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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Unter denen, die zu dieser meiner Freude beitrugen, steht mir besonders das Angesicht des lieben alten Missionars Graf Zaremba vor Augen. Wir pflegten wohl zu sagen, daß, wenn man ihn ansehe, man unmittelbar in den Himmel hineinsehe. Sodann war es Dr. Ostertag, der Bibelmann, der, schon an seinen Augen erblindend, sich doch noch am Unterricht der Missionszöglinge beteiligte und mit seinen köstlichen Predigten viel dazu beitrug, daß uns die Augen aufgeschlossen wurden für die Herrlichkeiten des Reiches Gottes. Unter den Lehrern am Missionshaus war auch noch ein junger Kandidat Haug, bei dem ich zwar keinen Unterricht hatte, der mich aber oft aufsuchte und mit mir spazieren ging. Einmal an einem Pfingstmorgen sagte er mir: „Heute vor vier Jahren habe ich mein Augenlicht wiederbekommen, und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blumhardt.” Durch Haug wurde ich auf solche Weise zuerst auf Blumhardt aufmerksam.”

Neben den Vorlesungen auf der Universität und im Missionshaus benutzte Bodelschwingh jede Gelegenheit, um mit seinen Lehrern in persönliche Berührung zu kommen. Namentlich auf ihren Spaziergängen begleitete er sie und besprach sich mit ihnen. Auf peinlich nachgeschriebene Kollegienhefte legte er keinen Wert. Dagegen faßte er zu Hause den Ertrag des Hörsaals und der Besprechungen, die er mit seinen Lehrern gehabt hatte, in eigener Bearbeitung zusammen. So begann er schon in Basel die selbständige Ausarbeitung einer Glaubenslehre.

Dazu kam nun ein reiches Freundschaftsleben. „Mit der jüngeren Generation”, schreibt er, „hatte ich damals schon bemoostes Haupt nicht sehr viel Umgang, weil ich niemals den Tabaksdunst der Pfeife vertragen konnte und darum die studentischen Versammlungen gern mied. Doch gab es in der Studentenverbindung „Schwyzer Hüsli” eine Anzahl lieber frischer junger Leute. Sie nahmen mich, wie es in der Studentensprache hieß, als Konkneipant bei sich auf, und mit einigen von ihnen knüpfte ich ein enges Freundschaftsband.

Ganz besonders aber zog mich ein Student an, der nicht diesem Kreise angehörte. Er stand, wie ich, im ersten Semester und hieß Jakob Riggenbach. Er gehörte einer alten Baseler Kaufmannsfamilie an, hatte sich zunächst dem Kaufmannsstande gewidmet und war erst später, ebenso wie ich, zur Theologie übergegangen. Er war eine hohe, Achtung gebietende Gestalt, noch fünf Jahre älter als ich. Heiße Kämpfe des Leibes und der Seele standen in seinem Angesicht geschrieben. Da er in der reformierten Kirche die persönliche Seelsorge vermißte und namentlich den Gebrauch der Löseschlüssel in der Privatbeichte, so hatte er sich eine Zeitlang zur irvingianischen Gemeinde geflüchtet; doch hatte er auch dort nicht gefunden, was er suchte, und sich mit großem Mut wieder von ihr getrennt. Schließlich hatte der Friede Gottes aber die Oberhand bei ihm gewonnen, und sein freundliches, mildes Auge hatte etwas besonders Anziehendes für mich. Er konnte es nicht viel und lange in den Kollegien aushalten, und mir ging es ebenso. Deswegen streiften wir miteinander oft in den nahen Bergen umher, manchmal mehrere Tage ausbleibend, wobei wir auch befreundete Pfarrhäuser in der Landschaft besuchten. Immer führten wir die Schrift mit uns und besprachen sie gegenseitig.

Bei einer solchen Wanderung kehrten wir auch einmal bei einem Pfarrer ein, in dessen Gemeinde viel geistiges Leben war. Der Pfarrer selbst aber hatte einen großen Schmerz, der damals schon anfing, sein Vaterherz zu zerreißen. Er hatte einen 15 jährigen Sohn, der sich auf das entschiedenste gegen den Geist des Elternhauses auflehnte. Da der Sohn die höhere Schule in Basel besuchte, so bat mich sein Vater, ihm doch nachzugehen. Ich wußte, daß der Sohn Wege ging, die ihm sein Vater verboten hatte. Aber ich war auch nicht einverstanden mit dem Vater, daß er dem Sohn mehr verbot, als er halten konnte.

