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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Aber dank dieser schamlosen Ausbeutung der Arbeiter, dank des Handelsmonopols und des von Jahr zu Jahr steigenden Weltbedarfs schnellen die Gewinne ins Phantastische hinauf. Die Tage von Vila Rica und Vila Real im achtzehnten Jahrhundert, da die Goldstädte mit hastigem Prunk und sinnloser Pracht mitten in einer Einöde aufwuchsen, scheinen wiedergekehrt im neunzehnten Jahrhundert. Belém blüht auf, und eine völlig neue Stadt entsteht tausend Meilen weit von der Küste, Manaus, gewillt, Rio de Janeiro, São Paulo und Bahia durch Luxus und Pracht zu übertreffen. Asphaltierte Avenuen, Banken und Paläste mit elektrischem Licht, prächtige Häuser und Geschäfte, das größte und luxuriöseste Theater Brasiliens, das nicht weniger als zehn Millionen Dollar kostet, erstehen mitten im Urwald. Alles schwimmt in Geld. Ein Konto, damals zweihundert Dollar, wird ausgegeben wie ein Schilling, die raffiniertesten Luxuswaren kommen aus Paris und aus London in den großen Dampfern, die immer öfter und öfter den Amazonas befahren. Alles spekuliert, alles handelt mit Gummi, und während die Bäume bluten und im grünen Gefängnis des Urwalds die seringueiros zu Hunderten und Tausenden hinsterben, wird eine ganze Generation im Amazonasgebiet so reich an dem flüssigen Gold wie einstens ihre Urväter in den Minenfeldern von Minas Gerais. Auch der Staat profitiert freilich von diesem einträglichen Export, und in der Handelsbilanz kommt das Gummi in raschen und wilden Sprüngen dem Kaffee bedenklich nahe; die Einführung des Automobils eröffnet unbegrenzte Perspektiven. Ein Jahrzehnt noch, und Manaus wird nicht nur die reichste Stadt Brasiliens sondern eine der reichsten der Welt sein.
Aber ebenso rasch wie sie aufgestiegen war, platzt diese schillernde Blase. Ein einziger Mann hat sie heimtückisch aufgestochen. Ein junger Engländer holt, das staatliche Verbot der Ausfuhr der Hevea brasiliensis oder deren Samen durch Bestechung geschickt zunichte machend, nicht weniger als siebzigtausend dieser Samen nach England hinüber, wo in Kew Gardens die ersten Bäume gepflanzt und dann nach Ceylon, Singapore, Sumatra und Java übertragen werden. Damit ist das brasilianische Monopol gebrochen, und seine Produktion kommt rasch in die Hinterhand. Denn die systematisch angelegten Pflanzungen auf den malaiischen Inseln, wo in meilenweiten geraden Linien die Gummibäume wie Grenadiere aufgereiht stehen, ermöglichen eine viel raschere und leichtere Ausbeutung als inmitten des Urwalds, wo jeder einzelne Baum erst aus dem Dickicht freigelegt werden muß. Wie immer unterliegt die altmodische, improvisierte, brasilianische Produktion der überlegenen modernen Organisation.
Der Abstieg geschieht dann lawinenhaft schnell. 1900 produziert Brasilien noch 26 750 Tonnen gegen bloße vier jämmerliche Tonnen aus Asien. Noch 1910 hat es die Oberhand mit seinen 42 000 Tonnen gegen 8 200 asiatische. Aber 1914 ist es schon geschlagen mit 37 000 Tonnen gegen 71 000, und von dieser Stunde an geht er rascher und rascher abwärts; 1938 produziert es nur mehr 16 400 Tonnen gegen 365 000 aus den malaiischen Staaten allein und 300 000 der holländischen Kolonie, 58 000 von Indochina und 52 000 aus Ceylon. Und selbst diese ärmlichen 16 000 Tonnen erzielen nur einen Teil des ursprünglichen Preises. Das Theater von Manaus sieht nicht mehr wie einst die Truppen der ersten europäischen Theater, die Vermögen zerrinnen, der Traum des flüssigen Goldes ist ausgeträumt. Wieder ist ein Zyklus zu Ende, nachdem er seine geheimnisvolle Pflicht erfüllt, einer bisher schlafenden Provinz einen Einschuß von Leben und Vitalität zu geben und sie in Handel und Verkehr mit der Gesamtheit der Nation enger zu verbinden.
