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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Es war eine ganze Reihe meiner Baseler Freunde mit mir nach Erlangen übergesiedelt, und es war merkwürdig, daß wir Baseler uns ganz besonders zu den Philadelphen hingezogen fühlten, die aus der Leipziger Schule stammten und streng konfessionell-lutherisch gerichtet waren. Die Baseler waren das Gegenteil. Trotzdem fanden wir uns in der Woche mit den Philadelphen in einem theologischen Kränzchen zusammen, wo einer von uns eine von ihm durchgearbeitete theologische Frage vorzutragen hatte, über die dann disputiert wurde. Oft ging es hierbei sehr scharf her, sodaß es nötig wurde, für den andern Tag einen Versöhnungsspaziergang anzuordnen.

Viel Freude machten uns unsere gemeinsamen Wege nach dem schönen Nürnberg. Am liebsten zogen wir Sonntags ganz früh aus und kamen mit dem Läuten der Glocken in der Stadt an, um hier in einer der prachtvollen Kirchen dem Gottesdienst beizuwohnen. Nachmittags wurden dann die Herrlichkeiten der alten Reichsstadt gründlich durchmustert, die alte Hohenzollernburg nicht ausgenommen, und abends kehrten wir zu Fuß zurück. Zu Himmelfahrt sind wir auch mit den Philadelphen nach Neuendettelsau zu Löhe gepilgert, um ihn predigen und nachmittags auf seiner Filiale katechisieren zu hören.

Meine Gefährten kehrten am Tage nach Himmelfahrt wieder nach Erlangen zurück, ich aber zog noch an demselben Abend auf das liebe Schwabenland los, wo ich mir mit meinem Baseler Freunde, Gottfried Hauser, ein Stelldichein gegeben hatte, ehe er nach Indien aufbrach. Ich hatte mir zu dieser Reise einen Kittel von grauer Leinwand machen lassen und mich zum Schutz gegen den Regen mit einem Stück Wachstuch versehen, das ich mir um die Schultern legen konnte.

Auf dem Wege durch die fränkische Schweiz wurde ich von einem reisenden Handwerksburschen eingeholt, der sich mir als Buchbinder zu erkennen gab. Durch ihn erfuhr ich zum erstenmal die verschiedenen Regeln, welche Handwerksburschen auf ihrer Pilgerfahrt und in ihrem Nachtquartier befolgen. Auch kamen wir in Religionsgespräche hinein, und ich mußte staunen, bis zu welchem Grade schon damals grundstürzende Gedanken über Gottes Wort unter den Handwerksburschen verbreitet waren. Wir blieben gemeinsam in einer kleinen Dorfschenke auf einer Kammer über Nacht und zogen auch des andern Tages noch einige Stunden miteinander weiter unter manchen fröhlichen und ernsten Gesprächen. An einem Scheidewege trennten wir uns, der Buchbinder seinen Weg nach Frankfurt, ich den meinen nach Stuttgart einschlagend. Zum Abschied schenkte ich ihm mein Neues Testament, schrieb ihm auch von Stuttgart aus noch einen längeren Brief, um ihm eine Anleitung zum Lesen des Neuen Testamentes zu geben.

Als ich 32 Jahre später im Vereinshaus in Leipzig einkehrte, wo ich, wie vorher in den Blättern angezeigt worden war, einen Vortrag halten sollte, wurde mir mitgeteilt, es sei etwas für mich abgegeben worden. Es war das Neue Testament, das ich meinem Reisegefährten geschenkt hatte, und mein Brief aus Stuttgart. Nach dem Vortrag stellte sich dann richtig ein ehrwürdiger Buchbindermeister mit langem, grauem Bart ein. Es war mein damaliger Reisegefährte, der mir sagen wollte, daß jene kurze Pilgerfahrt samt meinem Briefe und dem Büchlein ihre Früchte für ihn und sein Haus getragen hatten.