Der Junge hatte einen glühenden Zug zum Theater und verwandte darauf jeden Groschen, den er erübrigen konnte. Sein Vater aber hatte ihm den Theaterbesuch verboten. Nun stellte ich mich eines Abends in der Nähe des Theaters auf, wo der Junge durchkommen mußte. Und richtig, es dauerte nicht lange, da kam er mit scheuen, hastigen Schritten dahergestürzt. Er erschrak, als ich ihn beim Arm faßte. Flehentlich bat er, ich möchte ihn doch nicht zurückhalten; er müsse ins Theater. Ich sagte ihm dagegen, daß er nichts gegen das klare Verbot des Vaters tun dürfe, versprach ihm aber, mich bei seinem Vater zu verwenden, damit er die Erlaubnis bekäme, mitunter einmal mit gutem Gewissen ins Theater zu gehen. Der Junge heulte laut, gab aber endlich doch nach.

Leider erreichte ich beim Vater nichts. Die Schule in Basel schickte schließlich den Jungen fort; und nun ging es immer mehr mit ihm bergab. Ich hörte lange nichts von ihm, bis er mir eines Tages aus einem jener schrecklichen Lazarette schrieb, in denen die Soldaten der afrikanischen Fremdenlegion untergebracht sind. Als ich den Brief an seinen Vater weitergab, antwortete er mir mit einem durchdringenden Schmerzensschrei. Aus Haß gegen das Christentum ging der unglückliche Mensch schließlich so weit, daß er Mohammedaner wurde. Er ist dann gestorben und verschollen – ich weiß nicht, wo. Dies Erlebnis aber war mir ein schmerzliches Warnungszeichen dafür, daß christliches Leben niemals gewaltsam aufgepreßt werden darf, wie es bei diesem unglücklichen Sohn seitens des Vaters geschehen war.

Unter den jüngeren Freunden, mit denen ich in Basel zusammen studierte, war auch Theodor Zahn, der, während Riggenbach mir um fünf Jahre voraus war, mir um sieben Jahre nachstand, denn er war damals erst 17 Jahre alt. Er wohnte ganz in meiner Nähe, und wir arbeiteten öfters zusammen. Doch war er mir an Tüchtigkeit weit überlegen, und ich konnte ihm in der Schnelligkeit seiner Auffassung auf wissenschaftlichem Gebiete nicht folgen. Auch gingen unsere Anschauungen, nicht sowohl über das Eine, was not ist, – denn er war ein lieber, entschieden gläubiger Jüngling – wohl aber über die Art der Vorbereitung auf das Predigtamt weit auseinander. Ihm war es in Basel nicht wissenschaftlich genug. Wir sind später zusammen nach Erlangen gezogen, haben dort in einem Hause gewohnt und an einem Tisch gegessen. Aber auch hier war mir sein wissenschaftlicher Flug zu hoch. Er ist denn auch in der Tat nach den ihm von Gott verliehenen Gaben einen andern Weg gegangen als ich. Er ist jetzt Professor in Erlangen und steht als ein treuer biblischer Theologe in rechtem Ansehen.

Auch mein Freund Gustav Bossart, der zuletzt an meinem Krankenbett in Berlin gesessen hatte, stellte sich in den ersten Baseler Sommerferien zu einer Fußwanderung ein. Er hatte sein Assessor-Examen gemacht und von seinem Vater das Geld zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien bekommen. Unsere Wege waren inzwischen weit auseinander gegangen; nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Als wir das Aare-Tal hinaufwanderten, fragte ich ihn, ob er mir erlaube, jeden Morgen und Abend ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit ihm zu lesen. Er bat aber, daß ich ihm diese Qual nicht antun möge; er habe mit allem, was die Schrift enthielte, völlig gebrochen. Dagegen gelobe er, daß er seinerseits während unserer Wanderschaft sein Kneipenleben aufgeben wollte.