Noch einmal wird sich zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts das innerste Gesetz der brasilianischen Entwicklung erfüllen: daß es, leicht verführt von dem momentanen Gewinn eines Hauptartikels, immer eine Krise benötigt, um sich umzustellen, und daß somit alle diese zyklischen Krisen seiner vielfältigen Gesamtentwicklung eigentlich eher förderlich als schädlich gewesen sind. Die letzte große Umstellung, zu der Brasilien genötigt gewesen war, zwingt ihm nicht der Wille des äußeren Weltmarkts, sondern sein eigener Wille auf durch das Gesetz von 1888, das endgültig die Sklaverei abschafft.
Im ersten Augenblick ist es ein heftiger Schock für die Wirtschaft, ein so heftiger, daß er sogar den Thron des Kaisers umstürzt. Viele der Neger, von der neuen Freiheit berauscht, verlassen das innere Land und ziehen in die Städte. Betriebe, die nur dank der unbezahlten Arbeitskräfte ein Erträgnis abwarfen, werden stillgelegt, die Plantagenbesitzer verlieren mit den Sklaven einen Großteil ihres Kapitals, und, ohnehin schon kaum mehr konkurrenzfähig in der Produktion gegen die modernen maschinellen Methoden, droht schließlich auch die Landwirtschaft und Kaffeeanpflanzung zu versagen. Wieder erhebt sich der alte Ruf des Anfangs: Hände her nach Brasilien! Hände, Menschen her um jeden Preis! Das zwingt die Regierung, die Immigration, die bisher ein bloßes laissez-faire gewesen, eine passive, gleichgültige Einstellung, durch Anlockung europäischer und asiatischer Einwanderer systematisch in Schwung zu bringen. Vor der Ära des Kaffees hatte Brasilien nur eine landwirtschaftliche Immigration gekannt. Schon 1817 ließ König João durch europäische Agenten zweitausend Schweizer Kolonisten anwerben, die eine Siedlung Nova Friburgo begründeten, ihnen folgte 1825 eine deutsche Gruppe in Rio Grande do Sul, nach und nach entwickelten sich durch den Zuzug von etwa 120 000 Deutschen nach dem Süden Brasiliens in Santa Catarina und Paraná geschlossene deutsche Bezirke; aber alle diese Zuwanderung war mehr oder minder durch eigene Initiative der Auswanderer oder durch die vermittelnde Tätigkeit privater Agenturen erfolgt. Nun erst, da eine neue große und erträgnisreiche Produktion in Schwung kommt und die Sklavenarbeit wegfällt, entschließt sich der Staat und besonders die Provinz von São Paulo, die Einwanderung in größerem Maßstabe als bisher zu fördern, indem sie den Unbemittelten die Schiffsreise aus eigenen Mitteln finanziert und für alle diejenigen, welche sich der Landwirtschaft zuwenden wollen, Grund und Boden zur Verfügung stellt. Diese Zuschüsse erreichen in den entscheidenden Jahren bis zu zehntausend Konto im Jahr an barem Gelde; aber kaum Brasilien den Weg gebahnt und die Tore geöffnet hat, strömen schon die Massen herein. Im Jahr nach der Sklavenbefreiung, 1890, steigt die Immigration von 66 000 Köpfen auf 107 000, um 1891 die bisher erreichte Höchstzahl von 216 760 zu erreichen, und hält dann unentwegt auf einem schwankenden aber immer hohen Niveau an, das erst in den letzten Jahren der Erschwerungspolitik wieder auf ungefähr 20 000 im Jahr herabgesunken ist.
