis hin zu marokkanischen Sandalen, die direkt aus Marrakesch importiert worden waren, gab es hier einfach alles. Der Geruch war ein wenig überwältigend – Lacey bevorzugte den staubigen, metallischen Geruch von Antiquitäten – und es war sehr dunkel. Die schmalen Gänge waren mit Lederwaren vollgestopft. Handtaschen baumelten von der Decke und es gab zahlreiche Regale, die mit Jacken und hautengen Hosen gefüllt waren, von denen Lacey sicher war, dass sie schon in den achtziger Jahren aus der Mode gekommen waren. Der Laden war so vollgestopft, dass Lacey nicht einmal wusste, wo sie anfangen sollte, nach den antiken Gegenständen zu suchen, wegen denen sie gekommen war.
Sie zwängte sich durch die Gänge und bahnte sich ihren Weg an zwei Schaufensterpuppen – einem Mann in einem Wildlederanzug und einer Frau im Domina-Outfit (sogar mit Peitsche) – vorbei, bevor sie sich an dem erhöhten Tresen wiederfand, hinter dem ein Mann stand. Er war älter, hatte einen langen grauen Bart und trug eine schwarze, mit Quasten besetzte Lederweste über einem weißen T-Shirt, das in einer hellblauen Jeans steckte. Lacey fand, dass er aussah wie ein motorradfahrender, gitarreschwingender Rockstar. Oder zumindest wie ein pensionierter Rockstar.
Sie blickte zu ihm auf. „Könnten Sie mir zeigen, wo ich die Reitausrüstung finden kann? Auf Ihrer Website stand, dass Sie auch alte Sandwichkoffer, Feldflaschen und Flachmänner verkaufen.“
„Solange es aus Leder ist, haben wir irgendwo mindestens einen Artikel davon“, sagte er. Seine Stimme war viel sanfter als sein Aussehen vermuten ließ. „Kommen Sie mit.“
Lacey folgte dem Mann, der, nachdem er von dem erhöhten Tresen hinuntergestiegen war, kleiner war als sie. Geschickt bewegte sich der schlanke Mann durch die Gänge. Lacey musste sich beeilen, um Schritt zu halten. Offensichtlich kannte er den Laden sehr gut und Lacey vermutete, dass er der Besitzer war.
Sie erreichten die steile Holztreppe und stiegen hinauf. Das Holz knarrte unter ihnen. Lacey sah, dass der nächste Stock genauso vollgestopft war wie das Erdgeschoss.
„Ihre Auswahl ist beeindruckend“, sagte sie und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Ich bin jetzt schon seit dreißig Jahren hier“, antwortete er. „Im Laufe der Jahre hat sich eine ganze Menge angesammelt.“
„Das sieht man.“
Er führte sie in den hinteren Bereich des Ladens.
„Steigen Sie auch in den Sattel?“, fragte der Mann.
„Motorradsattel?“, fragte Lacey, die annahm, er würde sich auf seine Kleidung beziehen.
Er lachte. „Nein. Pferdesattel.“
„Oh!“ Lacey lachte ebenfalls. „Nein, ich bin Antiquitätenhändlerin und Auktionatorin. Ich veranstalte eine Auktion zum Thema Pferde, daher mein Interesse.“
„Interessant“, sagte der Mann. „Ich stehe auf Vintage, wie Sie wahrscheinlich sehen können, aber von Antiquitäten habe ich keine Ahnung.“
Sie erreichten die Abteilung des Ladens, die dem Thema Reitsport gewidmet war, und Lacey sah, dass neue und alte Stücke miteinander vermischt waren. Er hatte nicht gelogen, als er behauptet hatte, dass er keine Ahnung hatte. Auf den meisten handgeschriebenen Etiketten standen so banale Dinge wie ‚alte Tasche‘. Es würde ewig dauern, bis sie sich durch alle Artikel durchgearbeitet hatte.
„Haben Sie sowas in der Art gesucht?“, fragte er.