Mein Weg ging über Kirchheim unter Teck nach Welzheim. Dort traf ich mit meinem Freunde Hauser zusammen, und hier wurde er bei Gelegenheit eines Missionsfestes von Inspektor Josenhans ordiniert. Von da ging es weiter nach Fellbach, dem Heimatsort meines Freundes. Fellbach war damals einer der Orte im Württemberger Lande, an welchem das christliche Gemeinschaftsleben grünte und blühte. Die Fellbacher hatten ein eigenes Vereinshaus gebaut, wo sie unter sich ihre Andachtsstunden hielten, doch so, daß sie auch gern ihren trefflichen Pfarrer zu sich einluden.

Ehe wir in diesem Vereinshaus den Abschied meines Freundes feierten, machten wir noch eine gemeinsame Fußwanderung durch die Dörfer in einem größeren Umkreise von Stuttgart, die der Mission besonders zugetan waren. Überall wurden wir von den lieben Bauersleuten beherbergt und mit großer Liebe aufgenommen und verabschiedet. Überall steckten die Leute auch dem abziehenden Freunde Geld für seine Reise nach Indien in die Hand, und ich konnte es nicht immer abwehren, daß sie auch mir eine Gabe aufpreßten. „Sie werden es schon brauchen,” sagten sie; denn ich hatte immer noch meinen grauen Reisekittel an. Auf diesem Wege kam ich auch nach Calw, wo ich den merkwürdigen alten Dr. Barth, den Leiter des Calwer Verlages, kennen lernte.

Die Reise nach Calw, auf der Inspektor Josenhans uns begleitete, ist mir in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Denn Josenhans erzählte unterwegs von dem wunderbaren Gesicht, das er einmal in Basel gehabt habe. Er sei etwas leidend gewesen, in fieberhaftem Zustande, aber völlig wach. Plötzlich fangen vor seinen Augen die Herrlichkeiten der Stadt, namentlich die Kaufläden von Basel, an zu tanzen und stürzen nacheinander in den Abgrund. Dann sieht er, wie die Türme der Stadt zu wanken anfangen und zusammenbrechen. Jetzt sinken auch die Berge des Schwarzwaldes, des Jura und der Alpen in sich zusammen. Vor sich sieht er nichts als eine unabsehbare Ebene. Er macht sich auf und läuft über die Ebene weg auf Stuttgart zu. Da begegnet ihm sein Sohn, ein zwölfjähriger Knabe, (er saß bei uns im Wagen, während sein Vater dies erzählte) und sagt: „Vater, komm! Sie warten schon alle.” Und wie er aufblickt, sieht er eine unermeßliche Schar, die niemand zählen kann, auf einem weiten, weiten Felde stehen. Aber sie sind nicht alle gleichartig: die Freude auf den Gesichtern der einen ist durcheinandergemischt mit dem Schrecken auf den Gesichtern der andern. Da tritt einer auf – Josenhans erkennt in ihm den Kirchenvater Augustinus – und ruft mit gewaltiger Stimme: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und eine ungezählte Schar macht sich strahlenden Antlitzes auf und folgt ihm. Es sind die Gläubigen aus der katholischen Kirche. Aber eine ebenso große Schar wird blaß und grau, schrumpft zusammen und verkriecht sich in die Löcher der Erde. Jetzt tritt ein zweiter auf: es ist Dr. Martin Luther. Und Luther ruft wieder überlaut: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und wieder folgt ihm eine Schar, die niemand zählen kann, mit erhobenen Häuptern. Aber wieder schrumpft eine andere ebenso große Schar zusammen und verkriecht sich in die „Mauselöcher”. Dann tritt Calvin auf und erhebt seine Stimme; und noch einmal wiederholt sich dasselbe wie bei Augustin und Luther. Jetzt aber stehen sie alle still und blicken unverwandt gen Osten. Da mit einemmal wird es hell wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang – . In diesem Augenblick fiel der Sohn des Inspektors, der der Erzählung atemlos zugehört hatte, seinem Vater laut schluchzend in die Arme, sodaß dieser große Mühe hatte, ihn wieder zu beruhigen, und seine Erzählung nicht zu Ende brachte; aber wir wußten ja, wem die ungezählten Scharen entgegengegangen waren.

