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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Ich arbeite in einer Turbinenfabrik.«

»So. Bist du zufrieden?«

»Ja, ich bin zufrieden.«

»Ich kenne das Unternehmen, man hat mir vor fünfzehn Jahren eine Aufsichtsratsstelle angeboten, ich habe abgelehnt, da es uns widerstrebt, ohne Gegenleistung Geld in Empfang zu nehmen, und meine Leistungen wären gleich Null gewesen.«

Als ich protestiere, sagt er: »Doch, ich weiß es. Vielleicht war es nicht recht. Ich hätte mehr für euch tun können. Bist du nun zufrieden?« wiederholt er.

»Jetzt gewiß«, sage ich, »wenn ich bei dir bin.«

»Nicht so, du weißt es; nicht so, das will ich nicht.«

»Ich bin zufrieden.«

»Das ist mir lieb. Das beruhigt mich sehr. Das ist mir sehr lieb.«

Die letzten Worte kommen nur mühsam und gedehnt aus seinem blasser werdenden Munde. Ist er am Erlöschen? Ich will mit ihm sprechen, ich will, während ich seine edlen, ovalen, schon azurblauen Fingernägel betrachte, an ihn die unsinnige Bitte richten, die alle Überlebenden an die Sterbenden richten, diese möchten doch nicht fortgehen, sie möchten es doch uns zuliebe nicht tun. Aber ich bewahre Haltung. Ich weine nicht. Tränen kamen mir immer schwer. Ich presse die Lippen aufeinander und unterdrücke jeglichen Gefühlsausbruch. Nach einer kleinen drückenden Pause tritt der alte Hausarzt ein. Offenbar hat er meiner Mutter trübe Aufklärungen gebracht. Sie folgt ihm auf dem Fuße, stößt mich fast beiseite, faßt den alten Arzt am Arm und droht ihm, ihn nicht fortzulassen, bevor er meinen Vater nicht gerettet habe. Sie besteht auf einer neuerlichen genauen Untersuchung und gebraucht Worte, deren Bedeutung sie sich in ihrer Aufregung nicht bewußt ist. Der alte Arzt gibt ihrem Drängen nach, und wir, der Arzt und ich, entkleiden den armen Vater, der sich alles gefallen läßt und sogar meine wutbebende Mutter beruhigt. Alle Kleidungsstücke, die er sich mit meiner Hilfe mühsam angelegt hat, werden abgezogen. Endlich liegt er fast völlig entkleidet da. Was ein Sohn bei dem Anblick seines fast nackten Vaters empfindet, läßt sich nicht schildern. Aber ich beherrsche mich, auch mein Vater tut es. Welchen Sinn hat dieses fürchterliche Tun? Was kann man an diesem Herzen vernehmen? Was kann man an diesem Körper fühlen? Zuerst befiehlt der alte, selbst schon dem Grabe sich zuneigende Arzt Ruhe, obwohl wir uns nicht im mindesten rühren, dann untersucht er, drückt und knetet den empfindlichen Kranken, der aber keine Miene verzieht, auch hier den alten Schüler Onderkuhles verratend, dann hebt der Doktor die Augen zur Decke, als stünde es oben geschrieben. Schließlich zuckt der Hausarzt die Achseln und verweist uns mit etwas bebender Stimme auf die »moderne« Ansicht des Professors, den wir alle erwarten. Die Mutter legt dem Vater eine verschossene Seidendecke von Kupferfarbe über und stützt seinen mageren, gelben, wieder zum Schlaf bereiten Kopf mit so viel schweren Kissen, als müsse man ihn jetzt schon aufbahren. Der Fürst faßt sich, in seine Züge tritt der bei ihm sehr seltene, aber mir eben deshalb unvergeßbare Ausdruck von Energie, er möchte sprechen, mir noch vieles sagen. Da übermannt ihn, während er die Lippen noch lautlos bewegt, der Schlaf, der kommende Tod. Mein Vater preßt mir fast schmerzhaft die Hand, als wolle sein Körper mich bitten, ihn zu wecken, wenn die Seele schon schläft. Aber das tut kein Sohn.