„Mhm-hm.“
„Sind Sie sich da sicher? Denn Sie sehen etwas enttäuscht aus.“
„Es tut mir leid“, sagte Lacey. Als sie ihre Gesichtszüge wieder entspannte, fiel ihr auf, wie sehr sie die Stirn gerunzelt hatte. „Ich glaube nur, dass es eine Weile dauern wird, bis ich alles gefunden habe, was ich suche.“
„Ich kann helfen“, sagte der Mann. „Und Sie können mir nebenbei ein bisschen was über Antiquitäten beibringen.“
„Okay“, sagte Lacey und nahm sein Angebot an. „Danke.“ Sie zog ihr Handy hervor und zeigte ihm die Fotos von den Gegenständen, die sie haben wollte. „Das sind Sandwichboxen oder Sattelfeldflaschen. Die werden an den Sattel gehängt, damit der Reiter sich etwas zu essen mitnehmen kann.“
„Davon habe ich ungefähr eine Million“, sagte er, bevor er in einem anderen Gang verschwand.
Lacey sah Chester an und zuckte die Achseln. Vielleicht würde das hier doch nicht so lange dauern, wenn sie Hilfe hatte.
Wenige Augenblicke später kehrte der Mann zurück und schob einen großen Wagen mit der Aufschrift verschiedene Taschen vor sich her, kippte ihn um und schüttete den gesamten Inhalt auf den Boden, wo er sich zu einem Lederhaufen auftürmte.
„Sie haben keine Scherze gemacht“, sagte Lacey und fühlte sich schwindlig, wie ein Kind, dem man gerade einen Haufen Spielzeug vor die Füße geworfen hatte. Sie setzte sich auf den Boden neben den Haufen, bereit, mit der Schatzsuche loszulegen. „Als nächstes suche ich Sattelfläschchen, so wie diese hier.“ Sie reichte ihm ihr Handy, um ihm das Bild zu zeigen, und er machte sich an die Arbeit.
Lacey begann, den Taschenberg zu durchwühlen. Alle, die in schlechtem Zustand waren, und Nachahmungen legte sie beiseite, in der Hoffnung, ein paar zu finden, die für ihre Auktion geeignet waren. Dann fand sie genau, was sie gesucht hatte: einen dunkelbraunen Swaine-Brigg-Sandwich-Koffer mit der originalen Silberdose darin. Sowohl die Tasche als auch die Dose waren in einwandfreiem Zustand, und Lacey war zuversichtlich, dass sie bei der Auktion ein paar hundert Pfund dafür bekommen würde. Sie legte die Tasche auf den Stapel, den sie mitnehmen würde, und suchte weiter. Als nächstes fand sie einen gebogenen Sandwich-Koffer. Auf der Innenseite des Rehleders befand sich ein schwarzer Stempel: „James Dixon & Sons, Sheffield“ sowie die Jahreszahl 1879. Und auch in diesem Koffer befand sich die originale silberne Sandwich-Dose, ebenfalls in tadellosem Zustand. Sie wanderte ebenfalls auf den „Behalten-Stapel“.
Als nächstes fand sie einen Champion & Wilton-Seitensattelkoffer aus hellbraunem Leder, komplett mit Flachmann und Sandwich-Dose, gefolgt von einer Reiterschultertasche, die so gebogen war, dass sie bequem am Körper anlag, mit der dazu passenden gebogenen Sandwich-Dose und dem Flachmann.
„Chester, das ist wie Weihnachten“, schwärmte Lacey, als sie die Dinge auf ihren Haufen legte.
Schläfrig hob Chester den Kopf von seinen Pfoten und gähnte.
„Freut mich, dass Sie Spaß haben“, sagte der Verkäufer und kam mit einer großen Schachtel zurück.
„Sind das alle Fläschchen?“, fragte Lacey überrascht.
„Ich konnte nur ein paar finden“, sagte er. „Aber ich dachte, Sie würden sie sich diese hier vielleicht gerne ansehen.“ Er zog einen Stiefel aus der Schachtel.
Lacey sprang auf. Es war ganz eindeutig ein Reitstiefel aus der Kavallerie-Zeit im Ersten Weltkrieg. „Bitte sagen Sie mir, dass der zweite Stiefel auch da drin ist“, sagte sie und ihre Aufregung wurde immer größer.