Auf dem Wege nach dem Rhonegletscher hinauf hatten wir unter emsigem Gespräch nicht genau auf den Weg geachtet und uns verirrt. Umkehren wollten wir nicht, weil wir weiter oberhalb einen Richtweg zu erreichen hofften. Aufwärtssteigend und an den Büschen uns festhaltend, schien uns der Weg nicht zu gefahrvoll. Aber bald kamen wir an eine Stelle, an der ein weiteres Vorwärtsdringen ganz unmöglich war. Als wir rückwärts blickten, fing uns an zu schwindeln. Denn unter uns gähnte der Abgrund, den wir beim Hinaufklimmen übersehen hatten. Da klebten wir nun an der Felswand und wußten weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. In diesem Augenblick fing mein Freund an zu fluchen. Ich gewann den Mut, ihn ernstlich zu strafen. Es sei kein Augenblick zum Fluchen, sondern es gälte, zu Gott zu rufen. Mein Freund ließ sich meine Strafe gefallen, und Gott ließ es uns gelingen, ohne daß unser Fuß glitt, die sichere Straße wieder zu gewinnen.

Wir kamen auf diese Weise bis Mailand und Genua, wo wir von einem kleinen Boot aus, das wir uns gemietet hatten, im Mittelländischen Meer badeten. Der Rückweg führte uns ins Engadiner Land, wo mein Freund Riggenbach in Vertretung eines Pfarrers einer kleinen einsamen Gebirgsgemeinde in einem stillen Dörfchen zu dienen hatte. Mit großer Herzlichkeit wurden wir aufgenommen, und mit großer Unbefangenheit hielt Riggenbach seine einfachen köstlichen Andachten, bei denen er auf den Knien zu beten gewohnt war. Ich merkte, daß mein Freund sich hiervon nicht abgestoßen fühlte; denn es kam kein Wort des Widerspruchs über seine Lippen. Nachts schliefen wir zusammen in einem Bett, denn Riggenbach hatte nur eins.

Riggenbach begleitete uns bis ins Rheintal und erzählte unterwegs ergreifend von einem Sterbenden, der noch etwas Schweres auf dem Gewissen hatte und zum Frieden kam, als er es glücklich über seine Lippen gebracht hatte.

Als Bossart und ich in Zürich am schönen Seeufer entlang schlenderten, traf mein Freund einen alten Bekannten aus Berlin, der mit dem Züricher Leben und Treiben genau vertraut war. Dieser bat ihn, ihn doch den Abend zu besuchen. Ich ahnte nichts Gutes. Und wie ich es gefürchtet, so kam es. Mein Freund hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber er blieb aus. Da ich mancherlei zu lesen und zu schreiben hatte, legte ich mich nicht schlafen, sondern blieb auf. Endlich um drei Uhr morgens polterte es die Treppe herauf. Ein Mensch in jämmerlicher Verfassung kam herein, dem ich sogleich zu Bett helfen mußte, ohne daß ich ihm natürlich ein Wort des Vorwurfs sagte. Den andern Tag lag tiefe Scham auf seinem Angesicht; ja, mehr als das.

Als wir abends in Basel ankamen, hörten wir, daß die Cholera, die schon bei unserer Abreise geherrscht hatte, noch immer neue Opfer fordere. Trotzdem wollte mein Freund nicht gleich weiterreisen, sondern noch einige Tage bei mir bleiben. So überließ ich ihm mein Bett und machte das meine auf meinem Sofa. Als ich mich niederlegen wollte, sagte er: „Friedrich, gib mir eine Bibel!” Und er las lange darin, während ich mich schon zum Schlafen anschickte. Der andere Tag war ein Sonntag. „Ich gehe mit dir in die Kirche,” sagte er gleich. Auch bat er mich, jetzt abends und morgens die Schrift mit ihm zu lesen, ging auch einige Male mit mir ins Kolleg zu Professor Auberlen.

Bei seinem Abschied geleitete ich ihn eine halbe Tagereise weit in den Schwarzwald hinein. Dann trennten wir uns. Es war ein stiller, hoffnungsreicher Abschied, nicht mit viel Worten, aber voll inniger, dankbarer Freude, daß wir uns endlich wiedergefunden hatten. Er besuchte noch einmal meine liebe Mutter in Velmede und brachte einige stille Tage bei ihr zu. Bald danach starb er an einer kurzen Krankheit, und ich habe auf Erden sein Angesicht nicht wiedergesehen.

