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Die Träger des deutschen Idealismus
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Die Träger des deutschen Idealismus

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Persönlichkeit

So ist es auch das Moralische, das allein den Menschen wesentlich mehr sein läßt als das Tier. Denn »über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. Wie sich hier von der Moral und der ihr eignen Freiheit her das Gesamtbild des Lebens vertieft, das zeigen Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter; sie verdanken die hohe Schätzung, die wir alle ihnen zollen, an erster Stelle Kant. Denn Persönlichkeit hatte im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein nur die allgemeinere Bedeutung eines vernünftigen Einzelwesens (rationalis naturae individua substantia), erst Leibniz suchte dem Begriff eine präzisere Fassung zu geben, er fand sie in dem Vermögen des Menschen, in den verschiedenen Zeitpunkten das Bewußtsein der Identität zu bewahren; nur das schien ihm eine moralische und eine juristische Verantwortlichkeit möglich zu machen, nur daraus schöpfte er die Überzeugung von einer persönlichen Unsterblichkeit. So stand hier beim Begriff der Persönlichkeit das Intellektuelle voran, erst Kant wendet ihn ins Moralische.

Persönlichkeit bedeutet ihm nämlich »Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur«, das, »was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke, unter sich hat.« Ja, es wird wohl bei ihm von der Tierheit und Menschheit in uns noch die Persönlichkeit unterschieden; der Mensch ist zunächst ein lebendes, dann ein lebendes und zugleich vernünftiges, als Persönlichkeit endlich ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen.

Eine ähnliche Verschiebung ins Moralische und zugleich ins Freitätige hat der Begriff des Charakters durch Kant erfahren. Im Anschluß an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes bezeichnete vor ihm Charakter jede ausgeprägte seelische Beschaffenheit; es kann in diesem Sinne verschiedene Charaktere geben, gute sowohl als böse; keinen Charakter haben, das heißt, nicht scharf ausgeprägt sein. Der Charakter erschien hier vorwiegend als eine Gabe der Natur. Kant dagegen unterscheidet deutlich zwischen einem physischen und einem moralischen Charakter. Jener zeigt nach Kant an, was sich aus dem Menschen machen läßt, dieser dagegen, was er aus sich selbst zu machen bereit ist. »Einen Charakter schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die es sich durch seine eigne Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« In diesem Sinne wollte Kant nicht sagen, der Mensch habe diesen oder jenen Charakter, sondern er habe überhaupt einen Charakter, »der nur ein einziger oder gar keiner sein kann«.

Schon allein durch diese Begriffe, die in aller Munde sind, ist Kant tief in das deutsche Leben eingedrungen.

Überall erscheint dabei die engste Verbindung von Freiheit und Gesetz, und zugleich erscheint Kant als ein Durchbildner und Vollender dessen, was im deutschen Wesen angelegt ist.

Freiheit ist uns nicht eine Abwerfung aller Bindung, ein Heraustreten aus allen Zusammenhängen, ein Gestalten des Lebens möglichst nach eignem Belieben, sondern sie ist ein Aufnehmen der Vernunftzwecke und der allgemeinen Ordnung in den eignen Willen, die freie Bindung an ein selbstgewolltes Gesetz; darin liegt eine Selbstverneinung, aber mehr doch eine Selbstbejahung. Der Gehorsam gegen ein solches selbstgewolltes Gesetz kann keinen Druck erzeugen, nicht einengend auf uns wirken, vielmehr wird er unser Wesen erweitern, uns fester auf uns selbst stehen lassen. Daß die Fremden das nicht verstehen und den Gehorsam des freien Mannes blinde Unterwürfigkeit schelten, das ist eine gröbliche Verkennung der Wahrheit, eine Verkennung, die ihrerseits eine klägliche Flachheit bekundet. Kant aber ist es, der den deutschen Begriff der Freiheit aus dem tiefsten Innern unsres Wesens begründet und ihn zum festen Grundstein des menschlichen Lebens gemacht hat.