Meine Mutter weint, oder besser gesagt, sie vergießt Tränen, die ihren hellbraunen schönen Augen ohne Mühe entströmen. Der uralte Hausarzt ist verlegen, reibt sich die rötlichen fetten Hände und verordnet Ruhe, als wäre mein Vater damit nicht schon im Übermaß gesegnet…

Kapitel Dreißig

Nicht, wie versprochen, um fünf Uhr, sondern erst gegen acht Uhr erscheint der Chirurg. Es ist inzwischen fast unerträglich schwül geworden, und als der Arzt, ein untersetzter, stark nach Lysol und Maiglöckchen riechender Herr mit Doppelkinn und prallen dunkelroten Wangen, eintritt, beginnt draußen ein Gewitter mit Donner und Blitz und Hagel aus schwefelgelben Wolken niederzugehen. Der Arzt legt erst würdevoll seinen Hut und seine Handschuhe ab, er stellt sich vor dem Kranken in Positur, wobei er sein fettes Kinn durch würdevolles Zurückwerfen des Kopfes zu verbergen sucht, als wäre er ein Pferd, das mit aufgerecktem Schwanenhalse Hohe Schule zu reiten hätte. Nachdem er, wie er glaubt, genügend Eindruck auf uns gemacht hat, beugt er sich zu dem Kranken herab. Seine starren Züge lösen sich, er untersucht den schlafenden, durch starkes Rütteln nicht zu erweckenden Vater mit seinen ausgepolsterten Fingerspitzen, zieht ihm dann, um den Gehalt des Blutes an Farbe zu prüfen, das linke untere Augenlid herunter, streicht ihm in Gedanken das spärliche Haar an den Ohren zurecht, nickt dann zum Abschluß sich selbst zu, deckt mit Sorgfalt den Vater wieder zu und wendet sich ab. Eine Operation wäre möglich, sagt er. »Ob sie Erfolg verspricht?« fragen wir aus einem Munde. »Sie verspricht ihn wohl, hält ihn aber meistens nicht«, antwortet er mit kühlem Ärztewitz. Ob wir nicht wenigstens mit einer nochmaligen Besserung rechnen dürfen, frage ich. Meine Mutter schluchzt in sich hinein, beißt mit ihren Perlenzähnchen in ein spitzenbesetztes Taschentuch. Der Arzt hat bereits den Hut in der Hand, er läßt seinen Blick über die ärmliche Einrichtung des aus einem Saale in ein improvisiertes Krankenzimmer verwandelten dreifenstrigen Raumes schweifen, erinnert sich des vornehmen Namens, der ihm vom Hofe sicherlich bekannt ist, legt dann den Hut aus der Hand und kommt nochmals zum Krankenbette zurück. Er läßt sich in den Lehnstuhl fallen und überlegt von neuem. »Ich könnte die Operation natürlich versuchen«, sagt er schließlich, »aber der Erfolg wird selbst im Falle des Gelingens nur ein vorübergehender sein. Aufzuhalten ist dieser Prozeß nicht. Ob der Kräftezustand für einen langwierigen und technisch schwierigen Eingriff, allemal ein Triumph der Chirurgie, ausreicht, ist auch ein Problem. Ob es nicht besser ist, wir lassen den Kranken ruhig hinüberschlummern, ersparen ihm Schmerzen, soweit es nur möglich ist? Das können wir.« – »Handelt es sich um eine unmittelbare Gefahr?« frage ich, mit dem Aufgebot aller Kräfte mich beherrschend. »Ach nein, keine Gefahr, nur eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit.« – »Und wie lange?« – »Die Diagnose ist Sache der Menschen, die Voraussage Sache des Himmels. Raum zu Illusionen ist immer da. Tage oder Monate, wer weiß es … niemand, nicht einmal der, den es am meisten angeht … und soll es auch nicht wissen … «