Auf der Reise, die mich mit meinem Freunde Bossart durch die Schweiz nach Italien führte, waren wir eines Tages infolge eines schweren Gewitters ganz durchnäßt worden, sodaß wir uns, in unser Quartier gelangt, gleich zu Bett legen mußten, um unsere Kleider am Herde trocknen zu lassen. Da hatte denn die Magd in meiner Tasche mein kleines Neues Testament entdeckt, und ich hatte es ihr auf ihre Bitte geschenkt. Wir waren mittlerweile bis zur Isola Bella im Lago Maggiore gelangt. Während sich mein Freund mit andern Reisenden, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, unterhielt, ruhte ich im Schatten der Lorbeeren aus. Da ich nun mein Neues Testament nicht mehr bei mir hatte, so zog ich ein anderes Buch heraus, das ich noch in meiner Wandertasche bei mir führte. Es war ein kleines Buch von Dichtungen eigenen Fabrikats, die ich jetzt auf der Wanderschaft hatte vermehren wollen. Aber als ich eine Weile hineingesehen hatte, kamen mir im Vergleich zu dem, was Gott an köstlichen geistlichen Liedern geschenkt, meine Lieder elend vor. Auch erschien mir die Gefahr, mich in solchen eigenen Erzeugnissen zu sonnen, so groß, daß ich einen Stein suchte, einen Bindfaden darum band und das Machwerk in die Tiefe des Sees schleuderte. Ich war froh, wieder ein Stück des alten Adams abgetan zu haben und leichter weiterpilgern zu können.

Mehr als einmal bin ich mit meinen Baseler Freunden den Weg zum lieben Vater Zeller nach Beuggen am Rhein gepilgert. In den Franzosenkriegen vor hundert Jahren war das Schloß von Beuggen Kriegslazarett gewesen, und der Lazarett-Typhus hatte in furchtbarer Weise darin gehaust. Zuletzt hatte man keine Wärter mehr bekommen können, die sich in das entsetzliche Todeshaus hineinwagen wollten. So hatte man schließlich den Sterbenden nur noch das Essen in die Tür hineingeschoben und sie sich selbst überlassen. Noch lange Zeit hatten in einzelnen Teilen des Hauses Knochengerippe umhergelegen. So war das Schloß eine Stätte des Grauens, in die sich niemand hineintraute, bis Zeller, getrieben von der Liebe Christi, es wagte, sich vom Großherzog von Baden das Schloß auszubitten, um hier mit verwahrlosten Kindern seinen Einzug zu halten. Da ist denn an der Stätte des Todes ein fröhliches, frisches Leben aufgesproßt, das bis auf diesen Tag nicht versiegt ist.

Auf seinem Arbeitspult hatte Zeller ein großes Corpus juris stehen, daneben Goethes Faust und die Bibel. „Ich habe”, sagte er mir, „diese Bücher neben einander stehen lassen, um beständig zum Dank gegen Gott ermuntert zu werden, daß ich von dem toten Buchstaben des irdischen Gesetzes zum ewig lebendigen Gesetzbuch des Wortes Gottes geführt wurde und von den verführerischen Gärten des menschlichen Geistes in ihrer höchsten Blüte, wie wir sie in Goethes Faust finden, zu dem einfältigen Evangelium von Christo.”

Besonders erinnerlich ist mir ein Sommerabend, an dem ich mit meinem mir vertrautesten Freunde aus dem Missionshaus, Hendrichs, von Beuggen nach Basel heimkehrte. Wir saßen, unter dem Schatten eines Baumes ausruhend, am Ufer des Rheines, und mein Freund sprach von dem unbeschreiblichen Glück und der Sicherheit, die er genieße, seit er an den Heiland glaube. Es könne ihm nun gar nichts widerfahren, als was ihm nötig und selig sei. Denn auch jeder Widersacher, der ihm etwas anhaben wolle, helfe ihm nur dazu, sich selbst zu verleugnen und sich zum Heiland zu flüchten, und jeder Stoß, den sein alter Adam bekomme, sei ihm lieb, weil dadurch der neue Adam desto mehr Luft bekomme. Es war mir dieses Gespräch von besonderem Segen und ist mir unvergeßlich geblieben in Erinnerung an meinen treuen Freund, der nun schon lange Jahre in Indien an der Küste von Malabar schläft, wo er seinen Lauf mit Freuden vollendet hat.