Diese Immigration von vier bis fünf Millionen Weißen in den letzten fünfzig Jahren hat einen ungeheuren Energieeinschuß für Brasilien bedeutet und gleichzeitig einen gewaltigen kulturellen und ethnologischen Gewinn gebracht. Die brasilianische Rasse, die durch einen dreihundertjährigen Negerimport in der Hautfarbe immer dunkler, immer afrikanischer zu werden drohte, hellt sich sichtbar wieder auf, und das europäische Element steigert im Gegensatz zu den primitiv herangewachsenen, analphabetischen Sklaven das allgemeine Zivilisationsniveau. Der Italiener, der Deutsche, der Slawe, der Japaner bringt aus seiner Heimat einerseits eine völlig ungebrochene Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit, anderseits Forderung eines höheren Lebensstandards mit. Er kann lesen und schreiben, er ist technisch geschult, er arbeitet in rascherem Rhythmus als die Generation, die durch Sklavenarbeit verwöhnt und vielfach durch das Klima in ihrem Leistungsvermögen geschwächt ist. Instinktiv suchen die Einwanderer überall jene Gegenden, die sie dem heimischen Klima und den alten Lebensformen ähnlich finden, und so sind es vor allem die südlichen Provinzen von Rio Grande do Sul, Santa Catarina, die von diesem neuen Zyklus des »lebendigen Goldes« belebt werden. Der Zyklus der Immigration bedeutet für die Städte und das Gebiet von São Paulo, Porto Alegre und Santa Catarina, was einst der Zucker für Bahia, das Gold für Minas Gerais, der Kaffee für Santos gewesen: den entscheidenden Anschwung, der dann aus weiterwirkender Kraft Wohnstätten, Arbeitsmöglichkeiten, Industrien und Kulturwerte schafft. Und gerade weil dies neue Material aus den verschiedensten Zonen der Welt stammt – Italiener, Deutsche, Slaven, Japaner, Armenier – kann Brasilien seine alte Kunst der Mischung und gegenseitigen Anpassung auf das glücklichste bewähren. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit ordnen sich dank der besonderen assimilatorischen Kraft dieses Landes die neuen Elemente ein, und die nächste Generation wirkt schon selbstverständlich und gleichberechtigt mit an dem alten Ideal des Anfangs: einer in einer einzigen Sprache und Denkweise verbundenen Nation.
Dieser Aufschwung, den die Immigration der letzten fünfzig Jahre bewirkt hat, ist der eigentliche Dank für die moralische Tat der Sklavenbefreiung. Der Einschuß von vier oder fünf Millionen Europäern um die Jahrhundertwende stellt einen der größten Glücksfälle in der Geschichte Brasiliens dar und zwar einen doppelten Glücksfall. Einen doppelten Glücksfall erstens, weil diese starken, gesunden Kräfte so reich und so quellend ins Land kommen, und zweitens, daß ihr Kommen gerade im richtigen historischen Moment einsetzt. Wäre eine Immigration solchen Umfangs, wären solche Millionenmassen von Italienern und Deutschen ein Jahrhundert früher eingeströmt, da die portugiesische Kultur nur eine dünne Schicht bedeckte, so hätten diese fremden Sprachen und Eigensitten einzelne Provinzen besetzt und ergriffen, große Teile des Landes hätten sich endgültig italianisiert oder verdeutscht. Hätte anderseits die Hauptimmigration, die Massenzuwanderung sich nicht in dieser noch kosmopolitisch gesinnten Epoche, sondern in unserer Zeit des überreizten Nationalismus vollzogen, so wären die einzelnen nicht mehr gewillt gewesen, sich in eine neue Sprachform und Denkform aufzulösen. Sie wären starr und widerstrebend an die Ideologie ihrer Länder gebunden geblieben und nicht an die Idee ihres neuen Landes. So wie das Gold nicht zu früh entdeckt wurde und nicht zu spät, um Brasiliens Wirtschaft zu fördern und doch nicht seine Einheit zu gefährden, so wie der rettende Zyklus des Kaffees gerade im Augenblicke des katastrophalsten Rückschlages einsetzte, so hat sich die europäische Massenimmigration gerade in dem Augenblick ereignet, wo sie am fruchtbarsten sich auswirken konnte. Statt das Brasilianische in Brasilien zu verfremden, hat dieser mächtige Einschuß das Brasilianische nur noch stärker, vielfältiger und persönlicher gemacht.