Was können wir anderes tun als schweigen. Der Arzt wirft einen Blick durch die trüben Scheiben auf die mit Regendampf erfüllte Straße. Dann tut er, damit doch auch von seiner Seite etwas geschehe, mit einer Füllfeder ein paar unleserliche Schriftzüge auf ein Blatt Papier und heißt uns das Rezept besorgen. So will er uns den Trost geben, daß noch nicht alle Hilfe vergebens sei, obwohl nur meine Mutter sich täuschen läßt, weil sie dies will. Ich habe aus dem Schweigen des Arztes über sein Wiederkommen entnehmen müssen, daß er daran nicht denke und daß nichts mehr zu erwarten sei. Ich spreche hier ruhig die Tatsachen aus. Was in mir vorging, kann ich nicht in Worte fassen.

Man muß sich an das Greifbare halten, so spärlich, so nichtsbedeutend, so verzweifelnd es ist. Wie soll in einem jungen Menschen hoher Ehrgeiz, leidenschaftliches Streben möglich sein, wenn er sieht, wie wenig der Welt ein Menschenleben bedeutet, das Leben seines Vaters, das ihm das wichtigste, das einzig Wichtige im Dasein ist? Er fasse die Welt in ihrer Unendlichkeit bis an die wandlosen Räume von Ewigkeit und Universum, und er wird doch immer nur an seinem Vater Halt gewinnen; auch Nationalgefühl ist nur Vatergefühl. Er beschäftige sich mit dem bitter Notwendigen, mit dem Kampf um den täglichen Bissen Brot, er wird doch immer nur bei seinem Vater Frieden und Sättigung finden oder bei seinen Nachkommen. Ist irgendwo in dieser haltlosen Welt Stütze und wahre Verwandtschaft, müheloses Verstehen, Nebeneinanderleben ohne Kampf und Bitterkeit, richtige Freude am Menschen, das, was ich bei Titurel ersehnte und nie erlebte, bei meinem Vater wäre es gewesen. Kein Raum zu Illusionen, wie der kluge Professor sagt. Er hat nur zu sehr recht. Recht hat er mit seinem zweifelnden Blick, der die ganze ärmliche, ausgeräumte Herrlichkeit unserer Wohnung umfaßt, sich fragend, wie diese unwohnlichen, kahlen Räume, in denen kein altes Stück noch gut ist, in denen aber ebenso jedes gute neue Stück fehlt, wie diese miserable, abgenutzte Möblierung zu unserm vornehmen Namen paßt. Ja, wir sind die kleinere Linie, mit uns wird niemand zu rechnen haben. Aber ich habe in der kurzen Zeit nach Onderkuhle zu rechnen begonnen. Ich weiß, welchen Lohn dieser Professor für seinen kurzen Besuch fordern kann, und ich gebe ihm eine etwas höhere Summe. Ich sehe sehr gut sein staunendes, aber beherrschtes Lächeln. Noch an der Schwelle besinnt er sich, ob er uns die Gunst seines Wiederkommens versprechen soll. Aber er ist ehrlich genug, uns die nutzlose Ausgabe, sich den unnötigen Weg und vergeblichen Zeitverlust zu ersparen.

Kann etwas so erledigt sein, daß es keiner weiteren Mühe wert ist? »Wie alt?« fragt der Arzt noch an der Entreetür. Als er das Alter vernimmt, zuckt er die schweren Achseln, als wolle er sagen: »Genug! Genug gelebt!« Ist es nicht besser, einer wenig bemittelten Familie den letzten Pfennig zu nehmen, dafür aber auch die letzte Anstrengung zu leisten, ein Leben wie dieses zu fristen bis ans Menschenmögliche? Nur einen Monat länger, eine Woche länger, selbst der »vorübergehende Erfolg«, von dem er verachtungsvoll sprach, ist er nicht viel, muß er nicht alles sein für einen Sohn? Wie kann einer, der doch viele Mittel kennt, so kühl die Treppe über die Treppenläufer hinabgehen und uns, während er eine Zigarette anzündet, mit gelangweilten Lippen die Worte zurufen: »Wird hoffentlich bald noch besser werden!«