Neben Hendrichs stand mir ein anderer angehender Missionar sehr nahe: Gottfried Hauser. Daß ich mit ihm verbunden wurde, hatte seine besondere Veranlassung. Es bestand nämlich im Missionshause zu Basel die Einrichtung, daß die Missionare in dem letzten Jahre vor der Ausreise auf das Missionsfeld zu zwei und zwei auszogen, um in den Dörfern des Baseler und badischen Landes Bibelstunden zu halten oder auch die Kinder zu sammeln in der Weise der heutigen Sonntagsschulen, die man damals aber noch nicht kannte. So war mir mit Gottfried Hauser zusammen das Dorf Birsfelden, südlich von Basel, zugeteilt worden. Eine Witwe, eine fromme alte Bauersfrau, hatte hier ihr Haus für die Versammlung geöffnet. Es waren vor allem Kinder, die hier zusammenkamen und die von Hauser und mir in der Weise von Frage und Antwort unterwiesen wurden, während einige ältere Personen zuhörten. Mit welchem Zittern und Zagen habe ich mich auf diese Stunden vorbereitet, zumal dabei auch öffentlich gebetet zu werden pflegte! Aber wie manchen Segen habe ich auch aus diesen Stunden mitgebracht für meine eigene Seele!

Von einem höchst merkwürdigen Mann muß ich noch einiges sagen, der mir in besonderer Weise nahetrat: das war der Vater Spittler. Von Beruf Buchhändler war Spittler zu Anfang des Jahrhunderts aus dem Württemberger Land nach Basel gekommen. Er wohnte im sogenannten „Fälkli”, einem alten Gebäude, das früher zum Augustinerkloster gehört hatte und einen Falken im Wappen führte. Das Fälkli war die Heimat der von Spittler gegründeten Buch- und Traktatgesellschaft. In innigster Dankbarkeit gegen jenes kleine Büchlein über Tschin, den Chinesenknaben, das von hier aus mir nach Gramenz geschickt geworden war, konnte ich es nicht lassen, mir im „Fälkli” immer neue Traktate zu kaufen und nach allen Richtungen zu verteilen, namentlich unter den Kindern. Auch versorgte ich von hier aus, unserer letzten Verabredung entsprechend, meinen Bruder Ernst in Frankfurt mit den Schriften, die er sich für seine Soldaten von mir erbeten hatte.

Das Zimmer des alten Spittler steht mir noch lebendig vor Augen. Es erschien mir sehr ehrwürdig, wie das eines alten Einsiedlers, in alter deutscher Weise ausmöbliert. Die Wände waren mit allerlei Missionskarten behangen. Eine dieser Karten stellte die christlichen Länder dar. Auf ihr waren überall durch Lichter und kleine Fackeln die Gegenden bezeichnet, in denen der eingeschlafene Glauben wieder im Erwachen war oder wo für die Ausbreitung des Reiches Gottes sonst irgend etwas geschah. Zwischen diesen Lichtern und Fackeln aber lag der größte Teil der Christenheit im Halbdunkel oder im schwarzen Schatten.

Der alte Spittler erklärte mir die Karte selbst. Während das Baseler Missionshaus unter den Heiden leuchtete, sah er es als seine Hauptaufgabe an, in der abgefallenen Christenheit das Wort Gottes wieder auf den Leuchter zu stellen. Durch ihn waren fast alle Anstalten der christlichen Barmherzigkeit, die in und um Basel blühten, ins Leben gerufen worden. Sobald er auf einem Punkt fertig war, ging er wieder einen Schritt weiter. Augenblicklich galten seine Liebe und seine Kraft ganz besonders der Pilgermission. Jenseits des Rheins, auf dem letzten Vorsprung des Schwarzwaldes, hatte er eine kleine alte Kirche gekauft mit einigen Äckern umher. Die Kirche samt ihrem Turm hatte er so ausgebaut, daß darin seine Zöglinge samt ihren Lehrern Unterkunft fanden. St. Chrischona hieß das Kirchlein. Und ich bin manchmal auf die herrliche Höhe hinaufgestiegen, von der man bei klarem Wetter über den Jura weg die Alpenkette überschauen kann.