Nach Fellbach zurückgekehrt, rüsteten wir uns auf den Abschied meines Freundes. Am letzten Abend versammelten sich noch einmal alle gläubigen Christen Fellbachs in dem Versammlungshause. Verschiedene der alten Väter traten auf und gaben dem scheidenden jungen Missionar einen Gruß aus dem Worte Gottes mit auf den Weg. Andere beteten aus tiefbewegtem Herzen. Er selbst mußte ihnen ebenfalls ein Abschiedswort sagen, und ich auch. Dann legten sie noch mehrere hundert Gulden Reisegeld zusammen, und beim Hinausgehen aus dem Saal war viel Schluchzens.

Am andern Morgen wanderten wir zu Fuß nach Stuttgart. Bis zur Anhöhe über dem Dorf gaben uns noch viele das Geleit. Dann wanderten mein Freund und sein Vater, sein Schwager und ich allein weiter. Die Mutter war schon längst gestorben. Auf dem Bahnhofe in Stuttgart stand der Zug zur Abfahrt nach Basel bereit. Der alte Vater hielt sich tapfer bis zur letzten Umarmung und dem letzten Kuß, den er seinem Gottfried gab. Aber in dem Augenblick, als das Antlitz des Sohnes, der am Wagenfenster stand, entschwand, wandte sich der alte Mann zu mir, fiel mir um den Hals und schluchzte: „Gottfried, mein Sohn, mein Sohn, warum hast du mich verlassen?”

Von Stuttgart aus wanderte ich zunächst dem Hohenstaufen zu. Von da hätte ich es nicht weit bis zu dem damals schon so berühmten Boll mit seinem Pfarrer Blumhardt gehabt. Aber ich hatte eine Abneigung, solche Orte zu besuchen, die gewissermaßen als Wallfahrtsorte galten und zu denen die Menschen vielfach mehr aus Neugierde als eines inneren Bedürfnisses wegen gehen. Doch während ich die einsame, kahle Berghöhe des Hohenstaufen hinaufkletterte, zog ein schweres Gewitter herauf. Ich sah von oben schnell nach allen Seiten in das schöne Schwabenland hinein und eilte dann bergab in der Hoffnung, das Städtchen Göppingen noch vor Ausbruch des Gewitters zu erreichen. Aber das Unwetter ereilte mich unterwegs in seiner vollen Wut. Ich wurde durch und durch naß und hielt es nun für besser, geradezu vorwärts zu marschieren, bis ich vor der Tür von Bad Boll stand. Der liebe Vater Blumhardt nahm sich dann auch des wider Willen zu ihm getriebenen Studenten aufs väterlichste an, und ich gewann solches Zutrauen zu ihm, daß ich ihm mein ganzes Herz ausschütten konnte. Ich blieb einige Tage bei ihm, die mir von großem, bleibendem Segen geworden sind und unser Gemeinschaftsband knüpften bis an das Ende der Tage.

Dann ging es über Ulm und Augsburg, wo die prachtvollen Dome und Kirchen besucht wurden, wieder zurück in die freundliche Musenstadt an der Regnitz, wo freilich aus dem Studieren nicht mehr viel wurde, da ich in diesem sehr heißen Sommer viel an Kopfweh, Nasenbluten und Schlaflosigkeit litt und schließlich so von Kräften kam, daß ich für drei Wochen das Studentenkrankenzimmer in der Universitätsklinik aufsuchen mußte.

Nach Schluß des Semesters gab ich mir mit meinem lieben Freunde Riggenbach in Würzburg ein Stelldichein. Er hatte sich entschlossen, als Pastor zu den Deutschen nach Nordamerika zu gehen, und wir beide wollten die letzten Tage vor seinem Abschied noch miteinander verleben. Wir suchten zunächst den Pastor Fabri auf, den späteren Inspektor des Barmer Missionshauses, der mich schon in Erlangen besucht hatte. Wir blieben einige Tage in dem kleinen lieben Pfarrdörfchen, und Fabri gewann unser Herz durch seine äußerst anregenden Gespräche über die tiefsten Fragen des Reiches Gottes. An Leib und Seele erfrischt, zogen wir dann weiter dem Norden zu. Wir wanderten viel zu Fuß, wie einst in den schönen Schweizer Bergen, und es war mir von großem Segen, zu erleben, mit welcher Einfalt und Treue mein Freund abends und morgens eine Stelle aus der Heiligen Schrift vornahm, sie mit wenigen Worten auslegte und dann niederkniete zum Gebet. Wie war man für den ganzen Tag dann gestärkt und erquickt, und wie schön schlief’s sich abends ein! Es gehört gewiß mit zum Köstlichsten, was man auf Erden haben kann, mit einem solchen Freunde durchs deutsche Vaterland zu wandern.