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert erfüllt sich somit wiederum das gleichsam eingeborene Gesetz, daß Brasilien immer Krisen benötigt, um seine Wirtschaft zu energischer Umstellung zu erziehen. Diesmal sind es zu seinem Glück nicht mehr Krisen im eigenen Land, sondern die beiden Katastrophen jenseits des Ozeans, die beiden großen europäischen Kriege, die seiner ökonomischen Schichtung entscheidende Impulse geben. Der Erste Weltkrieg offenbart Brasilien die Gefahr, beinahe seine ganze Exportproduktion an ein einziges Rohstoffprodukt entscheidend gebunden und anderseits seine Industrien nicht in ihrer ganzen Vielfalt ausgebaut zu haben. Der Kaffee-Export stockt; damit ist die Hauptschlagader plötzlich abgebunden, ganze Provinzen wissen nicht mehr, wohin mit ihren Kolonialprodukten, anderseits können viele Fertigprodukte des täglichen Bedarfs bei der Unsicherheit der Meere und der Kriegsbelastung Europas nicht mehr eingeführt werden. Weil es allzu einseitig, allzu sorglos und ohne auf das innere Gleichgewicht zu achten, auf den Absatz seiner Milliarden Kaffeebohnen die ganze Handelsbilanz aufgebaut, beginnt diese gefährlich zu wanken, und dies zwingt Brasilien, sich umzustellen und wenigstens einigen dieser industriellen Unternehmungen sich zuzuwenden. Einmal eingesetzt, wirkt sich dieser Impuls kräftig aus; während all der Jahre, da das unselige Europa durch Kriegsangst und Kriegsvorbereitungen ständig gehemmt ist, werden nun eine Anzahl maschineller und handwerklicher Artikel, die vorher von Europa bezogen werden mußten, im Lande selbst hergestellt und eine gewisse Autarkie vorbereitet. Wer dann nach einigen Jahren Abwesenheit wieder nach Brasilien kam, war erstaunt zu sehen, wieviele vormals ausländische Artikel schon durch inländische ersetzt worden waren, wie unabhängig auch sich in den organisatorischen Maßnahmen das Land von fremden Instruktoren und Direktoren in so kurzer Frist zu machen wußte. Dank dieser Vorbereitung traf der Zweite Weltkrieg die brasilianische Wirtschaft nicht mehr so frontal wie der Erste. Auch diesmal war ein Preissturz des Kaffees und vieler anderer Kolonialprodukte unvermeidlich; aber der neuerliche Abbruch der Kaffeekonjunktur verödete nicht São Paulo, wie einstens das Aufhören des Goldes die Städte von Minas Gerais und die Gummikatastrophe Manaus. Schon hatte die Wirtschaft die Weisheit des alten englischen Sprichworts gelernt, daß man nicht alle Eier in einem einzigen Korb tragen solle, und sich auf eine solidere Basis gestellt als den eines einzigen, allen Weltmarktschwankungen unterworfenen Monopol- oder Zentralartikels. Das Gleichgewicht blieb erhalten, weil der Verlust auf der einen Linie kompensiert werden konnte durch die scharf ansteigende Konjunktur der Industrie, die ein Großteil dessen, was sie vordem aus Deutschland und den anderen abgesperrten Ländern beziehen mußte, nun im eigenen Lande und aus eigenem Material in immer größeren Dimensionen erzeugt. Wie die Napoleonkriege indirekt die politische Unabhängigkeit, so hat Hitlers Krieg die Industrie Brasiliens geschaffen, und genau wie seine politische, so wird sich dieses Land wohl auch die ökonomische durch die Jahrhunderte zu erhalten wissen.
Aus der Gegenwart einen Blick in die Zukunft zu tun, ist immer bedenklich. Mit seinen fünfzig Millionen Menschen und seinem riesigen Raum eine der großartigsten Kolonisationsleistungen der Menschheit, steht Brasilien heute doch erst im Anfang seiner Entwicklung. Noch lange sind die Schwierigkeiten nicht überwunden, die sich seinem endgültigen Aufbau entgegenstellen, und trotz der gewaltigen Leistung sind manche dieser Schwierigkeiten noch immer beträchtlich. Um diese durch Jahrhunderte getane Leistung richtig einschätzen zu können, fordert die Gerechtigkeit, auch die Hemmungen in Betracht zu ziehen, die sich ihr entgegensetzten und noch immer entgegensetzen; es gibt kein besseres Maß für die Willenskraft eines Menschen wie eines Volkes, als die Schwierigkeiten, die bei seiner physischen oder moralischen Leistung zu überwinden sind.