Nun waren damals die Gedanken des alten Spittler besonders auf die alte christliche Kirche in Abessinien gerichtet. Dahin hatte er bereits seine Pilger geschickt, um diese alte eingeschlafene Kirche wieder wachzurufen. Von Abessinien aus aber sollte es weitergehen zu dem südlicher wohnenden wilden afrikanischen Stamm der Gallas. Bald merkte ich, daß Vater Spittler sein Auge auf mich warf, ob ich wohl bereit sei, nach Abessinien zu ziehen.

Durch meine Verbindung mit dem Baseler Missionshaus, das Inspektor Josenhans leitete, standen aber meine Gedanken damals nicht nach Abessinien, sondern nach Indien. Und wenn ich auch beschlossen hatte, zunächst mein theologisches Examen in Preußen zu machen, so wollte ich doch so bald wie möglich nach Basel zurückkehren, um meinen Freunden Hauser, Hendrichs und dem dritten aus unserm engeren Freundeskreis, namens Strobel, nach Indien zu folgen.

Jetzt aber wurde ich in meinem Vorhaben erschüttert. Denn eines Tages erschien in Begleitung meiner Dienstmagd, der Rösli Schwarz, eine schwarze Mädchengestalt auf meinem Zimmer. Es war Pauline Fatmele, die Tochter eines Gallafürsten aus dem Süden Abessiniens. Sie war, nachdem ihr Vater neben ihr erschlagen worden war, von einem Sklavenhändler zum andern schließlich an den Hof des Vizekönigs von Ägypten verkauft worden. Dort war sie einem deutschen Reisenden geschenkt worden, und dieser hatte sie nach Stuttgart gebracht. Von da war sie nach Korntal in eine christliche Familie gekommen. Hier war in wunderbarer Weise ein fröhliches christliches Glaubensleben in ihr erwacht. Der alte Spittler war ihr Taufpate geworden und hatte sie nun nach Basel kommen lassen. Da meine Magd ja auch aus Korntal war, so hatte Fatmele sie besucht, und auf diese Weise kam es, daß sie mit meiner Magd zusammen mein Zimmer betrat.

Das reine, kindliche, mächtige Glaubensleben der schwarzen Fürstentochter machte, obwohl sie nur eine Viertelstunde bei mir blieb, einen großen Eindruck auf mich. „Wenn ich jetzt Flügel hätte,” sagte sie mir, „dann möchte ich gern in meine Heimat fliegen, um zu erzählen, wie lieb Gott Europa hat.” Ihr Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Wenige Tage darauf bekam sie Bluthusten, aus dem sich die galoppierende Schwindsucht entwickelte, und im Diakonissenhause zu Riehen, wohin sie der alte Spittler brachte, starb sie nach wenigen Wochen seligen Leidenskampfes, vielen zur Stärkung des Glaubens. Chrischonabrüder bliesen an ihrem Grab die Posaunen. Auf ihrem Sterbebett aber hatte sie den Vater Spittler gebeten, ihr Volk nicht zu vergessen, wenn sie selbst auch nicht hinziehen könne.

So kam es, daß der alte Spittler einen Beschluß des Komitees herbeiführte, durch den ich armer, junger Student berufen wurde, als Bote der Pilgermission an den Hof des Königs Theodorus nach Abessinien zu gehen. Ich sollte zunächst bei Bischof Gobat in Jerusalem das Abessinische lernen und mich von da mit einigen Pilgermissionaren nach Abessinien und dann weiter südwärts zu den Gallas aufmachen. Solche Aussicht zog mein Gemüt lebhaft an, und ich stand im Geiste schon auf dem Ölberg, um von da aus mit dem Kämmerer aus dem Mohrenlande meinen Weg anzutreten.