Unsere Pilgerschaft ging das Lahntal hinauf zu meiner Schwester Sophie, die in Berleburg an den Landrat von Oven verheiratet war, dann zu meiner lieben Mutter nach Velmede und von da nach Bremen, wo wir bei dem Besitzer des Auswandererschiffes, das mein Freund benutzen wollte, die herzlichste Aufnahme fanden. Der liebe Pastor Mallet stand noch in ungebrochener Kraft, und die Kanzel, auf der später Schwalb, mein Studiengenosse von Basel her, den Unglauben verkündete, hatte damals noch der treffliche Treviranus inne. Bei Mallet gingen wir noch einmal gemeinsam zum heiligen Abendmahl. Andern Tages geleitete ich meinen Freund nach Bremerhaven und von da noch ein Stück auf dem Auswandererschiff in die See hinaus, von wo ich über und über seekrank auf dem Lotsenboote wieder in den Hafen gelangte. Dann ging es zur lieben Mutter nach Velmede.”

3. In Berlin. 1856–57

„Nur zu schnell waren die köstlichen Ruhetage im lieben Velmede zu Ende gegangen. Die Ferienzeit war vorüber, und da man nach den damaligen Bestimmungen mindestens ein Jahr auf einer preußischen Universität studieren mußte, so richtete ich meinen Pilgerweg nach Berlin. An der Ecke der Artilleriestraße, hart an der Spree, mit der Aussicht auf den Monbijou-Garten, eroberte ich mir glücklich ein stilles Stübchen, wo ich mein letztes Studienjahr zuzubringen dachte.

Es war damals auch in Berlin schöne Zeit. Neander, den ich in meinem ersten Semester neben meinen physikalischen und botanischen Studien gehört hatte, war schon heimgegangen; aber Strauß, Hengstenberg und Nitzsch standen noch in frischester Kraft. Bei Nitzsch besuchte ich das praktische Seminar, wo wir Predigtübungen zu halten hatten; und ich besinne mich noch gut, wie er solche Studenten, die mit oberflächlichen Redensarten und schönen Worten ihre Predigt füllten, als eitle Gecken abzutun wußte und ihnen den Hoffartsteufel austrieb.

Ich blieb übrigens bei meiner Predigt, die ich vor ihm zu halten hatte, stecken und mußte demütig mein Konzept herauslangen. Umgekehrt ging es mir bei meiner Katechese in der Propstei-Schule an der Nikolaikirche so gut, daß mein lieber Nitzsch mich besonders in sein Herz schloß und mich auch zu seinem regelmäßigen Studenten-Familienabend einlud.

Indessen wurde in diesem ersten Wintersemester aus meinem Studieren nicht sehr viel. Denn für meinen Dienst unter den Heiden mußte ich versuchen, mir einige Kenntnisse in der Krankenpflege und in der Arzneilehre zu erwerben. Pastor Müllensiefen, den ich noch aus der Zeit her kannte, wo er meine Vettern Diest als Hauslehrer unterrichtet hatte, und der jetzt Pastor an der Marienkirche war, machte mich mit seinem Freunde, dem Regimentsarzt Dr. Lauer, dem späteren Leibarzt des alten Kaisers Wilhelm, bekannt. Dieser nahm mich als Lazarettgehilfen in das Lazarett des Kaiser-Franz-Regiments auf. Jeden Morgen besuchte ich zunächst mit dem Assistenzarzt die einzelnen Kranken und ließ mir von ihm zeigen, wie Verbände angelegt und die chirurgischen Dienstleistungen verrichtet werden. Hernach nahm ich an der Visite des Regimentsarztes selbst teil und lernte dann die angeordneten Arzneien in der Apotheke bereiten.

