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Moderne Geister
Blicher's „Tagebuch eines Dorfküsters“ ist eine Novelle, in welcher die Handlung wenig zu bedeuten hat und die meisten Charaktere durch ihre Rohheit abstossend wirken; aber sie ist deshalb doch ein Werk von höchstem Kunstwerthe; ihre Hauptstärke liegt im Stile, in der meisterhaft durchgeführten, fast zweihundert Jahre alten Sprachweise des braven Küsters. Diese Sprachweise ist uns eine Bürgschaft für die schneidende Wahrheit der Erzählung, eine Wahrheit, zu der man nicht auf dem Wege des Idealismus gelangt, und die darum von Heyse weder gesucht, noch erreicht wird, ich meine jene Wahrheit, die von den Franzosen als la vérité vraie bezeichnet wird.
Und könnte man nicht Heyse mit seinen eigenen Waffen schlagen? Ich glaube es. Er will mit seiner Betonung dessen, was die Novelle in der Novelle ist, zugleich gegen die Ueberschätzung des Stils und des ideellen Gehalts Front machen. Aber von allen seinen versificirten Novellen scheint mir „Der Salamander“ am höchsten zu stehen, von seinen Prosanovellen ist „Der letzte Centaur“ mir eine der liebsten, und jene scheint mir wegen des Vortrags, diese wegen der Idee den Preis davonzutragen.
Man gebe sich keine Mühe damit, im „Salamander“ nach einem „Falken“ zu suchen: Handlung gibt es da nicht, die Charaktere entwickeln sich so gut wie gar nicht, und doch wird jeder empfängliche Leser unter dem Einflüsse des Zaubers dieser Terzinen einen so lebhaften Genuss empfinden, dass es ihm vorkommt, als hätte das Gedicht ausser seinen eigenen Vorzügen noch alle die, die ihm abgehen. Von der epischen Ruhe, von dem objectiven Stil, der Heyse's eigentliches Ideal im Novellenfach ist, wird man hier nicht viel finden. Diese epische Ruhe passt vielleicht überhaupt weniger für den unruhigen Geist unserer Zeit. Vollständig ist die Verwirklichung dieses Ideals Heyse wohl eigentlich auch nur gelungen in den wenigen Prosanovellen, die das moderne Culturleben gar nicht berühren, wie in den genialen Pastichen aus der Vorzeit: „Die Stickerin von Treviso“ und „Geoffroy und Garcinde“, wo der edel einfältige Stil der altitalienischen oder provencalischen Erzählungen idealisirt ist, oder bei denjenigen Stoffen, die dem Leben des Volkes in Italien oder Tyrol entnommen sind; denn das Volk scheint ihm in jenen Ländern selbst ein naives und aus einem Guss geformtes Stück Mittelalter. Eine Erzählung wie das kleine Juwel „L'Arrabbiata“, das Heyse's Ruhm begründete, kommt erst durch ihre schlichte, strenge Einfassung zu ihrem Rechte; mit stilistischen Verzierungen oder mit psychologisch zugeschliffenen Facetten ausgestutzt, würde sie ihre ganze Schönheit verlieren, wenn nicht unmöglich sein. Ebenso ist „Die Stickerin von Treviso“, die wohl nach der eben genannten Novelle den grössten Beifall geerntet hat, in ihrer rührenden Einfachheit und Grösse auf solche Weise eins mit ihrer Chronikform, dass sie ohne diese gar nicht denkbar ist. Aber wo ganz moderne Eigenschaften und Scenen dargestellt werden, da kann der Stil kaum zu individuell und nervös sein. Heyse selbst kann es nicht unterlassen, sich in dieser Hinsicht nach seinem Stoffe zu richten; wie fieberhaft ist die Darstellung in der hübschen Krankengeschichte in Briefen „Unheilbar“! Indess lässt er sich augenscheinlich nur widerstrebend oder unfreiwillig zu einem so leidenschaftlich wogenden und zitternden Stil wie im „Salamander“ hinreissen. Diese Novelle ist lauter Vortrag, ihre Schönheit beruht ganz und gar auf der bestrickenden Anmuth der metrischen Diction und doch findet sich hier kein Wort, das nicht zur Sache gehört. Alles ist hier lebendiges Leben, jede stilistische Wendung tiefgefühlt und durchsichtig; die kämpfende Seele des Schreibenden liegt offen vor dem Leser. Die Situationen sind unbedeutend und alltäglich; keine bengalische Beleuchtung, nicht einmal in einem Schlusstableau. Aber diese merkwürdigen, unglaublich schönen, naturwidrig leichten, nervös leidenschaftlichen Terzinen verleihen mit ihrem Fragen und Antworten, Scherzen, Singen und Klagen der theatralisch natürlichen, beherrscht verliebten, blasirt koketten Heldin und der Leidenschaft, die sie einflösst, einen solchen Reiz, dass keine spannende Geschichte mit Angel- und Wendepunkt fesselnder sein könnte. Zum Abschluss tönen diese seltenen Terzinen, welche durch die Behandlung ein ganz neues Versmass geworden sind, ebenso überraschend wie genial und kühn, in die Accorde dreier naturfrischer Ritornelle aus. Allen Theorien zum Trotz behauptet eine Dichtung wie diese ihren Platz.