Freiheit und Kausalgesetz

Aber alle Schätzung der Gesinnung, die in solchen Lehren hervortritt, enthebt uns nicht der Frage, wie es mit der Wirklichkeit der Freiheit steht, ob diese nicht auf den Widerspruch der ganzen Weltordnung stößt, da sie die in ihr waltende Gesetzlichkeit aufs schroffste zu durchbrechen scheint. Dies nun ist das Große an Kant, daß er der Freiheit einen sicheren Platz im Ganzen der Welt erstreitet, ja daß er sie zur Seele der ganzen Wirklichkeit macht. Das aber kann nicht geschehen ohne eine völlige Umwandlung ihres gewöhnlichen Bildes, das verlangt im besonderen eine gründliche Auseinandersetzung mit dem großartigen Bilde, das Spinoza entworfen hatte, und das eben um die Zeit Kants die Gemüter überwältigend fortriß. Bei Spinoza wird die Welt ein lückenloser Kausalzusammenhang, der einfachen und unwandelbaren Gesetzen folgt, jeder einzelne ist hier in seinem Tun und Lassen ganz und gar durch seine Stellung im Ganzen bestimmt, der Mensch ist ebensowenig frei, wie es ein geworfener Stein sein würde, wenn er während des Fliegens ein Bewußtsein erhielte. Wird das konsequent durchgedacht, so verschwindet alles Gut und Böse, so bleibt nur Notwendigkeit; alles Urteilen hat dann einem bloßen Feststellen der Tatsächlichkeit zu weichen. Diese Lehre ist aber nicht private Meinung eines einzelnen Denkers, sie ist die volle Durchbildung einer Überzeugung, die namentlich von der mechanisch-mathematischen Naturwissenschaft vertreten wurde und dadurch zu großem Einfluß in der Neuzeit gelangt war; das Kausalgesetz, das jene beherrscht, ward bei Spinoza zum Weltgesetz erhoben. Nun aber hatte eben an diesem Punkt Kant aus rein wissenschaftlichen Erwägungen eine Gegenbewegung aufgenommen, die der schottische Philosoph Hume (1711–1776) begonnen hatte, die freilich nicht gegen das Kausalitätsgesetz selbst, wohl aber gegen seine Gültigkeit als ein den Dingen innewohnendes und den Weltlauf beherrschendes Gesetz gerichtet war.

Hume und Kant

Hume, ein klarer und kritischer Kopf, untersuchte den Ursprung des Kausalgesetzes und fand dabei das Ergebnis, daß er unmöglich in der Erfahrung, der Wahrnehmung der Dinge liegen kann. Denn der innere Zusammenhang des Geschehens, die Abhängigkeit des einen vom anderen, den jenes Gesetz behauptet, ist unmöglich von draußen her mitzuteilen, die Erfahrung zeigt uns nie mehr als ein Neben- und Nacheinander. So läßt sich die Kausalverknüpfung nur als ein Werk des Menschen verstehen, und zwar denkt sich das Hume in folgender Weise. Oft wiederholen sich bei uns Vorstellungen in gleicher Folge, und wir gewöhnen uns an diese Folge; treten nun wiederum die ersten Glieder der Reihe ein, so erwecken sie in uns mit zwingender Kraft das Bild der späteren; diesen Zusammenhang mit seinem Zwang tragen wir nun fälschlich in die Dinge hinein und glauben sie durch ein inneres Band verbunden, während nur unsre Vorstellungen sich verkettet haben. Bei solcher Fassung verliert die Kausalverknüpfung ihre Geltung als Weltgesetz, sie wird ein Vorgang in der einzelnen Seele, und da die Vorstellungsfolgen sich nur durch Erfahrung bilden, so kann die Kausalbetrachtung den Bereich der Erfahrung nie überschreiten; da ferner die Art der Verkettung ganz und gar eine Sache der einzelnen Individuen ist, so gibt es keine ihnen überlegene sachliche und allgemeine Wahrheit, und Wissenschaft in dem Sinne, wie sie bisher angenommen war, wird schlechterdings aufgehoben. Diese Verschiebung des Kausalgesetzes vom Objekt ins Subjekt, vom Weltall in die Einzelseele, versetzte Kant in gewaltige Aufregung und nachhaltige Bewegung. Daß die Kausalverknüpfung uns nicht von draußen zugehen könne, das schien auch ihm unbestreitbar. Aber wenn er in der Verneinung mit Hume zusammenging, so fand das von diesem gebotene Ja mit seiner Zerstörung strenger Wissenschaft bei Kant den härtesten Widerstand. Die Wirklichkeit einer solchen Wissenschaft als eines Systems allgemeingültiger Wahrheiten galt ihm schon durch die Tatsache der Mathematik als allem Zweifel enthoben, sie dünkte ihm eine unantastbare Wahrheit. Aber wie nun diese Wahrheit mit der Aufhebung der Kausalverknüpfung als eines Weltgesetzes in Einklang bringen? Dieser Widerspruch, dem ein schwächerer Geist erlegen wäre, hat Kant auf einen neuen Weg geführt und ihn in dessen Verfolgung die Höhe seiner wissenschaftlichen Leistung erreichen lassen.