Auf dem Wege zum Lazarett begegnete mir eines Tages ein früherer Schulkamerad vom Joachimstalschen Gymnasium, namens Blankenburg. Ich sah ihm gleich an, daß Schmalhans bei ihm Küchenmeister war. Er war teils wegen seiner schlechten Ernährung, aber auch wegen seiner schlechten Wohnung an seinen Nerven krank geworden. Ich wußte ihm nicht besser zu helfen, als daß ich ihn einlud, ob er bei mir wohnen wollte. Das wurde mit Freuden angenommen. Aber die Aufgabe war nicht klein; denn die Nerven meines Freundes wurden mir förmlich zu Haustyrannen, nach denen ich mich in allen Stücken richten mußte.

Trotzdem wurde ich meinem Stubengenossen bald zu großem Dank verpflichtet. Er machte mich nämlich auf eine große Lücke in meiner Ausbildung aufmerksam. Was ich an Bibelsprüchen und Kirchenliedern auf der Schule und im Konfirmandenunterricht gelernt hatte, war über alle Maßen wenig gewesen. Blankenburg zwang mich nun, sowohl Kirchenlieder als auch ganze Stücke der Heiligen Schrift wörtlich auswendig zu lernen. Ich war inzwischen mit dem Lazarettkursus fertig geworden, und so wurde neben den übrigen Studien diese Arbeit in der Tat mit allem Fleiß betrieben. Jeden Morgen ging ich in den einsamen Monbijou-Garten, und dort, auf dem schönen Wege, der an der Spree entlang führt, prägte ich mir Kirchenlieder und ganze Kapitel aus der Bibel ein, und wenn ich nach Hause kam, überhörte mich mein lieber Blankenburg.

Inzwischen war mein letztes Semester – Sommer 1857 – herangekommen. Der jüngere Bruder meines Vaters, mein Onkel Karl, legte mir nahe, für den Rest meiner Studienzeit zu ihm überzusiedeln. Ich war in der Tat in meinen Ernährungsverhältnissen etwas zurückgekommen, da ich mit meinem Freunde Blankenburg zusammen etwas zu sparsam hatte leben müssen, um uns beide durchzuschlagen. Zudem wünschten meine Verwandten um ihrer beiden jüngsten Söhne willen, die noch auf dem Gymnasium waren, meine Gegenwart, da sie selbst den größten Teil des Sommers abwesend sein mußten. So zog ich denn gleich nach Ostern in meine alte Heimat, in das Finanzministerium, hinüber.

Von meinen Baseler und Erlanger Freunden hatte mich nur noch einer nach Berlin begleitet. Es war ein Pfarrerssohn aus der Schweiz, mit Namen Endres. Er hieß gewöhnlich nur „der kleine Schwyzer” und kam meist am Nachmittag zu einer Tasse Kaffee und einer Partie Schach ins Finanzministerium herüber. Auch beteiligte er sich wohl an den kleinen Fußtouren, die ich mit meinen beiden jungen Vettern in die Umgegend von Berlin unternahm. Sonst war bei der strammen Arbeit, die das letzte Semester mit sich brachte, kaum irgend ein anderer Verkehr möglich. Nur einige Male ging ich in das theologische Studentenkränzchen, das ähnlich wie in Erlangen auch hier seine Zusammenkünfte hatte. Hier feierten mein Freund Endres und ich auch den Abschiedsabend unserer Universitätszeit. Reiche, köstliche drei Jahre lagen hinter mir, als ich Anfang August 1857 von meiner letzten Musenstadt Abschied nahm und mit dem Nachtzuge nach Hamburg hinüberfuhr!”

Als Kandidat. 1857–1858

„Mein Angesicht stand zunächst nach dem dicht bei Hamburg gelegenen Wandsbeck, der Heimat des alten Matthias Claudius, der mir mit seinen Schriften der treuste Freund meiner Jugend gewesen war und mir über so viel öde Zeit, namentlich während meiner landwirtschaftlichen Laufbahn, hinweggeholfen hatte und den ich fast auswendig konnte. Nach einer köstlichen stillen Morgenstunde in dem Wandsbecker Waldtal wanderte ich, der Stimme eines Glöckchens folgend, in einer halben Stunde hinüber zum Rauhen Hause. Ich blieb den ganzen Tag unter der fröhlichen Kinderschar und ihren ebenso fröhlichen Pflegern und lernte an der Hand meines freundlichen Führers, des Hausvaters Pastor Riehm, die ganze Entstehung und das Wachstum der Anstalt, Station auf Station, kennen. Am Abend aber saß ich schon wieder im Postwagen und fuhr die Nacht durch hinüber nach Bremen und von da zu Schiff die Weser hinunter nach Geestemünde.