Von den beiden Hauptschwierigkeiten, die Brasilien gehemmt haben, das volle Ausmaß seiner potentiellen Kräfte einzusetzen, liegt eine offen zutage, während die andere sich zunächst dem oberflächlichen Blick verbirgt. Die geheime und darum tückischere Gefahr für die volle Auswirkung seiner Energien liegt im Gesundheitszustand der Bevölkerung, der von den Regierungsstellen weder verschwiegen noch unterschätzt wird. Brasilien, dieses friedlichste Land, hat einige erbitterte Feinde im Innern, die ihm alljährlich soviele Menschen rauben oder schwächen, wie in einem kriegführenden Lande ein Feldzug. Es muß ständig kämpfen gegen Milliarden winziger und kaum sichtbarer Wesen, gegen Bazillen und Mücken und andere tückische Krankheitsträger.
Der Hauptfeind ist heute noch immer die Tuberkulose, die an die zweimalhunderttausend Menschen jährlich, also ganze Armeekorps, dem Lande wegrafft. An und für sich scheint der brasilianische Mensch, weil zart geartet, dieser peste branca, dieser weißen Pest wehrloser ausgeliefert. Dazu kommt, besonders im Norden, Unterernährung oder vielmehr falsche Ernährung innerhalb eines Landes, das von Lebensmitteln strotzt. Eine kräftige Gegenaktion der Regierung hat bereits eingesetzt, um wenn schon nicht der Krankheit selbst, so doch ihrem Verbreitungsfaktor Einhalt zu gebieten, und diese Campagne dürfte in den nächsten Jahren noch verstärkt werden. Aber wenn nicht die Medizin, die moderne Wissenschaft das seit Jahrzehnten ersehnte Heilmittel schafft, so wird noch lange mit diesem gefährlichen Gegner zu rechnen sein, während die Syphilis hier durch jahrhundertelange Verbreitung an Intensität verloren hat und durch die Ehrlich-Therapie bald erledigt sein dürfte.
Der zweite Feind ist die Malaria, der Paludismo, an sich schon durch die klimatischen Umstände des Nordens beinahe bedingt und noch gemehrt durch den unvermuteten Einbruch der Anopheles Gambia, von der einige Exemplare sich 1930 in dem Flugzeug von Dakar aus Afrika mit herüberschmuggelten und, wie im guten Sinne jede Frucht und jede Pflanze und jedes Tier und jeder Mensch, sich hier rasch heimisch gemacht und vermehrt haben.
Die dritte Krankheit im Bunde ist die Lepra, die, solange man eine Radikalkur für diese nicht kennt, nur durch Isolation eingedämmt werden kann. Alle diese Krankheiten verursachen, auch sofern sie nicht gerade tödlichen Ausgang zu verzeichnen haben, eine gewaltige Schwächung der Produktionsfähigkeit. Besonders im Norden ist die durch das Klima ohnehin schon herabgeminderte Leistung großenteils noch tief unter dem europäischen und nordamerikanischen Niveau, und wenn die statistische Tabelle vierzig bis fünfzig Millionen Einwohner verzeichnet, so entspricht die produktive Auswirkung dieser Ziffer nicht im entferntesten der Energieleistung einer gleichen Masse von Nordamerikanern, Japanern oder Europäern, die mit einer viel höheren Gesundheitsquote und unter besseren klimatischen Bedingungen zustande kommt. Eine erschreckend große Zahl von Menschen wirkt hier noch immer weder als Produzenten noch als Konsumenten im wirtschaftlichen Leben mit; die Statistik schätzt die Zahl der Leute ohne Beschäftigung oder ohne bestimmte Beschäftigung auf 25 Millionen, und ihr Standard ist besonders in den äquatorialen Zonen so tief, daß die Ernährungsverhältnisse manchmal schlechter sind als in der Sklavenzeit. Diese unerfaßbare Masse in den amazonischen Wäldern und in den Tiefen der Randprovinzen wirtschaftlich wie gesundheitlich in das staatliche Leben einzuordnen, ist eine der großen Aufgaben, die heute die Regierung schon dringlich beschäftigt und die zu ihrer endgültigen Lösung noch Jahrzehnte erfordern wird.