Er grinste. „Da sind etwa zehn Paar drin.“
Er ließ die Kiste sinken, damit Lacey hineinsehen konnte. Darin befanden sich zehn Paar Reitstiefel, alle in verkaufsfähigem Zustand.
„Sie haben recht“, sagte sie lächelnd. „Die will ich mir unbedingt ansehen!“
Während Lacey die Stiefel auf Verschleiß und Spuren von Abnutzung inspizierte, setzte sich der Angestellte. „Was hat Sie dazu bewogen, sich auf Reitausrüstung zu spezialisieren?“, fragte er. „Wenn Sie gar nicht reiten.“
„Ich veranstalte eine Auktion für das Sommer-Reiterfest“, erklärte Lacey. „Ich komme aus Wilfordshire.“
„Wilfordshire?“, fragte der Mann mit einem Hauch von Anerkennung in der Stimme. „Ich habe mal einen Antiquitätenhändler aus Wilfordshire gekannt.“
„Etwa die Gräfin?“ fragte Lacey mit einem Lächeln, als sie sich an Belindas Geschichte erinnerte. „Ich habe einige interessante Geschichten über sie gehört.“
„Nein, es war ein Mann“, antwortete er. „Ein Amerikaner, genau wie Sie. Wenn ich es mir recht überlege, hat er Ihnen sogar ein bisschen ähnlich gesehen.“
Lacey spürte sofort, wie das Blut aus ihrem Gesicht strömte. „War sein Name Frank?“
„Das war's! Frank der Ami!“ Er schnippte mit den Fingern und grinste. „Kennen Sie ihn?“
KAPITEL VIER
Lacey versuchte, sich wieder zu sammeln. Sie verspürte den überwältigenden Drang dem Lederwarenhändler eine Million Fragen zu stellen, doch sie wollte dem Mann nicht verraten, dass er möglicherweise über ihren lange verschollenen Vater sprach. Sie bemühte sich, ganz beiläufig zu klingen, als ob Frank nur ein gemeinsamer Bekannter wäre.
„Ich kenne Frank von der Arbeit“, sagte sie. „Und Sie?“
„Ich auch“, sagte der Lederhändler. „Frank ist durchs Land gereist, um seinen Bestand aufzustocken. Nach London. Poole. Wilfordshire. Ich glaube, er hatte einen Laden in Canterbury, habe ich recht?“
„Ja, ich glaube schon“, sagte Lacey atemlos.
Canterbury. Da war er wieder, der Hinweis, den Xavier entdeckt hatte. Der Hinweis, der von der Botschaft, die ein Mann namens Frank seiner Geliebte auf der ersten Seite der Canterbury Tales hinterlassen hatte, indirekt bestätigt worden war. Hinzu kamen Laceys Kindheitserinnerungen an ihren Sommerurlaub in Wilfordshire, bei dem ihre Mutter sich geweigert hatte mitzukommen. Naomi hatte damals in einem Antiquitätengeschäft, das von einer wunderschönen Frau geführt worden war, eine Statue zerbrochen, und alles begann sich zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen.
Ihr Herz pochte heftig. „Ich nehme an, Sie haben mittlerweile keinen Kontakt mehr zu Frank, oder?“, fragte sie.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er ist vor kurzem weggezogen. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sein Geschäft geschlossen wurde.“
Lacey spürte einen plötzlichen, heftigen Schmerz in ihrer Brust, als wäre sie gerade in den eisigen Ozean gesprungen. „Er ist nicht mehr dort? Sind Sie sich da sicher? Ich weiß, dass sein Geschäft in New York City geschlossen hat, aber ich wusste nicht, dass auch sein Geschäft in Canterbury nicht mehr existiert. Sie schluckte den harten, panischen Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, herunter.
„Ja. Wirklich schade. Er war ein reizender Kerl. Ich frage mich, wo er jetzt ist.“
Er hielt inne und ließ die quälende Frage, über die Lacey so viele Jahre lang nachgegrübelt hatte, zwischen ihnen stehen.