Es will mich überhaupt bedünken, als mache Heyse sich einen unrichtigen Begriff von der Bedeutung des poetischen Stils. Theoretisch fürchtet er dessen selbständige Entwickelung und mag keine Werke, die „lauter Vortrag und Stil“ sind. Nichtsdestoweniger hat er in Gedichten wie „Das Feenkind“ und noch mehr in einem Gedichte wie „Frauenemancipation“ selbst solche Productionen geliefert. Das erste von diesen Gedichten ist fein und graziös, aber der Scherz dauert reichlich lange – von Schlagsahne isst man nicht gern allzu viel; das andere, dessen Tendenz übrigens die beste ist, leidet an einer Plauderhaftigkeit ohne Salz. Aber ein ausgeprägter Stil ist ja auch nicht dasselbe wie die formelle Virtuosität des Vortrags. Dass ein Sprachkünstler wie Heyse, der Uebersetzer Guisti's, der Troubadours, der italienischen und spanischen Volkslieder, diese im vollsten Masse besitzt, versteht sich von selbst. Allein der in Wahrheit künstlerische Stil ist nicht die formelle Anmuth, die sich gleichmässig über alles verbreitet: Stil im höchsten Sinne des Wortes ist Durchführung, in allen Punkten durchgeführte Form. Wo Sprachfarbe, Ausdruck, Diction, persönlicher Accent noch eine gewisse abstracte Gleichartigkeit haben, wo es nicht gelungen ist, in jedem Moment die Seele sich in allen diesen äusseren Formen prägen zu lassen, da hängt die sprachliche Draperie, aus wie leichtem Gewebe sie auch bestehen mag, steif und todt um die Persönlichkeit des Sprechenden. Der vollkommene moderne Stil dagegen umschliesst diese, wie das Gewand den griechischen Redner, die Haltung des Körpers und jede Bewegung hervorhebend. Der virtuosenhafte Vortrag kann, selbst wenn er „glänzend“ ist, herkömmlich und alltäglich sein; der echte Stil ist das nie. An der Erzählungsweise in Heyse's Novellen habe ich nicht viel auszusetzen; seine dramatische Diction spricht mich nicht so an.
Mancher wird vielleicht meinen, wenn einige der historischen Dramen Heyse's nicht die Anerkennung, wie seine Novellen, gewonnen haben, so liege es daran, dass sie zu wenig Handlung und zu viel Stil besitzen. Wenn das Wort Stil aber verstanden wird, wie ich es hier bestimme, so muss man gewiss eher sagen, dass ihre Jambenform abgetragen war und dass sie nicht Stil genug haben. Die Diction in „Elisabeth Charlotte“ z. B. trägt weder hinlänglich die Farbe des Zeitalters, noch der Person, welche spricht. Man vergleiche nur die hinterlassenen derben Memoiren der Prinzessin. Der Dichter hat bei seiner fabelhaften Fertigkeit, sich in jedes poetische Genre hinein zu finden, ein Drama ebenso leicht zu Stande zu bringen, wie er eine Geschichte erzählt, sich die Arbeit etwas zu bequem gemacht. Die kleine Tragödie „Maria Moroni“, die unter den Schauspielen den Novellen am nächsten steht, könnte sowohl durch Plan wie durch Charakterzeichnung den italienischen Dramen Alfred de Musset's, an die es erinnert, würdig zur Seite stehen, wenn sie in der Sprachfarbe nicht so viel trockener wäre. Der Dialog Musset's funkelt nicht nur von Witz, sondern lodert zugleich von Innigkeit und Leben. Heyse ist in seinen Dramen nicht so persönlich mit seiner ganzen Seele an jedem Punkte zugegen gewesen. Aber dies: „an jedem Punkte“ ist der Stil.