Je mehr sich seiner Arbeit das Problem vertiefte, desto deutlicher wurde ihm, daß die Entscheidung letzthin an der Fassung des Wahrheitsbegriffes hängt. Wie ist Wahrheit, wissenschaftliche Wahrheit zu verstehen? Von alters her wurde sie als eine Übereinstimmung unsres Denkens mit einer unabhängig von ihm vorhandenen Wirklichkeit verstanden, und wenn auch der Lauf der Zeiten die Wege zu diesem Ziele erheblich verändert hatte, das Ziel selbst blieb bestehen und kam somit auch an Kant. Er aber erkannte mit eindringender Schärfe, daß es in dieser Fassung schlechterdings unerreichbar sei, daß also, wenn alle Wahrheit an ihm hänge, auf sie ein für allemal zu verzichten sei. Das vornehmlich aus dem Grunde, weil, wenn unsere Begriffe einer Bestätigung von draußen bedürften, wir nie zu allgemeinen und notwendigen Sätzen gelangen könnten, wie die Wissenschaft sie verlangt, da die Erfahrung uns immer nur Einzelnes und Tatsächliches darbieten kann. Überhaupt aber wäre nie auszumachen, wie weit unsre Begriffe zu dem Tatbestand stimmten, den sie uns übermitteln möchten. Kurz, die Skepsis wäre unüberwindlich, wenn Wahrheit Übereinstimmung unsres Denkens mit den Dingen bedeutet.

Dinge und Begriffe

Um solchen Schiffbruch der Wissenschaft zu vermeiden, gibt es nach Kant nur einen einzigen Weg: es müssen sich nicht unsere Begriffe nach den Dingen, sondern es müssen sich die Dinge nach unsern Begriffen richten, d. h. wir erkennen Dinge nur so weit, als sie in unsere Anschauungs- und Denkformen eingehen. Diese Verlegung des Schwerpunkts aus dem Objekt ins Subjekt, die kopernikanische Wendung, wie Kant selbst sie genannt hat, ergibt aber eine Wissenschaft und eine wissenschaftliche Erfahrung nur, wenn das Subjekt wesentlich anders verstanden wird, als Hume es tat. Vom Stande der Einzelseele greift Kant auf ein geistiges Gefüge zurück, das allen Menschen gemeinsam ist und das aller Arbeit trägt. Er erörtert zunächst, was für Wissenschaft und wissenschaftliche Erfahrung nötig ist, und er zeigt dann Punkt für Punkt, wie dieses geleistet wird; er zeigt, wie jene Leistungen, über deren Tatsächlichkeit ihm kein Zweifel besteht, möglich sind, d. h. was von rein geistiger Tätigkeit, von dem, was er a priori nennt, in ihnen steckt. Es erhellt dabei namentlich, daß alles, was an den Erkenntnissen Form ist, nicht von draußen stammen kann, sondern vom Geiste selbst geliefert werden muß; zu einer gewaltigen Aufgabe wird es damit, die Grundformen aufzusuchen, welche alles Erkennen tragen. In seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant das mit staunenswerter Energie und mit unermüdlicher Sorgfalt getan; das Gesamtergebnis ist ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit. Denn nun wird gewiß, daß wir die Ordnung, die wir in der Natur als den Dingen innewohnend vorzufinden glaubten, selbst ihr geliehen haben, daß wir in der wissenschaftlichen Forschung nur unser Eigentum wieder an uns nehmen. So erklärt sich das stolze Wort Kants: »Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«

Aber wenn so dem Geist ein hohes Vermögen zuerkannt wird, Kant ist nicht minder darauf bedacht, seine Grenzen sorgfältig zu wahren. Unser menschliches Denken hat nicht das Vermögen zu schaffen, es vermag nicht aus seiner Bewegung eine Wirklichkeit zu erzeugen, sondern die architektonische Tätigkeit der Vernunft bedarf eines Stoffes, den die Gegenstände als Dinge an sich geben müssen, »alles Denken muß sich zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.« Sinnlichkeit und Denken müssen zusammenwirken, um Erfahrung hervorzubringen. »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«