Wir kehren in das Krankenzimmer zurück, suchen das Rezept, finden es aber in der Dämmerung des wolkigen, schweren Abends nicht. Wir öffnen das Fenster weit. Es strömt eine fast greifbare, starke, reine Nachtgewitterluft hinein, die mit magnetischer Kraft geladen ist und der sich niemand, der noch atmet, entziehen kann. Und was die Bemühungen des Professors nicht gekonnt haben, das kann dieser balsamische Gewitterbrodem. Der Kranke erwacht, er ist ohne Schmerzen, klar bei Besinnung, er lebt auf im wahrsten Sinne des Wortes. Er ähnelt jetzt wieder dem Mann, der mich früher in Onderkuhle besucht hat. Wir sprechen wieder von alten Tagen und tun so, als wäre es noch für uns alle die alte Zeit. Wir täuschen einander, der Vater, die Mutter und ich, wir reden davon, wie wir uns die Zeit der »großen Ferien« einrichten wollen, wir berühren auch flüchtig das Projekt der Reise nach Zentralafrika mit dem Herzog, wovon ich meinem Vater eine Andeutung gemacht habe, und mein Vater spielt mit mir eine kleine Komödie gegenüber meiner Mutter. Er weiß, wie alles ist.

Noch liegen Wolken über der Stadt, es wird dunkel. Es kommt die Stunde, zu der man mich in der Fabrik erwartet. Käme ich nicht, um pünktlich anzutreten, so könnte mir nicht viel geschehen. Ich könnte hierbleiben, ich könnte auch nach dem Tode meines Vaters an der winzigen Lebensrente (wie winzig sie ist, habe ich erst heute bei dem Diktieren der Testamentsklausel erfahren) Anteil haben und so mit durchkriechen. Mein Platz in der Fabrik wäre bald ausgefüllt, es ist ja nicht einmal eine Lücke zu schließen. Aber etwas treibt mich dorthin. Ich habe das Gefühl, wenn ich eine Arbeit tue, könne ich dem Schicksal trauen. Das »im ganzen Wohlwollende der Welt« würde mich nicht betrügen und meinen Vater sterben lassen, während ich in der Fabrik die immer gleichen Handgriffe verrichtete, die jedes anderen Hand ebensogut verrichten könnte. Auch er, den es nach mir am meisten angeht, scheint mir recht zu geben. Zwar hat er sich bis jetzt jedes Urteils über meine Proletarierarbeit enthalten, aber wenn ich heute abend meiner Mutter einrede, ich müsse mich mit Freunden von Onderkuhle in einer Bar treffen, lächelt er mir zustimmend zum Abschied zu.