Dann sagte er: „Es überrascht mich, dass Sie Frank von der Arbeit kennen. Sie sehen viel zu jung aus, um seine Arbeitskollegin zu sein! Ich hätte Sie nicht einen Tag älter als vierzig geschätzt.“
Lacey rang sich ein Lächeln ab. Was hätte sie davon, diesem Mann zu sagen, dass er recht hatte, dass sie zu jung war, um Franks Arbeitskollegin zu sein, weil sie nämlich seine Tochter und keine Geschäftspartnerin war, und dass er sie als Kind verlassen hatte?
„Ich nehme an, Sie wissen nicht, wo er hin ist, oder?“ fragte Lacey. Sie gab sich die größte Mühe, ruhig zu bleiben, aber sie konnte hören, dass ihre Stimme zitterte.
„Keine Ahnung“, sagte der Mann und zuckte die Achseln. „Vielleicht weiß es jemand von Sawyer's.“
„Sawyer's?“, fragte Lacey.
„Sawyer & Sons“. Das große Auktionshaus in Dorchester. Sie können doch keine Kollegin von Frank sein und Sawyer nicht kennen! Er war eine Zeit lang jedes Wochenende dort.“
„Das muss mir entfallen sein.“
Lacey konnte all diese neuen Informationen kaum aufnehmen. Zu erfahren, dass ihr Vater einen Laden in Canterbury eröffnet hatte, aber vor kurzem weitergezogen war, fühlte sich unglaublich grausam an. Das war fast noch schlimmer, als wie wenn sie nie erfahren hätte, dass er dort überhaupt einen Laden gehabt hatte. Und dann auch noch einen Einblick in das Leben zu bekommen, das er in England geführt hatte – wo er das Auktionshaus Sawyer & Sons jedes Wochenende besucht hatte – erweckte ein merkwürdiges Gefühl in ihr. Als wäre sie ein Eindringling oder so. Wie es sich anhörte, war er in dieselbe Routine zurückgefallen und hatte denselben Lebensstil geführt, den er in New York City hinter sich gelassen hatte, nur diesmal ohne Frau und Kinder. War das etwa das Einzige, was er in seinem Leben hatte ändern müssen? Waren sie der einzige Grund, warum er gegangen war?
„Ich habe einen Flyer“, fügte der Mann hinzu. Er nahm eine glänzende Broschüre von seinem Schwarzen Brett und reichte sie Lacey. „Da sind alle Auktionen von Sawyer & Sons aufgelistet, die dieses Jahr stattfinden.“
Lacey überflog die Broschüre. Die Karte auf der Rückseite zeigte, dass das Auktionshaus in Dorchester nicht weit von ihrem nächsten geplanten Stopp in Weymouth entfernt war. Es wäre kein großer Umweg, wenn sie kurz dort vorbeischauen würde, auch wenn ihr Herz dabei vielleicht noch mehr in Mitleidenschaft gezogen werden würde.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie dieses Risiko eingehen musste. Sie hatte sich entschieden, keinen Abstecher nach Canterbury zu machen, während sie in Dover in der Nähe Urlaub gemacht hatte, und diese Entscheidung könnte sie durchaus die einzige wirkliche Spur gekostet haben, den sie zu ihrem Vater gehabt hatte.
Sie bezahlte ihre Waren, bedankte sich bei dem Besitzer des Ledergeschäfts für seine Hilfe und machte sich dann mit Chester auf den Weg zum Lieferwagen. Nachdem sie alles darin verstaut hatte, rief sie in ihrem Laden an, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung war.
„Wie läuft‘s?“, sagte sie in ihr Handy.
„Viel los“, ertönte Ginas Stimme an ihrem Ohr. „Wie läuft es bei der der Schatzsuche?“
Lacey überlegte, ob sie Gina erzählen sollte, was sie über ihren Vater erfahren hatte, entschied sich dann jedoch dagegen. Es laut auszusprechen, würde die Sache irgendwie realer machen, und dazu war sie noch nicht bereit.
„Erfolgreicher, als ich erwartet hatte“, sagte sie ausweichend.