Es ist also der Mensch, sofern wir ihn als produktive Kraft betrachten, in Brasilien noch nicht im entferntesten ausgenützt, und ebensowenig ist es die Erde mit allen ihren oberirdischen und unterirdischen Reichtümern. Hier liegt die Schwierigkeit offen zutage (und nicht verborgen wie bei der Krankheit). Sie ist bedingt durch das noch immer nicht überwundene Mißverhältnis zwischen Raum, Bevölkerungszahl und Transport. Man darf sich nicht blenden lassen durch die vorbildliche Organisation und moderne Kultur in São Paulo, wo ein Haus an das andere sich reiht, die Wolkenkratzer in den Himmel klettern und die Automobile ständig im Wettlauf rennen. Zwei Stunden hinter der Küste verlieren sich die asphaltierten Musterstraßen in ziemlich zweifelhafte Chausseen, die nach einem der so häufigen tropischen Regengüsse für Tage unbefahrbar oder nur mit Ketten befahrbar sind, und es beginnt der sertão, die dunkle und noch lange nicht einer wirklichen Zivilisation gewonnene Zone. Jede Reise rechts und links von der Hauptstraße wird zum Abenteuer. Die Eisenbahnen reichen nicht tief genug in das Innere und sind mit ihren drei verschiedenen Spurweiten schlecht untereinander verbunden, außerdem so langsam und unpraktisch, daß man sowohl hinunter nach Porto Alegre wie hinauf nach Bahia und Belém viel rascher zu Schiff als mit diesen Bahnen kommt. Die großen Wasserläufe anderseits, wie der São Francisco oder Rio Doce, sind nur selten und unzulänglich beschifft und demzufolge große und wesentliche Teile des Landes – soweit nicht das Flugzeug hilft – eigentlich nur durch individuelle Expeditionen zu erreichen. Noch immer leidet also – medizinisch gesprochen – dieser gewaltige Körper an einer ständigen Zirkulationsstörung, der Blutdruck geht nicht gleichmäßig durch den ganzen Organismus, und wesentliche Partien des Landes sind im wirtschaftlichen Sinne völlig atrophisch. So liegen stumm und noch unausgenützt die kostbarsten Produkte unter der Erde, ohne der Industrie zu dienen. Man weiß heute genau, wo sie liegen, aber es hat keinen Sinn, sie zu schürfen, solange nicht die Möglichkeit besteht, sie abzutransportieren. Wo das Erz liegt, fehlt die Bahn oder das Schiff, die Kohle heranzufrachten, wo die Viehzucht üppig und leicht blühen könnte, die Möglichkeit, das Vieh zu verladen. Ursache und Wirkung (oder vielmehr Un-wirkung) beißt sich wie eine Schlange selbst in den Schwanz. Die Produktion kann sich nicht in dem richtigen Tempo entwickeln, weil die Straßen fehlen, die Straßen wiederum können nicht in rascher Folge gebaut werden, weil ihre kostspielige Anlage und Erhaltung in dem welligen und schwachbesiedelten Lande noch nicht einem rentablen Verkehr entsprechen. Dazu kommt noch das besondere Verhängnis, daß auch für das neue Beförderungsmittel, das Automobil, dem Brasilien des zwanzigsten Jahrhunderts der gemäße Betriebsstoff, das Petroleum, auf dem eigenen Boden ebenso fehlt wie im neunzehnten Jahrhundert die Kohle, und das Benzin, soweit es nicht durch Alkohol ersetzt werden kann, Tropfen für Tropfen importiert werden muß. Um dieses Hauptproblem der Verkehrs- und Transportschwierigkeit in beschleunigter Form zu lösen, wäre ein gewaltiges Kapital nötig, und Brasilien fehlt es an flüssigem Kapital. Bares Geld ist von je hier rar, selbst die Staatspapiere verzinsen sich mit ungefähr acht Prozent, und im Privatverkehr klettert der Zinsfuß noch bedenklich höher hinauf. Die mehrmalige Entwertung des Milreis, das alte, schon instinktiv gewordene Mißtrauen gegen Engagements in Südamerika haben die nordamerikanische und europäische Großfinanz durch Jahrzehnte zu großer und wahrscheinlich übergroßer Vorsicht veranlaßt; anderseits übt die Regierung in den letzten Jahren eine gewisse Zurückhaltung in der Erteilung von Konzessionen, um die vitalsten Unternehmungen nicht ganz in ausländische Hände geraten zu lassen. All das hat den Prozeß der Industrialisierung und Intensivierung im Vergleich zu Europa und Nordamerika verlangsamt; während bei uns zu viel und zu hastig investiert wurde, blieb manches hier um Jahrzehnte zurück. Um von einem Ende bis zum andern dieses riesige Land, dieses Reich, diese Welt rascher zur Entfaltung zu bringen, bedürfte es einer doppelten Befruchtung: eines breiten Einstroms von Kapital und noch mehr eines ständigen Zustroms von Menschen, der aber in den letzten Jahren durch den Weltkrieg und seine ideologischen Folgen arg gedrosselt und eingeschränkt worden ist. Leidet Nordamerika an einem Überschuß an flüssigem, in den Banken zinsenlos aufgehäuften Kapital, leidet Europa an einem Überschuß von Menschen und zu wenig Raum, an einem Zustand, der es kongestioniert und immer wieder zu neuen plötzlichen Tobsuchtsausbrüchen im Politischen führt, so krankt Brasilien an einer Anämie, an einem Zuwenig an Menschen in einem zu großen Raum. Das Heilmittel für die alte Welt und für diese neue Welt zugleich wäre: eine große, gründliche, mit aller Vorsicht und Geduld durchgeführte Transfusion von Blut und Kapital.