So sonderbar es klingt: zum ersten Male an diesem Tage fühle ich mich Punkt neun Uhr abends beim Eintritt in die Turbinenhalle beruhigt. Ich habe den Glauben, während der nächsten neun Standen könne mir nichts begegnen außer dem, was in dem Lauf, dem vorgeschriebenen Gang der Maschinen rings um mich beschlossen ist. Was bin ich während dieser neun Stunden? Lange nicht mehr Sohn eines Fürsten, auch kaum noch Mensch. Wenn man die Hand an den Schalthebeln, an den Widerständen der Elektromotoren hat, wenn auf meinen Fingerdruck ohne jede andere Anstrengung, als zum Zerdrücken einer Mücke nötig ist, sich Lasten von vielen Tausenden Kilogramm heben und senken, ist man ein Teil der bewegten und der bewegenden Maschinerie. Nun habe ich nicht mehr den Größenwahn, ich als einzelner Mensch sei etwas, womit man rechnen könne und was das Schicksal gegen die Unendlichkeit von Raum und Zeit in das Leben hineinbefohlen hätte, ohne diesem Atom die Kraft zu geben, den. Kampf zu bestehen, ja auch nur die Kraft, diesem Kampf gegen den Tod bewußt ins Auge zu sehen. In diesem Augenblick durchströmt mich nicht mehr das unnatürliche Lebensgefühl Onderkuhles. Die Stunde in der grünen Reitschule wiederholt sich nicht. Ich lebe in der Wirklichkeit, nicht höher erregt, nicht tiefer gedrückt. Etwas, was vielen selbstverständlich ist, einem Orlamünde aber nicht, läßt mich die Treppe zum Kran empor- und herabsteigen, den eisernen Ketten nachhelfen, wenn sie sich zu träge an der Seiltrommel aufwinden sollten, und sonst alles tun, was zur geräuschlosen Abwicklung der gefährlichen Arbeit (für die Arbeiter unten gefährlicher als für den Führer des Krans oben und seinen Gehilfen) nötig ist. Die Maschinen, deren Sinn und Verstand ich jetzt allmählich zu begreifen beginne, wie die Mechanik der Pferdegänge früher während der Reitlektionen für Fortgeschrittene, bewegen sich ohne Unterbrechung und Aufenthalt dank einer Kraft, die ihnen andere Arbeiter in dem einige Kilometer weit entfernten Elektrizitätswerke vermitteln. Auch unsere Arbeit geht weiter in die Welt, sie hat nicht hier im Fabrikraume ihr Ende. Wir sind Werkzeugmaschinen aus Eisen und solche aus Fleisch und Blut und erzeugen Werkzeugmaschinen. Ich habe jetzt vor dem Stillestehen und vor einem Sturz in den Abgrund des unausweichlich Wirklichen ebensowenig Angst, wie ein Sternbild sich vor seiner Bewegung ängstigt und während seiner Bewegung das Ende dieser Bewegung erschauernd fürchtet. Die geregelte Dauer der mechanisierten Arbeit ist mir ein Trost. Ich hätte diese heutige fürchterliche Nacht nach dem Ärztebesuch mit dem Bewußtsein von dem baldigen und unwiderruflichen Untergang des einzigen Menschen auf der Welt, den ich liebe, diese Nacht hätte ich fern von den Maschinen kummervoller und verzweiflungsvoller verbracht als hier. Ich will heute nicht fort aus dieser selbstgewählten Lebenslage. Wenn es das Schicksal so will, werde ich durch viele Jahre mit dem Körper an diese Maschine treten oder an eine andere ähnlicher Art, ich werde immer mit diesem meinem Körper, nicht mit meiner Seele, die im Vertrage nicht eingeschlossen ist, zur gleichen Stunde, mit der gleichen Kraft und dem gleichen Willen an meinen Platz mich begeben und werde ihn verlassen zur vereinbarten Zeit. Nicht anders als ein Planet, der zur bestimmten Stunde in den Kreis der größeren und beständigeren Gestirne tritt und zur gleichen bestimmten Stunde diesen Kreis verläßt. Ich werde nicht mehr Fürst Orlamünde sein. Was ist er denn auch gewesen? Was wäre er geworden? Aus den Angeln der Notwendigkeit hebt selbst der grandioseste Mensch die Welt nicht, als vergänglicher Körper sicher nie und nie.