„Also, ich habe gerade mit den Druckern telefoniert“, sagte Gina. „Wie sich herausgestellt hat, haben sie morgen geschlossen, sie können die Plakate also nur heute drucken. Deswegen habe ich ihnen einfach grünes Licht gegeben.“
Nach allem, was sie gerade über ihren Vater erfahren hatte, waren die Plakate so ziemlich das Letzte, woran Lacey im Moment dachte. „Alles klar. Ich vertraue dir. Solange ein Pferd auf dem Plakat ist, muss ich es nicht vorher sehen.“
„Ja, ja. Da ist ein Pferd drauf. Eine Art von Pferd zumindest.“
Lacey schloss die Augen und das Herz rutschte ihr in die Hose. „Eine Art von Pferd? Was soll das heißen?“
„Naja, ich habe das Bild aus dem Internet“, erklärte Gina. „Ich habe nach ‚Rennpferd‘ gesucht und das Bild direkt von der Seite mit den Ergebnissen heruntergeladen. Ich bin also nicht auf die eigentliche Website gegangen.“
Lacey gefiel die Richtung nicht, die dieses Gespräch nahm. „Sprich weiter …“
„Mir ist erst im Nachhinein aufgefallen, dass das Bild von einer Rettungsstation stammt, einer Wohltätigkeitsorganisation für Pferde, die im Ruhestand sind. Du weißt schon, die keine Rennen mehr laufen, weil sie zu alt sind. Also es ist ein Pferd, nur eben ein sehr altersschwaches.“
Lacey seufzte. Gut, dass die Aufgabe nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. „Hoffentlich fällt es niemandem auf“, sagte sie. „Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen. Ich mache einen kleinen Abstecher zu einem Auktionshaus ein paar Kilometer weiter, das ich mir ansehen möchte. Mal sehen, ob ich da vielleicht neue Kontakte knüpfen kann.“
„Natürlich“, erwiderte Gina reumütig. Lacey konnte regelrecht hören, wie sie mit den Augen rollte. „Dann werde ich also die Kasse machen und heute Abend abschließen?“
Ein vertrautes Gefühl von Schuld stieg in Lacey auf. Sie musste sich daran erinnern, dass Gina ihre Angestellte war. Das Erledigen von Routineaufgaben gehörte nun einmal zu ihrer Stellenbeschreibung. „Wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, um mich darum zu kümmern, dann ja.“
„In Ordnung“, seufzte Gina.
Lacey legte auf und sah Chester an. „So wie sie mit mir spricht, könnte man fast meinen, ich würde sie nicht bezahlen! Dabei habe ich ihr sogar dieses große Hydrokultursystem besorgt, wegen dem sie monatelang herumgeheult hat.“
Sie rollte mit den Augen und drehte den Schlüssel in der Zündung herum. Der Wagen sprang stotternd an. Als sie die Hafenstraße entlang in Richtung Dorchester fuhr, betrachtete sie das Ledergeschäft im Außenspiegel. Als sie den Laden betreten hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie mit etwas viel Kostbarerem als Antiquitäten wieder fahren würde: einer heißen Spur zu ihrem Vater.
KAPITEL FÜNF
Das Auktionshaus Sawyer & Sons befand sich auf einer Art englischem Landgut. Laceys Mutter und ihre Schwester würden töten, um dort zu leben. Efeu rankte sich an den verwitterten roten Ziegelsteinen hinauf und um die weißen Fensterrahmen im zweiten Stock. Auf dem Kiesplatz vor dem Haus standen teure Geländewagen. Lacey konnte nicht umhin, rot zu werden, als Toms hässlicher Wagen lärmend neben ihnen zum Stehen kam.
Lacey überprüfte noch einmal die Broschüre, die der Lederwarenhändler ihr gegeben hatte.
„Heute findet eine Auktion statt“, sagte sie zu Chester und warf einen Blick auf die digitale Uhr im Wagen. „Sie beginnt in einer Viertelstunde. Wir müssen uns beeilen, wenn wir einen der Sawyers erwischen wollen.“
Sie sprang aus dem Wagen. Chester tat es ihr gleich. Gemeinsam stiegen sie die Steinstufen hinauf und traten durch die großen Türen des Herrenhauses.