Wie ich also wegen der Vorzüglichkeit des Vortrags den „Salamander“ unter den versificirten Novellen am höchsten schätze, so würde ich um der Idee willen unter den Prosaerzählungen dem „Letzten Centaur“ einen hohen Platz geben, obwohl diese Novelle ebenfalls zu denen gehört, die der Definition am fernsten stehen. Es handelt sich in ihr nämlich nicht um eine Begebenheit oder einen Conflict in einem bestimmten Lebenskreise, nicht um einen besonderen psychologischen Fall, überhaupt nicht um ein Stück Leben, sondern um das Leben selbst; sie lässt gleichsam das ganze moderne Leben innerhalb eines engen Rahmens sich abspiegeln. Ein Schuss in das Centrum ist so erquickend. Warum es leugnen? Der peripherische Charakter einzelner anderen Arbeiten Heyse's ist Schuld daran, dass sie weniger interessiren. Wenn man eine lange Reihe Novellen durchgelesen hat, kann man nicht wohl umhin, sich nach Kunstformen zu sehnen, die bedeutungsvollere, allgemeingültigere Ideen und Probleme in poetische Form fassen.
VIII
Heyse's Dramen sind höchst verschiedenartig: bürgerliche Tragödien, mythologische, historisch-patriotische Schauspiele von sehr verschiedener Kunstrichtung; sein Talent ist so biegsam, dass er sich an jede Aufgabe wagen darf. Einen starken Drang zum Historischen hat Heyse nicht gehabt; die geschichtlichen Dramen sind alle einem patriotischen Gefühl entsprungen und wirken am meisten durch dies Gefühl. Die für den Dichter bezeichnendste von diesen Dramengruppen ist die, welche antike Stoffe behandelt. Zu der Zeit, da man überall in dem höheren Schauspiel politische moderne Action verlangte, hat man in Deutschland über diese Beschäftigung mit altgriechischen und römischen Stoffen unverständig lamentirt oder gespottet. Man fragte, was in aller Welt den Dichter und uns an einem Gegenstande wie Raub der Sabinerinnen oder Meleager oder Hadrian zu interessiren vermöchte. Für den, welcher kritisch liest, ist es klar genug, was Heyse zu diesen Sujets hat hinziehen können. Sie verkörpern ihm seine Lieblingsideen über Frauenliebe und Frauenloos, sein eigenes Wesen spiegelt sich in ihnen. Wer das heissblütige Drama „Meleager“ mit Swinburne's „Atalanta in Kalydon“, das denselben Stoff behandelt, vergleichen will, wird zu manchen interessanten Beobachtungen über die Eigenthümlichkeit der beiden Dichter Anlass finden. „Hadrian“ hat wol am meisten die Kritik verwirrt. Was den Dichter zu einem uns so fremdartigen, noch dazu an die Schattenseiten des antiken Lebens erinnernden Verhältniss, wie dem zwischen Hadrian und Antinous locken könnte, schien fast unbegreiflich. Ich betrachte unter Heyse's Dramen „Hadrian“ als eins der besten, und zwar weil dies Stück das persönlichste und am tiefsten empfundene ist. Es ist mir unmöglich gewesen, diese Tragödie von dem jungen, schönen Aegypter, der, vom Weltbeherrscher so leidenschaftlich geliebt, von aller Herrlichkeit und Pracht des Hofes umgeben, frei in jeder Hinsicht, nur an seinen kaiserlichen Bewunderer gebunden, nach vollständiger Freiheit schmachtet, zu lesen ohne an einen gewissen jungen Dichter zu denken, der, schon in frühester Jugend an einen süddeutschen Hof berufen, bald der Liebling eines liebenswürdigen und verständigen Königs, als Günstling des Glückes beneidet ward, und doch heimlich in manchem Augenblick sich weit weg vom Hofe wünschen und in mancher gebundenen Stunde es fühlen musste, wie wenig selbst die Gunst des besten Herrn die Freiheit des ganz Unbeschützten aber ganz Unabhängigen aufwiegt.