Vielleicht kann ich unter meinesgleichen leben. Schon jetzt kann mich der Kranmeister verstehen. Er hat die Nachtarbeit aus einem ähnlichen Grund gewählt: weil er sein kleines Töchterchen, das jüngste von fünfen, am Tage im Parkkrankenhause besuchen will. Bloß am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag sind Besuchsstunden. Er möchte seine Tochter doch zu gerne auch einmal in der Woche sehen und ihr Kleinigkeiten von Hause mitbringen, da die Mutter von den andern Kindern zu sehr in Anspruch genommen ist. Auch erwartet sie neuen Familienzuwachs. Ob ich, von ganzem Herzen ein Sohn, einmal auch den Ernst eines Vaters auf mich nehmen kann? Meine Ahnen hatten nicht den Mut, zu enden, und nicht den Mut, ganz neu zu beginnen. Ich werde nicht ein Kind haben, ein einziges, wie meine Vorfahren bis zu den Urgroßeltern, sondern entweder kinderlos leben oder aber, wenn es so sein soll, werde ich so viel Kinder zeugen, als Brot für sie durch meine intensive Arbeit geschaffen werden kann. Auch dieser Plan mag vielen selbstverständlich erscheinen, gerade mir ist er nicht leicht geworden. Onderkuhle ist nicht dabei, weder Cyrus noch der Herzog Ondermark, noch der Meister, noch mein einziger geliebter Freund Titurel. Mein Vater nicht. Meine arme Mutter nicht. Das ist vorüber. Der Kranführer spricht von seinem kranken, scheinbar hoffnungslosen Kind, ich von meinem kranken Vater, über dessen Gesundungsaussichten ich schweige. Ich beginne selbständig die Maschine zu bedienen. Er gibt mir mit militärischer Exaktheit Kommando auf Kommando, wobei mir das Zusammenhalten zweier verschiedener Bewegungen am meisten Schwierigkeiten macht. Freilich übe ich erst noch am leeren, unbelasteten Kran und muß automatisch alle diese Hebel und Ringe in Bewegung setzen lernen, bevor man mir etwas im Ernst anvertraut. Dennoch erfüllt mich, sobald es das erstemal ohne großes Kreischen und Knarren der Maschinerie geht, eine Art Lebensfreude. (Ich hebe als Probearbeit das Paket des Kranführers mit einer Puppe für sein Kind, eine winzige Last.) Lebensfreude bei dieser einfachen und geistlosen Arbeit, die jede etwas geschicktere Hand, jedes etwas begriffsfähige Gehirn leisten kann? Lebensfreude bei einem kranken Vater, den ich nach Beendigung der Nachtschicht, morgens gegen sieben Uhr, nachdem ich daheim nochmals gebadet habe, in dem gleichen lethargischen, hoffnungsarmen, wenn auch nicht unmittelbar gefahrdrohenden Zustand antreffe, wie ich ihn gestern abend verlassen habe? Aber er hat nachts wenigstens das Glas Wasser geleert, das ich ihm hingestellt habe, hat das in Oblaten gewickelte neue Medizinpulver genommen, sein Schlaf ist leichter, die trübe Pergamentfarbe seines Antlitzes ist durch ein ganz zartes Rot unterbrochen. Ob sich der Professor dennoch geirrt hat? Kann ich beten? – Aber doch auch nicht verzweifeln. Wenn ich mich jetzt auf dem für mich von der bedienenden Portierfrau hergerichteten halbmondförmigen, mit stachligem Samt bezogenen, mit abgenutzter Steppdecke belegten Sofa niederlege und kurz vor dem Einschlafen meine Glieder strecke, das etwas angeschwollene rechte Handgelenk massiere und dabei doch auch das andere Handgelenk anstrengen muß, um etwas Erleichterung zu bekommen – da erst empfinde ich, was verdiente Ruhe heißt, und daß auch in meinem jetzigen Leben Segen sein kann, nicht für alle vielleicht, aber für den Sohn meines Vaters, gerade für ihn.

Kapitel Ein­und­dreißig

So vergehen die ersten Tage. Da der Zustand meines Vaters sich nicht verschlechtert, bin ich von großem Glücksgefühl erfüllt und wünsche nur, es möge immer so bleiben, so bescheiden bin ich geworden.