Aber sind die Schwierigkeiten auch groß, – sie waren es vom ersten Tage und blieben eigentlich immer dieselben –, so sind doch tausendmal größer noch die Möglichkeiten dieses mächtigen und gesegneten Teils unserer Erde. Gerade daß die Kapazität der potentiellen Kräfte hier noch nicht im entferntesten ausgewertet ist, bedeutet eine unermeßliche Reserve nicht nur für dieses Land, sondern für die ganze Menschheit. Gegen die Umstände, die seine Entwicklung verlangsamen, ist Brasilien als Helfer ein wirklicher Wundertäter zur Seite getreten, die moderne Wissenschaft, die moderne Technik, von der wir wissen, was sie leisten kann, und doch nicht zu ahnen vermögen, was sie noch leisten wird. Schon heute ist, wer nach einigen Jahren das Land wieder betritt, ununterbrochen überrascht, welche erstaunlichen Dinge sie im Sinne der Vereinheitlichung und Verselbständigung und Gesundung des Landes geleistet hat. Die Syphilis, die hier Erbkrankheit gewesen, und von der man so selbstverständlich sprach wie von einem Schnupfen, ist durch die eine Erfindung Professor Ehrlichs soviel wie ausgerottet, und es ist kein Zweifel, daß auch den anderen Krankheiten die wissenschaftliche Hygiene in absehbarer Zeit scharf auf den Leib rücken wird. So wie Rio de Janeiro, noch vor einem Jahrzehnt die gefürchtetste Brutstätte des gelben Fiebers, heute eine der im sanitären Sinne sichersten Städte der Welt geworden ist, wird die Wissenschaft hoffentlich den schwer gefährdeten Norden von seinen Miasmen und Plagen zu befreien wissen und den durch Fieber und Unterernährung in seiner Leistungskraft bedrohten Teil der Bevölkerung in das aktive und produktive Leben einschalten. Wo man vor fünf Jahren von Rio de Janeiro bis Belo Horizonte sechzehn Stunden brauchte, saust heute das Flugzeug in anderthalb Stunden; in zwei Tagen kann man statt vordem in zwanzig im Herzen der Wälder des Amazonas, in Manaus, sein, ein halber Tag bringt einen nachArgentinien, zweieinhalb Tage nach Nordamerika, zwei Tage nach Europa, und all diese Zahlen gelten bloß für heute; morgen wird sich der aeronautische Fortschritt wahrscheinlich schon halbiert haben. Die Bewältigung seines riesigen Raums, die Crux, diese Hauptschwierigkeit des brasilianischen Wirtschaftsproblems, ist theoretisch eigentlich schon gelöst und in praktischer Überwindung begriffen; wer weiß zu sagen, ob nicht auch die Schwierigkeit der Transporte in knapper Frist schon überwunden sein wird durch eine neue Art der Luftschiffe und andere Erfindungen, für die sich unsere Phantasie heute noch als zu arm und zu ängstlich erweist. Auch der anderen, scheinbar unüberwindbaren Hemmung, der unzulänglichen Arbeitsleistung in dem tropischen Klima, das die individuelle Energie vermindert und die körperliche Frische bedroht, beginnt die Technik entschlossen auf den Leib zu rücken. Was heute noch wenigen Luxusstätten vorbehalten ist, die Luftkühlung der Wohnungen und Büros, wird hier in einigen Jahren so allgebräuchlich und selbstverständlich sein, wie in unseren kälteren Zonen die Zentralheizung. Wer sieht, was hier geleistet worden ist, und zugleich weiß, was hier noch zu leisten ist, für den ist es gewiß, daß die Überwältigung aller Schwierigkeiten nur eine