Das Foyer war so prunkvoll und voller Menschen, dass Lacey eher das Gefühl hatte, in einem Theater zu sein und nicht in einem Auktionshaus. Sawyer's war eindeutig eine edle Einrichtung. Sie konnte nicht anders, als sich in ihrer lässigen Kleidung ein wenig fehl am Platz zu fühlen.
Ein Schild über ihrem Kopf zeigte an, dass es direkt geradeaus zum Büro für Bezahlung und Abholung ging. Bitte warten Sie mit der Abholung bis fünf Minuten nach dem Kauf, stand dort. Der Auktionssaal befand sich hinter den Türen auf der rechten Seite, also ging Lacey nach links in den Ausstellungsraum, wo alle Lose der kommenden Auktion ausgestellt waren.
Der Ausstellungsraum war so groß wie ein Ballsaal und voller wunderschöner Antiquitäten. Auf zwei Tischen im Bankettstil, die in der Mitte des Raumes standen, waren Ornamente, Schmuck, Porzellan und Kunst ausgestellt und an den Wänden standen große Möbelstücke.
Lacey spürte einen Anflug von Freude in ihrer Brust. Hier ging der Traum eines jeden Antiquitätenhändlers in Erfüllung. Das war genau die Art von Laden, die sie eines Tages führen wollte. Die Art von Ort, an dem ihr Vater sich schnell verlieren würde …
Eine Schwere legte sich auf ihre Schultern, als ihr einfiel, warum sie überhaupt hierhergekommen war; nicht, um nach Antiquitäten zu jagen, sondern um nach Hinweisen zu suchen, wo ihr Vater abgeblieben sein könnte.
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Am anderen Ende der Halle stand ein elegant gekleideter Mann. Durch seinen formellen schwarzen Anzug war sofort zu erkennen, dass er der Auktionator bei Sawyer & Sons war.
Lacey machte einige Schritte auf den Mann zu, der jedoch genau in diesem Moment von einem Kunden angesprochen wurde. Sie hielt inne. Chester blickte sie fragend an.
„Ich möchte ihn nicht unterbrechen, wenn er gerade mit einem Kunden beschäftigt ist“, erklärte sie.
Chester schnaubte, fast als wüsste er, dass der wahre Grund, weshalb sie stehen geblieben war, der war, dass sie Zeit schinden wollte und sich deshalb einfach auf die erstbeste Ausrede stürzte, um nicht mit dem Mann zu sprechen. Denn wenn er tatsächlich wusste, was mit ihrem Vater passiert war, was kam dann als Nächstes? Die Angst zu wissen, was mit ihrem Vater geschehen war, schien plötzlich schlimmer zu sein als die Unsicherheit, an die sie sich all die Jahre gewöhnt hatte.
Der Mann im Abzug ging mit dem Kunden davon, um sich um sein Anliegen zu kümmern.
„Sehen wir uns doch die Möbel an, bis er Zeit hat“, sagte Lacey eilig und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Chester schnaubte erneut und trottete ihr hinterher.
Lacey betrachtete gerade abwesend eine Schreibkommode aus Walnussholz, als eine Stimme neben ihr sagte: „Was für ein wunderschöner Hund.“
Als sie sich umdrehte, sah sie, dass ein Mann neben Chester in der Hocke gegangen war und ihn streichelte. Er war ziemlich elegant gekleidet und trug eine sandfarbene Anzugsjacke, ein weißes Hemd und eine beige Hose. Sein Haar war dunkelblond und lockig.
„Ich bin ein großer Fan von Border Collies“, fügte er hinzu und blickte mit strahlenden blauen Augen zu Lacey auf. Er lächelte, und auf seinen Wangen erschienen Grübchen.
„Er ist ein English Shepherd“, erklärte Lacey.
Als der Mann lachte, blitzten seine perlweißen Zähne hervor. „Ah, Sie sind Amerikanerin. Hier drüben nennen wir sie Border Collies.“
„Ach ja?“, sagte Lacey überrascht. „Das muss ich mir merken.“ Damit konnte sie Gina beeindrucken, wenn sie wieder in Wilfordshire war.