Erfahrung und Denken

Ein Denken, das über die Erfahrung hinausstrebt und eigne Wege gehen will, wie es nach Kants Überzeugung die herkömmliche philosophische Spekulation versuchte, fällt unvermeidlich ins Leere. Wie Kant demgegenüber seine Aufgabe faßt, das hat er in mannigfachen Bildern ausgedrückt, die seine Darstellung durchflechten. Er will vor dem Gerichtshof der Vernunft unerbittlich zerstören, was eine ihre Kräfte überspannende Vernunft sich zu Unrecht angemaßt hat; er will das Gebäude der Wissenschaft auf festem Grunde und nach einem klaren architektonischen Riß erbauen; er will der Spekulation die Flügel beschneiden, mit der sie hoffte sich in den leeren Raum aufschwingen zu können.

Seine Aufgabe hat Kant in drei Hauptabschnitten durchgeführt, deren jeder eine eingreifende Umwandlung der überkommenen und eingewurzelten Denkart vollzieht. Der erste zeigt, daß die Formen der sinnlichen Anschauung Raum und Zeit nicht Eigenschaften der Dinge sind, sondern lediglich der menschlichen Seele angehören, welche die Erscheinungen mittels ihrer zusammenfügt. Es wird gezeigt, daß sie unmöglich aus den Eindrücken der Sinne hervorgehen können, daß sie vielmehr von diesen vorausgesetzt werden, auch daß sie sich nicht durch Abstraktion aus ihnen ableiten lassen, sondern als ein Ganzes alle Mannigfaltigkeit in sich fassen; auch die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit der geometrischen und der arithmetischen Sätze wird als Zeugnis für die Subjektivität von Raum und Zeit verwandt; jene wäre unmöglich, wenn diese unabhängig von uns vorhandene Dinge wären, zu denen uns erst die Erfahrung einen Zugang verschaffen könnte.

Der zweite Hauptabschnitt zeigt, daß unser Bild der Welt eines Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Denken bedarf, daß aber das Denken die Grundformen liefert, die Elemente wie das Gefüge. Hier findet sich auch gegenüber Hume eine neue Behandlung des Kausalitätsproblems; so entschieden Kant die Kausalität den Dingen selbst fernhält, sie ist ihm keine Gewöhnung des bloßen Individuums, sondern ein Grundgesetz unseres Denkens, das nur mit ihrer Hilfe den Verlauf des Geschehens in eine feste Ordnung bringt. Dieser Abschnitt ist über die einzelnen Punkte hinaus darin bedeutend, daß er zeigt, wie auch das Bild der sinnlichen Welt auf logischer Arbeit ruht und an jeder Stelle ihrer bedarf, er gibt damit der Erziehung für die Bildung der Sinne wertvollste Anregung, ferner zerstört er für die Wissenschaft ein für allemal den Materialismus mit seiner plumpen Gleichsetzung von sinnlicher Handgreiflichkeit und echter Tatsächlichkeit, indem er das Hervorgehen unsres Weltbildes aus Gedankenarbeit deutlich vor Augen stellt.

Letzte Wahrheiten

Der letzte Hauptabschnitt zeigt endlich, daß ein unabweisbares Verlangen, zum Bedingten ein Unbedingtes zu suchen, die Mannigfaltigkeit auf eine letzte Einheit zurückzuführen, das Denken über das Gebiet der Erfahrung hinaustreibt, daß es ihm aber schlechterdings unmöglich ist, in dem Jenseitigen festen Fuß zu fassen und zu letzten Wahrheiten vorzudringen. An drei Punkten erfahren wir solchen Widerspruch in unserer eignen Vernunft: bei der Seele, beim Weltall, beim Dasein Gottes. Wohl wird im Leben alle Mannigfaltigkeit seelischer Vorgänge von einer Einheit des Bewußtseins getragen, aber wir dürfen deshalb nicht diese Einheit von jenem Zusammenhang ablösen und von ihr auf das Wesen der Seele oder auf eine Unsterblichkeit schließen; davon auf spekulativem Wege etwas zu erkennen, ist uns schlechthin versagt.