In diesem Drama ist ausnahmsweise alles Scenische von der höchsten Wirkung. Die eigentliche Ursache, warum Heyse bei seiner grossen Befähigung für die Bühne doch sonst nicht entschieden durchdrungen hat, ist vielleicht die, dass er das eigentliche deutsche Pathos, das Schiller'sche, nicht besitzt. Erst wenn ein Pathos gebrochen, wenn das Pathetische halb pathologisch ist, vermag er es mit voller Ursprünglichkeit zu behandeln. Das dramatische Pathos aus voller Brust wird bei ihm leicht unkünstlerisch-national, patriotisch und ein bisschen alltäglich. Hierzu kommt, dass die Darstellung der eigentlich männlichen Action nicht seine Sache ist. In wie hohem Grade er auch in seiner Poesie über die passiven Eigenschaften des Männlichen, wie Würde, Ernst, Ruhe, Unverzagtheit, gebietet, es fehlt doch ihm, wie Goethe, ganz das active Moment. Ein kräftig eingreifendes Handeln, das ein Ziel verfolgt, ist so wenig der Kern seiner Dramen wie seiner Novellen und Romane. Kommt ab und zu eine energische Handlung vor, so geschieht sie aus Verzweiflung oder Wuth: das Individuum ist in eine Enge getrieben, wo es keinen andern Ausweg erblickt als den, das Aeusserste zu wagen. (Man vergleiche die Handlung des jungen Försters in „Mutter und Kind“, als er den Sohn seiner Geliebten raubt, oder die Entführung in „Das Bild der Mutter“.) Im „Paradiese“ ist die Scene, wo Jansen in seiner Erbitterung über all' die Halbheiten, in denen er sein Leben verbracht hat, die Modelle seiner Heiligen zu Scherben schlägt, ein gutes Beispiel. Es war unmännlich von Jansen, eine Heiligenfabrik zu unterhalten – die ganze Idee ist als flüchtiger Scherz amüsant, lässt sich aber nicht festhalten, ohne den Charakter zu entstellen – es ist indess noch unmännlicher, ja weibisch gehandelt, seinen Zorn über die todten Gypsgestalten ausgehen zu lassen. Obwohl nun aus dem angeführten Grund der eigentliche dramatische Nerv wohl immer Heyse's Arbeiten fehlen wird, sind die Hindernisse, die sich dem entscheidenden Erfolg des Dichters auf der Bühne in den Weg stellen, nicht so bedeutend, dass er sie nicht mit der Zeit überwinden und einen scenischen Triumph feiern könnte. Vorläufig ist er vor einigen Jahren zur allgemeinen Verwunderung in einer Dichtungsart aufgetreten, die ihm ganz fern zu liegen schien, in der er aber in kurzer Zeit einen grossen Erfolg errang.
Es ist noch in frischer Erinnerung, welches Aufsehen die „Kinder der Welt“ in Berlin erweckten, als der Roman zuerst in der „Spener'schen Zeitung“ erschien. Man sprach einen Monat lang überall von diesem Feuilleton. Plötzlich hatte der unschuldige, dem Weltleben entfremdete Novellist sich als ein rein moderner Geist enthüllt, der einen philosophischen Roman mit Hölderlin's Worten schloss:
Verlass mit Deinem Götterschilde,
Verlass o Du, der Kühnen Genius,
Die Unschuld nie!