Meine Mutter hat gegen mein Ausgehen an jedem Abend nichts einzuwenden. Glaubt sie wirklich, ich verbringe die Nächte, statt am Bette meines Vaters zu wachen, in leichtsinniger Gesellschaft? Fast sieht es so aus. Sie stellt an mich immer wieder mit denselben Worten die gleiche Frage: Ob ich mich gut amüsiert hätte? Und als ich ihr einen Beitrag zu dem Wirtschaftsgelde übergebe, will sie wissen, ob ich das Geld im Bac gewonnen hätte. Ich kläre sie nicht auf. Meine wirkliche Existenz ist ein bloß meinem Vater und mir gemeinsames Geheimnis, das auch er nie mit einem Worte berührt. Meiner Mutter beginnt die viele Arbeit in dem immer noch zu umfangreichen Haushalt Mühe zu machen. Täglich treten Dienerkandidaten an, die aber, jeder aus einem andern Grunde, nicht ihren Beifall finden, es sind auch Dienstpersonen aus dem Hause Onderkuhle dabei, von denen ich manches über das Schicksal des Meisters, des Obersten und des Rendanten erfahre. Aber meine Fürsprache für einen von ihnen, einen jungen, sehr ehrlichen, wenn auch nicht übermäßig geschickten Mann (Fredy) fruchtet nichts, meine Mutter sucht weiter, nicht bedenkend, daß das lange Warten meinem Vater nichts nützt, daß er nicht auf zahllose Monate und Jahre zählen darf. Inzwischen muß er mit meiner Pflege vorliebnehmen. Das Essen läßt meine Mutter aus einem nahen Restaurant durch die Portierfrau holen. Sie ist geradezu kindisch vor Freude darüber, daß sie sich aus der sehr umfangreichen Speisekarte das Leckerste aussuchen kann. Der besorgniserregende Zustand meines Vaters stört sie bei ihrer Freude ebensowenig wie mein Bedürfnis nach Ruhe in den Vormittagsstunden. Ich komme meist gegen sechs Uhr heim, warte das erste Erwachen meines Vaters ab, begrüße ihn, fühle seinen Puls, höre, wie er geschlafen hat, bette ihn um, dann begebe ich mich zur Ruhe und liege bald in sehr festem Schlaf. Meine Arbeit in der Turbinenfabrik übersteigt zwar auch jetzt, wo ich selbständiger hantieren darf, nicht die Kräfte eines einzelnen. Aber es ist doch kein Vergleich mit der Arbeit in Onderkuhle. Wohl mußte ich manchmal dort meine Kräfte fast bis zum Zerreißen anspannen, aber das geschah nur an vereinzelten Tagen. Der Antrieb war Ehrgeiz und Wunsch nach sportlicher Höchstleistung.