Ein unabweisbares Verlangen unserer Vernunft nach Einheit drängt uns dazu, die mannigfachen Erscheinungen um uns zum Ganzen einer Welt zusammenzuschließen, und wir können dann nicht umhin, über den Ursprung und das Gefüge dieses Ganzen Behauptungen aufzustellen. Aber bei solchem Unternehmen verwickeln wir uns in entgegengesetzte Thesen, deren jede wohl die andere widerlegen, nicht aber die eigene Wahrheit dartun kann. Das spricht zum allgemeinen Bewußtsein am deutlichsten bei der Frage, ob die Welt in Raum und Zeit begrenzt oder ob sie unbegrenzt ist. Eins von beiden scheint notwendig, und doch können wir uns für keins entscheiden. Denken wir nämlich die Welt in Raum und Zeit begrenzt, so wird ihr Bild unerträglich klein; denken wir sie unbegrenzt, so wird es unerträglich groß; solche Unmöglichkeit einer Entscheidung darf als ein sicheres Zeugnis dafür gelten, daß Raum und Zeit nicht von uns unabhängige Größen sind, sondern nur menschliche Anschauungsformen.

Das letzte Problem ist das Dasein Gottes. Ein Verlangen unserer Vernunft nach einem letzten Abschluß macht uns zur Bejahung jener Frage geneigt; aber jede nähere Prüfung zeigt, daß wir damit den eignen Kreis überspringen, subjektive Antriebe in objektive Notwendigkeiten verwandeln, den Gebilden unseres Denkens eine Selbständigkeit gegenüber diesem Denken verleihen.

So gibt uns die reine Wissenschaft keine Antwort auf die Fragen, die unsere Seele zu beschäftigen nimmer aufhören können; auch der Lauf der Zeit kann daran nichts ändern, da alle Fortschritte des Erkennens innerhalb des bezeichneten Rahmens bleiben, ihn weder überschreiten noch verändern können.

Das Ganze unseres intellektuellen Vermögens, wie es sich aus Kants Untersuchung ergibt, stellt sich in zwiefacher Beleuchtung dar: es ist groß innerhalb der Erfahrung, in dem Aufbau ihres weitverzweigten Gefüges, in seiner völligen Durchdringung mit Denkarbeit, es ist klein, sobald es sich über die Erfahrung hinauswagt und letzte Gründe der Wirklichkeit erforschen will.

Das eine wie das andere wirkt aber dahin, dem Reich der Moral freien Platz zu schaffen und ihm einen besonderen Wert zu verleihen. Die ganze sinnliche Welt kann jetzt nicht mehr als letzte Wirklichkeit gelten, deren Gesetze auch unser Handeln beherrschen, sie hat sich in ein Reich der Erscheinungen verwandelt, das vornehmlich von uns selbst gebildet ist. So bedeutet auch die Kausalverkettung nicht mehr ein Weltgesetz, das keine Freiheit des Handelns duldet, für die Freiheit ist jetzt freier Raum gewonnen. Auch das Unvermögen der Spekulation gegenüber den letzten Fragen ist insofern dem Handeln günstig, als es von ihr keine bindenden Ziele empfangen kann, sondern soweit es ihrer bedarf, sie aus eignem Vermögen aufbringen muß.