Frage der Zeit ist. Aber man vergesse nicht, daß die Zeit in sich selbst kein einheitliches Maß mehr ist, daß sie sich beschleunigt hat durch den Antrieb der Maschine und den noch großartigeren Organismus des menschlichen Geistes. Ein Jahr unter der Ära Getúlio Vargas' kann heute, 1940, mehr leisten wie ein Jahrzehnt unter Dom Pedro II., 1840, und ein Jahrhundert vorher unter einem König João. Wer heute das Tempo sieht, in dem hier die Städte wachsen, die Organisation sich verbessert, die potentiellen Kräfte sich in faktische umwandeln, der fühlt, daß – ganz im Gegensatz zu vordem – die Stunde hier mehr Minuten hat als bei uns in Europa. Aus welchem Fenster man blickt, überall wächst ein Haus, an jeder Straße und weithin am Horizont sieht man neue Siedlungen, und noch mehr als alles ist hier der Geist und die Freude an der Unternehmung gewachsen. Zu all den Kräften, den noch ungehobenen und unbekannten Brasiliens, ist in den letzten Jahren eine neue getreten: das Selbstbewußtsein der Nation. Lange hat sich dieses Land daran gewöhnt gehabt, in Kultur und Fortschritt, in Arbeitstempo und Leistung hinter Europa zurückzubleiben. Demütig hatte es, mit einer Art verspätetem Kolonialbewußtsein zu der Welt über dem Ozean als der erfahreneren, der weiseren, der besseren aufgeblickt. Aber die Verblendung Europas, das in törichten Nationalismen und Imperalismen sich nun zum zweitenmal selbst verwüstet, hat hier die neue Generation auf sich selbst gestellt. Vorbei ist die Zeit, da Gobineau spotten konnte: Le brésilien est un homme qui désire passionnément habiter Paris. Kein Brasilianer und selten ein Immigrant wird sich mehr finden, der zurück wollte in die alte Welt, und dieser Ehrgeiz, sich selbst allein und im Sinne der Zeit aufzubauen, drückt sich in einem ganz neuen Optimismus und Wagemut aus. Brasilien hat gelernt, in den Dimensionen der Zukunft zu denken. Wenn es ein Ministerium baut, wie jetzt das Arbeitsministerium, das Kriegsministerium in Rio de Janeiro, so ist es größer als eines in Paris oder London oder Berlin. Wenn ein Stadtplan angelegt wird, kalkuliert man die fünffache, die zehnfache Bevölkerung von vornherein ein. Nichts ist zu verwegen, nichts zu neu, als daß sich dieser neue Wille nicht daran wagte. Nach langen Jahren der Unsicherheit und Bescheidenheit hat das Land gelernt, in den Dimensionen seiner eigenen Größe zu denken und mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten als mit einer bald greifbaren und erfaßbaren Realität zu rechnen. Es hat erkannt, daß Raum Kraft ist und Kräfte erzeugt, daß nicht Gold und nicht erspartes Kapital den Reichtum eines Landes bedeutet, sondern die Erde und die Arbeit, die auf ihr geleistet wird. Wer aber besitzt noch mehr ungenutzte, unbewohnte, unausgewertete Erde als dieses Reich, das in sich allein soviel Raum hat wie die ganze alte Welt? Und Raum ist nicht nur bloße Materie. Raum ist auch seelische Kraft. Er erweitert den Blick und erweitert die Seele, er gibt dem Menschen, der ihn bewohnt und den er umhüllt, Mut und Vertrauen, sich vorwärts zu wagen; wo Raum ist, da ist nicht nur Zeit, sondern auch Zukunft. Und wer in diesem Lande lebt, spürt ihre Schwingen stark und beflügelnd über sich rauschen.