„Das ist eine schöne Rasse, nicht wahr?“, fuhr der Mann fort. „Ich habe als Kind einen Collie bekommen, nur weil ich Colin heiße.“ Er kicherte. „Aber letzten Endes war es eine tolle Idee! Die Hündin ist seitdem meine ständige Begleiterin.“
Er zerzauste Chesters Fell und Lacey warf einen Blick über ihre Schulter, um nach dem Sawyer Sohn Ausschau zu halten. Sie fand ihn und er war wieder allein. Jetzt war die Gelegenheit, um mit ihm über ihren Vater zu sprechen. Aber Lacey war zu nervös, um sich auch nur zu bewegen.
„Tut mir leid“, sagte Colin plötzlich. „Ich kaue Ihnen das Ohr ab, nicht wahr?“
„Ganz und gar nicht“, sagte Lacey und drehte sich um, verlegen, weil sie unhöflich gewesen war, und dankbar, weil sie eine Ausrede hatte, nicht rüberzugehen. „Sie haben mir von Ihrem Collie erzählt.“
Colin hörte auf, Chester zu streicheln und stand auf. Er war groß und schlank. Lacey schätzte ihn auf Mitte bis Ende vierzig.
„Stella“, sagte er. „Sie ist zu Hause. Leider ist sie mittlerweile viel zu alt, um lange unterwegs zu sein. Aber als sie noch jünger war, hat sie Versteigerungen geliebt.“ Wieder lächelte er. „Wie heißt Ihr Hund?“
„Chester“, sagte sie und sah zu, wie ihr Hund mit der Nase voran um den Sockel der Walnusskommode herumlief und dabei interessante, jahrhundertealte Düfte beschnupperte. „Ich habe ihn adoptiert, als ich nach Großbritannien gezogen bin. Eigentlich hat er eher mich adoptiert.“
„Er ist bestimmt ein Schnäppchen-Spürhund, oder?“, scherzte Colin, als Chester seine zweite Runde um die Kommode drehte.
Lacey kicherte. „Er hilft gerne.“
In diesem Moment ertönte eine Stimme über die Lautsprecher. „Meine Damen und Herren, wenn Sie jetzt bitte Platz nehmen würden, die Auktion beginnt in fünf Minuten.“
Lacey blickte zu der Stelle hinüber, wo sie den Sawyer Sohn zuletzt gesehen hatte. Er war verschwunden. Sie hatte die Chance verpasst, mit ihm zu sprechen, weil sie durch ihre Unterhaltung mit Colin zu abgelenkt gewesen war. Oder, um ehrlich zu sein, sie hatte sich von Colin ablenken lassen, weil sie zu nervös war, um dem Hinweis auf ihren Vater nachzugehen.
„Nach Ihnen“, sagte Colin und deutete auf die Tür, die zum Foyer führte.
Sie ging hinaus und überlegte, was sie als nächstes tun sollte, während Chester neben ihr hertrabte. Die Auktion würde mehrere Stunden dauern. Sie konnte nicht bis zum Ende warten, um mit dem Mann im schwarzen Anzug zu sprechen. Dann fiel ihr das Schild im Foyer ein. Nachdem der erste Artikel verkauft worden war, würde sie nur fünf Minuten warten müssen, bevor jemand im Büro war, mit dem sie sprechen konnte. Also ging sie in den Auktionssaal, um die fünf Minuten totzuschlagen.
Colin deutete auf einen Stuhl und Lacey setzte sich. Chester zwängte sich an ihren Beinen vorbei, bevor er sich mit einem herzhaften Gähnen neben ihre Füße legte.
„Da ist aber jemand müde“, sagte Colin und setzte sich neben sie.
„Wir sind heute Morgen früh aufgebrochen“, erklärte Lacey, bevor ihr plötzlich klar wurde, dass sie nur einen Kaffee zum Frühstück getrunken hatte und es jetzt fast Mittagszeit war! Sie gähnte, noch bevor sie sich zurückhalten konnte.