Jetzt aber erfuhr der Inspektor des Missionshauses, Pfarrer Josenhans, von dem Plan des alten Spittler. Er ließ mich auf sein Zimmer kommen und ergoß sich in einem Strom von Zorn über meinen lieben alten Freund und sein unüberlegtes Handeln, mich mit solchen Plänen zu umstricken. Jetzt kamen auch mir ernste Bedenken gegen den Plan des alten Spittler. Aber als ich zu ihm ging, um ihm diese Bedenken vorzutragen, da gab es nun auf Spittlers Seite eine solche Schilderung der Verkehrtheit des Missionshauses, daß ich gar nicht wußte, wie ich daran war.

Spittler vertrat ungefähr den Standpunkt des alten Vater Goßner, der von dem vielen Studieren und der Gelehrsamkeit seiner Missionare gar nichts hielt, sondern sie einfach hinaussandte und sie draußen sich selbst ihren Unterhalt verdienen ließ. Deswegen bildete er seine Pilgermissionare auch besonders in allen Handwerken und in der Landwirtschaft aus, um ihnen so die Möglichkeit zu gewähren, sich ihren Unterhalt in den Heidenländern selbst zu erwerben. Josenhans dagegen vertrat die Notwendigkeit einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung, auch in den alten Sprachen, und glaubte, seinen Missionaren durchaus ein auskömmliches Gehalt geben zu müssen, damit sie ihre ganze Kraft dem Dienste des Wortes widmen könnten.

Beide Anschauungen haben ihr Berechtigtes, und es wäre auch wohl möglich, auf demselben Missionsgebiet, je nach den verschiedenen Gaben, beide zu vereinigen. Es wäre darum auch nicht nötig gewesen, daß die beiden vortrefflichen Männer sich um dieser verschiedenen Anschauungen willen so ereiferten. Aber das Entscheidende für mich war, daß ich merkte, daß es bei beiden auf meine Person abgesehen war und daß hierdurch ihr Eifer ein falscher Eifer war. Es war gerade Fastnachtszeit. Alles lief auf den Straßen von Basel in Fastnachtskappen umher, und ich weiß noch, wie ich zu einem meiner Freunde sagte, es wäre mir lieber, daß der alte Spittler und Josenhans sich Schellenkappen aufgesetzt hätten und auf der Gasse von Basel miteinander herumgesprungen wären, als daß sie sich in solcher Weise um meine arme Person zankten.

An sich war mir die Sache gut. Denn ich hatte mich in der Tat zu sehr an Menschen gehängt und zu hoch an Menschen hinaufgeblickt. Ich wies die Versuchung von mir, mit halber theologischer Bildung ohne weiteres in die Heidenwelt hinauszugehen, wie es der alte Spittler wünschte; und die Dankbarkeit gegen das Baseler Missionshaus ließ den überwiegenden Wunsch in meinem Herzen bestehen, dereinst in die Arbeit auf dem Baseler Missionsgebiet einzutreten.

Am 21. März, kurz vor meiner Abreise aus Basel, am Abend des Karfreitags, hielt ich meine erste öffentliche Predigt in der kleinen Elisabethkirche über Jes. 53, 11 und 12; es war mir eine gar herzbewegliche Stunde. Am 22. März nahm ich Abschied von meinen Lehrern und Freunden und von der lieben Stadt, die mir eine zweite Heimat auf Erden geworden war, um über Frankfurt a. M., wo damals meine Mutter wohnte, nach Erlangen zu gehen.”

2. In Erlangen. 1856

Erlangen stand in bezug auf die theologische Fakultät damals in sehr hoher Blüte. Hofmann, Thomasius, Delitzsch, Harnack zogen namentlich aus Norddeutschland große Scharen junger Theologen an, und es herrschte ein reges wissenschaftliches Streben voller Ernst, Frohsinn und Tüchtigkeit. Bei Hofmann war es mir schwer, daß ihn viele Studenten und namentlich die, die ihn am wenigsten verstanden, zu sehr vergötterten und daß seine Ausdrucksweise durchaus eine andere sein mußte als die anderer Theologen. Ich habe mich am meisten an seiner Auslegung der Psalmen erquickt, obwohl man ihm gerade hier am wenigsten Tüchtigkeit zuschrieb. Auch freute es mich, daß der hochgelehrte Mann für Studenten ein Missionskränzchen hielt, in das ich mich auch aufnehmen ließ und in dem ich vor einer größeren Studentenschaft einen Vortrag hielt.

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