Das Reich der praktischen Vernunft

Auch die Gesamtstellung der praktischen Vernunft im Lebenswerke Kants wird durch die Erfahrungen der Erkenntniskritik aufs wesentlichste verbessert. Diese Erfahrungen fassen sich zusammen in eine Befreiung des Menschen vom Druck einer ihm entgegenstehenden Welt, er braucht nicht eine Übereinstimmung mit einer solchen Welt zu suchen, er bildet sich seine Welt aus den Kräften und nach den Gesetzen seines eigenen Wesens. Das war ein großer Gewinn an Freiheit und Selbständigkeit, er brachte den Menschen in ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit. Aber es verblieb bei allem Gewinn eine feste Schranke darin, daß das Denken nur in Beziehung auf Sinnlichkeit in fruchtbare Arbeit kam, daß Dinge an sich seiner Tätigkeit den Stoff darbieten mußten. So drängt es notwendig weiter zu dem Gedanken, ob es nicht eine Tätigkeit gibt, die unabhängig von solcher Beschränkung aus sich selbst heraus eine Wirklichkeit bilden könnte; eine solche Tätigkeit müßte als die Vollendung des Lebens gelten, sie würde nichts Dunkles, nichts Unaufhellbares in sich tragen. Nun aber liegt eine solche Tätigkeit, ein solches Wirken aus reiner Selbsttätigkeit vor in der Moral und ihrem Reiche der praktischen Vernunft. So darf diese als die letzte Tiefe der Wirklichkeit gelten, und da bei ihr das Wirken der Vernunft nicht wie beim Erkennen an besondere Bedingungen des Menschen geknüpft ist, so beschränkt sich auch ihre Geltung nicht auf den Menschen, sie muß für alle Vernunftwesen gelten, sie hat eine unbedingte Gültigkeit. Damit rechtfertigt sich vollauf die Hochschätzung, mit der Kant die Moral behandelt, diese hat sich nun wirklich als der Kern des Menschenwesens erwiesen und zugleich zu einer Entwerfung von Weltausblicken fähig gezeigt. Denn in der hier gebotenen Fassung ist die Moral nicht ein besonderes Gebiet innerhalb einer weiteren Welt, sondern sie ist der Ursprung einer neuen Welt, und diese Welt bildet die Tiefe der gesamten Wirklichkeit. Die Moral schafft sich gegenüber der Natur ein eignes Reich, ein Reich der Freiheit, das sein Recht und seinen Wert ganz und gar in sich selbst hat und keiner Bestätigung, keiner Befestigung von außen her bedarf; es ist nunmehr vollauf verständlich, wie sehr der Mensch durch sein selbständiges Teilnehmen an diesem Reich der Freiheit gehoben wird, wie er ganz davon erfüllt sein muß.

Die drei Grundüberzeugungen

Solche Erhebung der Moral zu einer weltschaffenden Größe bringt es mit sich, daß sich aus ihr auch Grundüberzeugungen vom Ganzen der Wirklichkeit entwickeln, Grundüberzeugungen, praktische Ideen, die keine theoretischen Lehrsätze sind und nicht als solche verwandt werden dürfen, die aber dem pflichtmäßig handelnden Menschen unbedingt gewiß sind; sie sind Sache des Glaubens, aber eines Glaubens, an dem aller Wert des Menschen hängt, und der sich von einem dogmatischen Glauben aufs deutlichste unterscheidet. Der erste Punkt dieses moralischen Glaubens ist die Idee der Freiheit, die allein Moral überhaupt möglich macht, Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung des vernünftigen Willens; der zweite die Idee der Unsterblichkeit, da die notwendige Forderung einer vollendeten Heiligkeit des Wandels sich innerhalb des Erdenlebens unmöglich erfüllen läßt, ein schlechthin Unmögliches aber nie die volle Kraft der Seele gewinnen könnte; der dritte die Idee Gottes, als des Trägers einer naturüberlegenen Ordnung, die das Glück zur Glückswürdigkeit in das rechte Verhältnis bringt. Von diesen Ideen ist aber die erste als die grundlegende die weitaus wichtigste, die anderen dienen mehr zur Ausführung und zur Hilfe. Im Grunde ist es der Glaube an das in uns gegenwärtige Wirken einer Welt der Freiheit gegenüber aller bloßen Natur, der Kant eine volle Gewißheit und freudigen Lebensmut gibt. »Die Idee der Freiheit ist die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist.«

Das moralische Gesetz in uns

Wie sich ihm mit dem allen unser Verhältnis zu den großen Lebensfragen darstellt, darüber spricht er sich an einer Stelle der Praktischen Vernunft aus, die für das Ganze seiner Denkart zu bedeutend und zu bezeichnend ist, als daß wir auf eine Anführung verzichten möchten. Er sucht zu zeigen, daß eine nähere Einsicht in die tiefsten Gründe der Wirklichkeit unserem moralischen Handeln leicht gefährlich werden könnte. »Statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen. – Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand und äußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererst emporarbeiten darf, um Kraft zum Widerstande gegen Neigung durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln, so würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existieren.

Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir, mit aller Anstrengung unserer Vernunft, nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt; so kann wahrhafte sittliche, dem Gesetze unmittelbar geweihte Gesinnung stattfinden und das vernünftige Geschöpf des Anteils am höchsten Gute würdig werden, das dem moralischen Werte seiner Person und nicht bloß seiner Handlungen angemessen ist. Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ.«

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