Man hatte offenbar bisher übersehen, dass durch Heyse's einschmeichelnde Poesie ein heftiger Freiheitsdrang ging, eine völlige Unabhängigkeit von Dogmen und conventionellen Banden. Darum wurde man jetzt viel mehr als es sich gebührte, überrascht. Der Dichter ist von gemischter Herkunft: von seinem germanischen Vater hat er das Positive in seinem Wesen, die Fülle und Schönheit des Gemüthes geerbt, von der Mutter, die Jüdin war, eine kritische Ader. Zum ersten Male wurden beide Seiten seines Wesens dem grossen Publikum offenbart. Es musste eine bedeutende Wirkung auf die Gemüther machen, dass dieser Fabius Cunctator, der sich so lange von den Problemen der Zeit fern gehalten hatte, jetzt den Augenblick gekommen fühlte, um seine Position unter denen einzunehmen, die den Kampf der Zeit kämpften. Der Roman ist ein würdiger und vornehmer Protest gegen die, welche noch in unseren Tagen die Denk- und Lehrfreiheit fesseln wollen. Er hat alle Polemik gegen die Dogmen hinter sich. Er lässt alle Hauptpersonen mit klarem Bewusstsein in der Atmosphäre freier Ideen leben, welche die Lebensluft der neuen Zeit ist. Es ist eins von den Werken, welche die Innigkeit eines lange zurückgehaltenen, spät gereiften persönlichen Bekenntnisses haben, und darum eine Lebensfähigkeit besitzen, der keine formelle Ungeschicklichkeit, kein formeller Mangel Abbruch thun kann. Es fehlt dem Buch als erstem Versuche Manches dazu, ein echter Roman zu sein: es gebricht, wie zu erwarten war, dem Helden an Entschlossenheit, an activer Manneskraft; das Buch sammelt sich nicht um ein einzelnes, unbedingt herrschendes geistiges Interesse; die Alles verschlingende Erotik lässt die Idee nicht klar und central, wie sie vom Dichter gedacht ist, hervortreten. Die entscheidende Wendung des Buches scheint hervorzustehen, wo Franzelius nach Balder's Beerdigung auf die Denunciation Lorinser's in's Gefängniss geworfen worden ist. Hier sagt Edwin ausdrücklich:21 „Sie wollen den offenen Krieg, sie fordern ihn selbst heraus, und es wird nicht eher Frieden geben, bis man ihn ehrlich durchgefochten hat“. Aber der offene Krieg bleibt aus, Edwin und die ganze kleine Schaar der Hauptpersonen begnügen sich mit der Defensive, und als Edwin endlich mit seinem epochemachenden Werke fertig wird, ist der Roman zu Ende. – In nahem Zusammenhang mit diesem Mangel steht die zu grosse Weichheit der Gefühle in den Partien, die von Balder handeln. Das strenge Beobachten von Mass und Grenze, das Heyse's Novellen auszeichnet, wird hier vermisst. Aber wie wäre es möglich, dass grosse Vorzüge bei einer so umfangreichen Arbeit nicht durch einige Mängel erkauft würden! Nicht allein haben die feinen Frauengestalten hier dieselben Vorzüge, wie in den Novellen: der Dichter hat hier noch dazu sein Gebiet in hohem Grade erweitert; eben die am wenigsten idealen Figuren: Christiane, Mohr, Marquard, sind am besten gelungen. Und welche Strömung echter allseitiger Bildung enthält er! Es ist nicht nur ein muthvolles, es ist ein erbauliches Buch.
Bei den einzelnen schmutzigen Angriffen, die es seinem Verfasser zugezogen hat, will ich nicht verweilen. Die Denunciationen in ein paar deutschen Winkelblättern interessiren mich nur, weil der norwegische Uebersetzer von Goethe's „Faust“ einen dieser Schmähartikel, der den Inhalt des Buches so wiedergab, als handle es sich darin um lauter roheste Sinnlichkeit, mit einer Einleitung abdrucken liess, die alle norwegischen Familienväter warnte, das Buch über ihre Schwelle kommen zu lassen22.
Auf einen kleinen Hieb von Frankreich aus musste Heyse füglich gefasst sein. Er käme nicht unverdient: denn die in seinem Roman vorkommenden Aeusserungen über französische Literatur und Geistesrichtung sind ganz im Stil der üblichen deutschen Anschauung gehalten; aber der Hieb hätte ritterlicher und geschickter ausfallen sollen als der, vom Nationalhasse und Selbsterhaltungstriebe dictirte, sehr unedle und beschränkte Artikel von Albert Réville in der „Revue des deux mondes“.