Denn zwei Stunden von Geestemünde war einer meiner Baseler Studienfreunde Pastor geworden. Er war in Basel mein englischer Lehrer gewesen. Jeden Nachmittag war er für eine Stunde zu mir gekommen, um mit mir englisch zu treiben. Er war dazumal schon 28 Jahre alt, und sein Lebensgang war sehr gewaltsam gewesen. Eines Tages, kurz vor unserm ersten Baseler Weihnachtsfest, sagte er mir einmal: „Heute vor vier Jahren brachte ich die Nacht auf einer Fleischerbank in Neu-Orleans zu. Diese Bank war damals für längere Zeit mein Nachtquartier, denn eine Wohnung besaß ich nicht. Ich lebte von Spottgedichten, die ich für die Zeitungen lieferte. Zigarren und Branntwein waren meine Hauptnahrung.”

Er war in der Schweiz als Hirtenbube in großer Armut aufgewachsen. Freunde, die seine Talente bemerkten, hatten ihn unterstützt und bis zur Universität gefördert. Mit eiserner Energie hatte er sich durch Stundengeben auf der Universität unterhalten, zu gleicher Zeit aber in seinem Trotz und seiner Wildheit solche Streiche gemacht, daß er sich unmittelbar aus dem Karzer in ein Schiff flüchtete, das ihn nach Amerika brachte. In jener tiefsten Zeit seines Lebens, als eine Bank auf dem Fleischmarkt sein Nachtquartier war, ergriff ihn Gottes Hand. Er erkrankte am gelben Fieber und stand nahe vor der Todestür. Da nahm sich ein unbekannter Fremdling, der aber ein entschiedener Jünger des Heilandes war, des gänzlich Verlassenen an. In seinem unbekannten Wohltäter trat ihm das Erbarmen mit solcher Macht vor die Seele, daß er, als er von seinem Krankenlager aufstand, entschlossen war, ein anderes Leben zu beginnen.

Da er Jurisprudenz studiert hatte, so übersetzte er nun in kurzer Zeit das Gesetzbuch des Staates Indiana ins Deutsche und erhielt dafür eine sehr bedeutende Geldsumme. Diese wollte er benutzen, um Theologie zu studieren. Allein in seinem doch noch ungebrochenen Sinn verstand er nicht, mit dem Gelde umzugehen, und als er auf deutschem Ufer landete, war fast alles Geld schon wieder seinen Händen entschwunden. So war er genötigt, in Basel in einem Studentenheim Quartier zu nehmen, wo man für ein geringes Entgelt Wohnung und Nahrung erhielt. Abgemagert, in dürftigster Kleidung, und, um durch die Kälte das Einschlafen zu verhindern, ohne wärmenden Ofen saß er oft bis drei Uhr nachts auf und arbeitete mit einem wahrhaft staunenswerten Eifer, während er bei Tage Unterrichtsstunden gab, durch die er sich das nötige Kostgeld verdiente.

Er trieb vor allem das Studium der alttestamentlichen Propheten, und ihre Donner gegen die Israeliten waren ihm ein besonderer Ohrenschmaus. Das unverständlichste Wort in der Schrift war ihm das Wort „Gnade”. „Mit diesen beiden Fäusten muß es verdient sein,” rief er einmal aus, indem er seine hageren Arme ausstreckte, die frostig aus dem dünnen Jäckchen hervorguckten.

Ein anderes Mal tat er bei der Lektüre des Wandsbecker Boten, den ich unter seiner Anleitung ins Englische übersetzte, eine Äußerung, die so wild und roh war, daß ich ihm erklärte, ich wollte nun keine Stunden mehr bei ihm haben und er solle mir nicht mehr auf mein Zimmer kommen. In wildem Zorn hatte er mich verlassen. Da, gegen Mitternacht, hörte ich, wie kleine Steinchen gegen mein Fenster geworfen wurden. Mein Freund stand unten und forderte mich auf, herunterzukommen; er habe mir etwas zu sagen. Ich tat es, und wir gingen fast bis zum Anbruch des Morgens auf dem Petersplatz auf und ab. Er bekannte, daß er bei seinem Vorsatz, mit eigener Kraft und mit eigener Vernunft Gottes Wort zu treiben und Gottes Reich zu bauen, aus der Friedelosigkeit nicht herauskomme, und versprach, es sollte anders mit ihm werden.