Aber etwas anderes, in ganz anderm Grade Zermürbendes ist es, durch Wochen ohne eigentliche Unterbrechung eine gleiche, wenn auch nur mäßig schwere Arbeit durch mindestens neun Stunden zu vollbringen. Man kann zwar solche Arbeit sicherlich sein ganzes Leben lang ohne besonderen Kräfteaufwand leisten, aber man muß seine Ruhe haben, ohne Ruhe ist es Ruin. Weckt man mich also um die Mittagszeit, ist meine Arbeitsfähigkeit in Frage gestellt. Was aber dann? Ich bin jetzt körperlich und seelisch so an diese mechanische Arbeit gebunden, daß ich es meiner Mutter nicht verzeihen kann, wenn sie mich Tag für Tag zu ungeeigneter Zeit weckt. Ich gebe es zu, sie meint es gut. Einmal soll ich mir einen Diener ansehen, der sich meldet, ein andermal eine besonders schöne Stelle in einem ihrer Romane bewundern, ein andermal mir etwas frische Luft gönnen, einen kleinen Ausflug machen, meist ist es nur, weil sie mit der Auswahl aus der Speisenkarte ohne mich nicht fertig werden kann. Sie hat ihr reizendstes Lächeln um die festen, runzellosen Lippen, sie fächelt mir mit ausgebreiteter Speisenkarte die Schweißtropfen aus dem Gesicht, will mir die »bösen Falten« fortwischen. Dabei klirrt die Perlenkette leise um ihren schönen glatten Hals. Ich unterdrücke meinen Zorn, ich werfe ihr bloß einen Blick zu, der ihr alles sagen könnte. Aber sie nimmt mich weiter nicht ernst, sagt: »Großer Brummbär!« Fragt nicht nach der Ursache meiner Müdigkeit, die ich ihr in diesem Augenblick vielleicht doch verriete. Dann aber besinne ich mich. Das Gefühl, mit achtzehn Jahren sich sein Brot zu verdienen, und sei es auch nur durch Handarbeit, ist so belebend, so ermutigend, daß ich viel ertragen kann. Es gibt gewiß Stunden, wo ich auch die Bitternisse dieser Arbeit empfinde, denn unter meinesgleichen darf ich mich in der Fabrik nicht fühlen. Ich weiß wohl, ein standesgemäßes Leben, ein sorgenloses, hoffnungsfreudiges Leben unter Menschen, die mir nach Geburt und Erziehung nahestehen, ist etwas anderes. Aber das Schicksal könnte noch bitterer sein. Vor allem bleibe ich an der Seite meines alten Vaters, ja ich sehe mit nicht auszuschöpfender Freude an ihm eine Art Erholung, ein neues Aufleben, ein Nachlassen der Schmerzen, ein Erwachen aus der Lethargie, in der er bis zu meinem Kommen gelegen. Ich halte mich an die »Monate« des Professors, von denen bis jetzt nur einer verstrichen ist. Ich teile meine Zeit zwischen der notwendigsten Ruhe und seiner Pflege. Er hat begonnen, sich zusammenzunehmen, sich mit Energie gegen seine Krankheit zu wehren, er, der nie seinen Willen entwickelt hat, setzt sich jetzt gegen die Krankheit durch, und er überwindet sie in einer Art, die bewundernswert ist. Es gibt vielleicht Menschen, todesmutige Forscher, Leute wie Amundsen, Helden oder Priester, die ihr Leben opfern für ihre große Sache. Er aber, der dem Tode schon seit langem anheimgegeben war, rafft sich noch einmal mit seiner ganzen Männlichkeit auf, nur um mir länger das Glück seiner Nähe zu gönnen. Eines Morgens treffe ich an der unserm Hause nächsten Straßenecke einen alten, gebeugten, in schlotternde graue Gewänder gehüllten Greis, der auf mich zuwankt, auf seinen hellen Stock gestützt. Diesen Stock, den ich schon an meinem Vater seit meiner Jugend kannte, erkenne ich früher als ihn. Mein Vater hat sich unter Aufgebot aller Kräfte morgens, als meine Mutter noch schlief, angekleidet, ist mir entgegengegangen, hat lange, da sich meine Heimkehr verzögert hat, halb ohnmächtig unter starken Schmerzen an der Ecke auf mich gewartet. Zu meinem tiefen Schmerz muß ich sehen, daß diese Anstrengung seine Kräfte überstieg, das Glück, noch einmal neben ihm durch die Straßen zu gehen, ist heute ein sehr bitteres, fast würgendes. Bei der ersten Stufe, die vom Hochparterre unseres Hauses nach dem ersten Stockwerk führt, verlassen ihn die Kräfte ganz, sein Kopf gleitet auf die Brust, und ich muß ihn stützen, muß ihn, die leichte Gestalt mit den wie Vogelknochen gewichtlosen Knochen, auf meine Arme nehmen und ihn nach oben tragen. Von diesem Tage an beginnt sein neuer, diesmal nicht durch Energie zu unterdrückender Verfall. Der Hausarzt findet alles natürlich, den Aufschwung ebenso wie den Niedergang. Sein Lächeln bringt mich mehr zur Verzweiflung als das Todesurteil damals durch den Professor. Meine Mutter hat wieder ihre unmotivierten Schmerzausbrüche, die sie dann zwischen den Seiten ihrer Romane oder zwischen den flitterbestickten Röcken ihrer Puppen erstickt, der Abbé betritt wieder fast täglich unser Haus und gibt eines Vormittags auf Bitten meiner Mutter meinem Vater die Letzte Ölung.

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