Die Freiheit des Gedankens war die Grundidee der „Kinder der Welt“. Die Sittenfreiheit ist der Grundgedanke des Romans „Im Paradiese“, doch nicht so, dass er unbedingt als Vertheidigungs-Eingabe zu betrachten sei; denn wenn die Gedankenfreiheit als unbedingt behauptet werden muss, so ist die Freiheit der Sitten doch nur relativ, und der Dichter hat ihnen nicht mehr als eine relative Freiheit behaupten wollen. „Im Paradiese“ ist aber auch ein Werk von ganz anderer Art als der erstere Roman. Schon der Umstand, dass jener im verstandesscharfen Berlin, dieser im heiteren und sinnlichen München vorgeht, deutet den Unterschied an. Während „Kinder der Welt“ ein philosophischer Roman genannt werden konnte, ist „Im Paradiese“ eine Art roman comique, leicht, graziös und voll mit Ernst gemischten Scherzes. Er hat vielleicht seinen grössten Werth als Psychologie einer ganzen bedeutenden Stadt und als Porträt ihrer gesellschaftlichen und künstlerischen Zustände. Ganz München ist in diesem Buche enthalten, und den Hauptplatz nimmt selbstverständlich das Künstlerleben der Kunststadt ein. Die Gespräche und Reflexionen über Kunst haben hier nicht das müssige und abstracte Gepräge wie in den gewöhnlichen Künstlerromanen; man fühlt, dass es kein Theoretiker sondern ein Kenner ist, der spricht, und ein wahrer Ateliergeruch ist über alle diese Partien des Buches verbreitet. Die ganze Aesthetik des Verfassers lässt sich in Ingres' alter Definition zusammenfassen: l'art c'est le nu.
Was die Schlingung und Composition der Handlung betrifft, bezeichnet „Im Paradiese“ einen unzweifelhaften Fortschritt. Das Interesse wird hier überall erhalten, und, was mehr ist, es ist immer im Steigen; ein Lob, das man „Kinder der Welt“ nicht spenden konnte. Ab und zu sind zwar noch die Mittel, die die Handlung vorwärts bringen, ein wenig ungeschickt benutzt. So ist besonders die ganze Rolle, die der Hund Homo als deus ex machina spielt, etwas stark übertrieben. Er erinnert mit seinem übermenschlichen Scharfblick an jene Löwen, welche die Sculptur der Zopfkunst mit menschlichen und majestätischen Gesichtern darstellte, von Mähnen umrahmt, die in Wirklichkeit Allongenperrücken allzu ähnlich sahen. Doch in deutschen Romanen ist nicht die Handlung, sondern die Charakteristik die Hauptsache, und in fast allen Nebenfiguren offenbart dieses Buch eine ganz neue Seite von Heyse's Talent. Gestalten wie Angelica, Rosenbusch, Kohle, Schnetz, haben ein spielendes, mannigfaltiges Leben, das von Heyse's Stilart sonst fast ausgeschlossen war. Heyse's Geist hat mit einem Wort Humor gewonnen, den Humor des reifen Mannesalters, der vierziger Jahre kann man vielleicht sagen; aber einen feinen, stillen Humor, der die Begabung des Dichters vervollständigt und seinen Farben den ächten Schmelz verleiht.
IX
Wir haben den Kreis von Ideen und Formen durchlaufen, in welchen dieser Dichtergeist seinen Ausdruck gefunden hat. Wir sahen, wie Heyse zuletzt im Roman den bewegenden Gedanken der modernen Zeit gerecht ward, denen die Novellenform nicht Raum zu geben vermochte. Ich hob indess eine Novelle hervor, die sich durch ihren Grundgedanken nicht weniger auszeichnet, als „Der Salamander“ durch den Stil.
Jedes Mal, wenn Heyse es versucht hat, den alten Mythen ein modernes Interesse abzugewinnen, hat er Glück gehabt. Das kleine, reizende Jugendgedicht „Die Furie“ gehört zum Besten, was er geschrieben. In einem kleinen Drama „Perseus“ (in die gesammelten Werke nicht aufgenommen) hat er eine neue Auslegung des Medusamythus gegeben: er hat mit der armen, schönen Medusa Mitleid gefühlt, der das grausame Schicksal, auf Jedermann versteinernd zu wirken, beschieden ward, und er belehrt uns, dass nur die Eifersucht neidischer Göttinnen auf ihre Liebe zu Perseus Schuld daran ist. Ihr Kopf fällt vor der Hand ihres eigenen Geliebten, während sie, um ihm nicht durch den unheilvollen Blick zu schaden, ihr Gesicht in den Sand begräbt. Heyse hat aus dem Mythus ein originelles und trauriges Märchen gemacht.