Vor seinem Abschied aus Basel versammelte er seine Kollegen aus dem Studentenheim und forderte sie aufs ernstlichste auf, nicht so zu studieren, wie er es gemacht habe; dabei würden sie alle verloren gehen. Er pries ihnen als das einzige Mittel der Seligkeit die freie Gnade Gottes an. Als ich ihn spät abends an seinen Postwagen brachte, sagte er zu mir: „Du siehst mich nicht wieder, oder ich bin ein anderer Mensch geworden.”

Nun nach drei Jahren sollte ich ihn wirklich wiedersehen. Er hatte in seiner ersten Stelle in der Schweiz gegen die Sünden der Regierung, namentlich ihre Sonntagsentheiligung, so geeifert, daß er infolgedessen seines Amtes entsetzt worden war. Aber Bremer Kaufleute, die ihn hatten predigen hören, hatten seine Berufung in jenes dem Staate Bremen gehörige Dorf durchgesetzt. Ich war neugierig, wie ich meinen Freund, den ich als einen blutarmen Bruder Studio verlassen hatte, nun als Pastor wiederfinden würde. Man hatte mich in Bremen schon darauf aufmerksam gemacht, daß er seine Schwester bei sich habe, ein armes Schweizer Landmädchen, das ihm den Haushalt führe, und daß er mit ihr etwas tyrannisch verfahre aus Angst, sie könne vornehm und hoffärtig werden.

Ich traf meinen Freund, wie er mit strahlender Freude eben seine Hühner fütterte. Während er mich durch seinen großen Obstgarten führte, kletterte er plötzlich auf einen Apfelbaum, der voll Früchte hing, und mit gespreizten Beinen oben im Baum stehend, rief er: „Alle diese Äpfel sind mein.” Dann sprang er in ein Kartoffelfeld und rief wieder: „Alle diese Kartoffeln sind mein.” Den blutarmen Schweizerknaben, der sein ganzes Leben mit Hunger und Not gekämpft hatte, nun im Besitz eines so prächtigen Pfarrhofes zu sehen und all seine Freude zu teilen, war wirklich schön. Seine Schwester hatte uns mit aller Sorgfalt ein Mittagbrot bereitet, und ich hatte es durchgesetzt, daß sie, die sonst nur als Magd aufgewartet hatte, mit uns zu Tische saß. Am Nachmittag sollte auf dem Filialdorf eine Kindtaufe sein. Als ich nun bei Tisch die Schwester fragte, ob sie uns nicht dahin begleiten wolle, war mein Freund mit seiner Geduld am Ende. Er sprang wütend vom Tisch auf und schrie mich an: „Ich wollte, daß du zu Hause geblieben wärest. Meine Schwester soll nicht mit auf Kindtaufen gehen; dann will sie auch feine Kleider haben, und das geht nicht.” Ich war auch nicht faul und sagte: „Ich kann den Weg zu deiner Tür wohl finden. Geht deine Schwester nicht mit, dann nehme ich Abschied.” Da lenkte er ein.

Ehe wir uns zur Kindtaufe aufmachten, kamen noch Leute, die nach Amerika auswandern wollten. Für diese Auswanderer herrschte die schöne Sitte, daß sie vor ihrem Abschied noch einmal im Pfarrhause das Abendmahl feierten. Vom Nebenzimmer aus hörte ich die Beichtrede meines Freundes über die Worte: „Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen greulich. Der Herr aber ist noch größer in der Höhe.” Da zeigte sich die ganze gewaltige Größe des Mannes. Mit erschütterndem Ernste konnte er Buße predigen und in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens hinabsteigen, aber ebenso gewaltig dann auch von der Gnade Zeugnis ablegen, die viel größer ist als unsere Sünde.

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