Die Geschichte vom „Centaur“ ist heiter und tiefsinnig. Man wundert sich nicht, wenn „Im Paradiese“ uns mittheilt, dass diese Novelle den Maler Kohle zu seinen lieblichen Fresken begeistert hat. Der Pilgergang „unserer lieben Frau von Milo“, den man als Bild vor seinen Augen zu sehen glaubt, so lebhaft ist die Freske beschrieben, ist als Gedicht mit „dem letzten Centaur“ gar innig verwandt. Der letzte Centaur! Das klingt fast wie der letzte Mohikaner! Was weiss Heyse vom letzten Centauren? Wie hat er ihn in eine reguläre Novelle einführen können? O, das geschieht mit vieler Kunst und doch auf die natürlichste Weise. Er zieht erst, so zu sagen, zwei Kreise in einander, dann einen dritten Kreis, und in diesem beschwört er den Centauren herauf. Der erste Kreis ist die Welt der Lebendigen, der zweite die Welt der Todten, der dritte schliesst leicht und natürlich das Reich des Uebernatürlichen ein. Die Erzählung hebt, wider Heyse's Gewohnheit, rein selbstbiographisch, also mit einem möglichst starken Wirklichkeitselemente, an: der Verfasser kommt eines späten Abends an einer Weinstube vorbei, wo er in seiner Jugend einmal wöchentlich seine liebsten Freunde und Kameraden zu treffen pflegte, und jetzt lässt er diese, welche alle gestorben sind, in der Erinnerung Revue passiren. Dann tritt er in die Weinstube ein, fühlt sich müde, und – plötzlich ist es ihm, als werde er aufgefordert, in dem alten Kreise sich einzufinden, und als die Thür geöffnet wird, siehe! da sitzen sie alle beisammen. Aber keiner von ihnen bietet dem Eintretenden die Hand, es ist in ihren Mienen ein Zug von Fremdheit, Ernst und Kummer. Dann und wann trinken sie einen langen Zug aus dem Weinglase, dann glühen für einen Augenblick die bleichen Wangen und matten Augen, aber gleich darauf sitzen sie wieder starr und stumm und stieren in's Glas. Nur Einer von ihnen ist ungebeugt von dem Schicksal, das sie getroffen hat, und von welchem nach stillschweigender Abrede in der Gesellschaft nicht gesprochen wird. Es ist Genelli, der ausgezeichnete Maler, dessen Centauren in der Schackschen Sammlung zu München alle Reisenden bewundern. Einer von der Gesellschaft bemerkt, solch' ein Genellisches Fabelwesen sehe so lebendig aus, dass man fast glauben möchte, der Künstler wäre selbst dabei gewesen. Und als der Meister ruhig die Antwort gibt: „Er ist auch dabei gewesen“, gleiten wir unmerklich aus dem Reiche der Todten in die Fabelwelt hinüber. Er hat den Centauren gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wie dieser eines schönen Sommernachmittags, ohne an etwas Böses zu denken, in ein kleines Tyrolerdorf hineintrabte, wo Genelli bei seinem Weinglase sass. In alten Zeiten war der Centaur Landarzt von Profession gewesen, hatte, während eines Ritts in seiner Praxis über die Berge ermüdet, sich in einer Gletscherhöhle schlafen gelegt, war dann eingefroren – und jetzt erst, nach Verlauf von Jahrtausenden, ist das Eis um ihn geschmolzen, und er kann mit verwunderten Augen sich in der verwandelten Welt umsehen. Es ist Sonntag und eben Kirchweih, da er mit seinem mächtigen Körper – oben ein farnesischer Herkules, unten ein prachtvoller heroischer Streithengst – mit wehender Mähne und lang nachschleppendem Rossschweif, einen kleinen Rosenzweig im dichten Haar hinter dem Ohre, durch die leeren Strassen trabt, nur ab und zu ein altes Weib, das mit Geschrei vor der Erscheinung flüchtet, erschreckend. Er sieht die Kirchenthür offen, das Gebäude voll Menschen und eine wunderschöne Frau mit einem Kind auf dem Arme über dem Altare gemalt. Neugierig, nichts Arges denkend, trabt er durch das Portal und schnurstraks über die Steinfliessen, die von seinem mächtigen Hufschlag dröhnen, auf den Altar zu. Man begreift, welcher Lärm über dies geradewegs der Hölle entstiegene Ungeheuer entsteht. Der Pfarrer schreit laut, schwingt, was er Geweihtes in der Hand hat, gegen ihn und ruft: „Apage! Apage!“ (was der Centaur versteht, weil es Griechisch ist). Die Gemeinde schlägt ein Kreuz über das andere; verwundert trabt das Fabelthier dann zur Kirche hinaus, und von allen alten Weibern und allen Kindern des Dorfes begleitet, die natürlich sehr erschrocken sind, „den hohen Reisenden so leicht gekleidet zu sehen“, bewegt es sich nach dem Dorfkruge hin, wo Genelli auf dem Altane sitzt. Der Meister belehrt dann den Centauren, dass dieser ein Paar hundert Jahre zu spät oder zu früh wieder zum Leben erwacht ist. Zur Zeit der Renaissance würde man ihn vermuthlich wohl empfangen haben. „Aber heutzutage und unter dieser engbrüstigen, breitstirnigen, verschneiderten und verschnittenen Lumpenbagage, die sich die moderne Welt nennt!“ Genelli wagt es nicht, ihm ein heiteres Horoskop zu stellen. „Wo Ihr Euch sehen lasst, in Städten oder in Dörfern, werden Euch die Gassenbuben nachlaufen und mit faulen Aepfeln bewerfen, die alten Weiber werden Zeter schreien und die Pfaffen Euch für den Gottseibeiuns ausgeben u. s. w.“ Und es geht, wie er geweissagt hat. Während der biedere Centaur gutmüthig, wie der Starke ist, vom Publikum sich anglotzen, sein sammetweiches Fell befühlen lässt, während er gemüthlich eine Flasche Wein nach der andern leert und über die Brüstung der Laube sie dem hübschen Schenkmädchen, dem er sofort seine Rose geschenkt hat, zurückreicht, lauern Hass und Neid auf sein Verderben. Eine ganze Verschwörung hat sich gegen ihn gebildet. „An der Spitze stand natürlich die hochwürdige Geistlichkeit, die es für das Seelenheil ihrer Pfarrkinder sehr nachtheilig fand, sich mit einem gewiss ungetauften, völlig nackten und wahrscheinlich sehr unsittlichen Thiermenschen näher einzulassen“. Ebenso aufgebracht zeigte sich ein Italiener, der auf dem Markte ein ausgestopftes Kalb mit zwei Köpfen und fünf Beinen vorwies. Den Rossmenschen sah man gratis, er war lebendig und trank und schwatzte, und wer wusste, ob er sich nicht noch bewegen liess, einige Kunstreiterstückchen zum Besten zu geben. Das Kalb dagegen war ein ruhiges Genie und machte zu solchen Extravaganzen durchaus keine Miene. In die Concurrenz kann sich der Italiener nicht finden. „Es sei ein Unterschied“, setzt er dem Pfarrer auseinander, „zwischen einem zünftigen, von der Polizei approbirten Naturspiel und einer ganz unwahrscheinlichen nie dagewesenen Missgeburt, die ohne Pass und Gewerbeschein das Land unsicher machte und ehrlichen fünfbeinigen Kälbern das Brot vor dem Maule wegstehle“. Aber der leidenschaftlichste Gegner des Centauren ist doch der kleine, schiefbeinige Dorfschneider, der Bräutigam des hübschen Schenkmädchens. Auch der Schneider klagt dem Pfarrer seine Noth, die neue Mode die der Unbekannte eingeführt, müsse das ganze Schneiderhandwerk ruiniren und überdies alle Begriffe von Anstand und guter Sitte über den Haufen werfen.