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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Es ist ohne alle Überlegung gekommen, daß ich wie die andern jungen Menschen mich hier in dieser fremden Fabrik um Arbeit anstelle. Wir erhalten von einem Angestellten ein mit Buchstaben durchstanztes Stück Blech und werden in einen kleinen Schuppen beordert, wo ein Werkbeamter in grauem Zwilchanzug dasitzt und uns die Personalien abnimmt. Dann wird eine Sehprüfung, eine Hörprüfung gemacht, wobei ich am besten abschneide, ein paar Intelligenzfragen gestellt, die mir zwar fremd sind, die ich aber doch gerade noch lösen kann. Dann werden die gemachten Notizen einem andern Beamten, wohl einem Ingenieur, übergeben, der alles mit seinen tiefliegenden Augen mustert, aber weder an mir noch an den andern etwas Auffälliges findet. Er fragt mit monotoner Stimme, als lose er ein Gesellschaftsspiel aus: »Gelernt? Ungelernt? Büro? Montage? Zeichner? Lehre? Schwachstrom? Spuler? Aushilfe? Schlosser? Fräser? Chauffeur? Modelltischler?« Gerade diese Leistungen scheint er zu brauchen, unglücklicherweise ist keiner von uns dazu geeignet. Ich weiß nicht, wozu ich mich melden soll. Schließlich kommt er noch einmal auf seine Listen zurück und übergibt einigen von uns neue Blechmarken. Diese begeben sich, nachdem sie auf die Marke einen Blick geworfen haben, in einen Teil des riesigen Komplexes, der aus zahllosen improvisierten, mit Wellblech gedeckten Schuppen, dann wieder aus wie auf Zeit und Ewigkeit aufgebauten kirchenschiffähnlichen Hallen besteht. Dazwischen liegen Garagen und Lagerräume aus Eisenbeton, Kleinbahngleise mit vollständig rangierten Zügen, viele Waggons, einer wie der andere mit Maschinenteilen, offenbar Dynamos und Turbinen, wenn mich meine geringen technischen Kenntnisse nicht trügen, beladen. Jetzt ist die Arbeit überall in vollem Gange. In den Höfen herrscht großes Getümmel. Die Lastautos rollen aus den Gebäuden vor. Die kleinen Eisenbahnlokomotiven setzen sich kreischend und pfeifend in Bewegung, sie ziehen, starke Dampfwolken ausstoßend und sich wie große Eilzuglokomotiven gebärdend, ihren Weg zu den Anschlußgleisen der staatlichen Eisenbahn. Der Lärm wird immer schriller. Das monotone Brausen und Dröhnen der Maschinen ist daneben fast nicht zu hören, eher zu fühlen. Die Luft ist von feinem Staub und Rauch erfüllt, dem eigenartigen Aroma, das man an sehr heißen Tagen, wenn die Eisenbahnschwellen und -schienen bei Onderkuhle unter der Sonne brannten, in der Nähe der Schule spüren konnte. Ratlos irre ich zwischen Fabrikgebäuden und Schuppen hin und her. Mir ist dies eine völlig fremde Welt, deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit mir aber schnell einleuchtet. Plötzlich stehe ich an einem Zufahrtskanal, wo riesige flache Kähne oder Prahme mit Langholz zum Abladen bereitstehen. Sie wiegen sich lässig auf den Wellen. Der würzige Waldesduft der harzreichen Stämme mischt sich mit dem etwas modrigen Aroma des stehenden Wassers, an dessen Oberfläche Ölhäutchen in bunten Farben schillern. Bei den Stämmen steht, abgeschirrt und unbeweglich, mit hängenden Köpfen, ein Paar alter, aber guter Pferde und blickt nicht auf. Es dämmert faul in der Morgensonne dahin, schlägt nur bisweilen trage mit den sonderbar kurz gehaltenen hilflosen Schweifen nach schwärmenden Fliegen.

Ich bin ganz am Ende des Fabrikgeländes und sicher nicht da, wo es Aushilfsarbeit (Montage, Marke P) für mich gibt. So kehre ich wieder an den Ausgangspunkt zurück, wobei ich mich erinnere, daß das neueste und zugleich höchste Haus, das kirchenschiffähnliche, großfenstrige, hellrote Gebäude mit dem mattblauen steilen Schieferdach am Eingange stand. Der Zufall will, daß ich gerade dort erwartet werde. Denn ich finde ungehindert durch die Drehtür Einlaß. Die Halle ist mindestens so hoch wie ein dreistöckiges Haus. Sie hat keine richtigen Mauern, sondern nur durch Ziegel nach außen verkleidete, innen nackte eiserne Konstruktionen, und zwischen ihnen Glaswände aus großen gerippten Scheiben, es sind nicht die winzigen, schulheftgroßen Fabrikfensterscheiben, wie man sie gewöhnlich in Fabrikhallen hat. Ein einziger Raum unter spitz zusammenlaufendem Dach. Eine Unmenge von sich drehenden, von hin und her schwingenden, von stampfenden und schiebenden Maschinenteilen, von fast nackten hellen Männerkörpern, von sich senkenden, sich schaukelnden und wendenden Kranen, die an silbrig glänzenden Ketten sich wie Arme im Räume bewegen, alles eingehüllt in eine Wolke feinen Staubes, wie eine sandige Rennbahn, durchflogen von einzelnen Funken und von den bläulichen Feuerbüscheln, die einem Schweißgebläse entströmen. Es sind mindestens zweihundert Arbeiter in der Halle beschäftigt. Man begreift nicht, wie sie Hand anlegen, sieht nur, wie alles sich bewegt und vom Fleck kommt. An der kurzen Wand der Halle stehen würfelförmige Gebilde aus grauem, ins Bläuliche hinüberschimmerndem Stahl, von der Größe einer Bauernhütte. Aus ihrer Mitte treten, näher kommend und gleichzeitig dünner werdend, fischähnliche Stücke Eisens in der Breite eines hundertjährigen Eichenstammes, von denen dann eine Art Hobelmesser kreischend spiralige Streifen abschält, in ähnlicher Weise wie die mechanische Kartoffelschälmaschine in der Hand eines Küchendieners von Onderkuhle, wobei sich hier sozusagen die Kartoffel selbst schält. Andere Werkzeugmaschinen bohren an vorgezeichneten Stellen Löcher in faustdicke Eisenplatten, als wäre es weicher Käse. Auf dem asphaltierten, von Öl beschmutzten, aber oft gesprengten Fußboden hocken Angestellte in ihren sandfarbenen Overalluniformen und zeichnen mit Schlämmkreide auf den unbearbeiteten Werkstücken dasjenige in vergrößertem Maßstabe mit ihren Zirkeln und Doppellinealen nach, was in den blau bezeichneten Plänen der Ingenieure angeordnet ist. Ohne daß man besonders aufgepaßt hat, hat sich inzwischen das fischähnliche Stück aus der Werkzeugmaschine losgemacht, die mit einem Male stillsteht. Ein von oben zurrend herabgleitendes Gebiß eines elektrischen Kranes nähert sich ihm, nimmt es unter Aufsicht eines Oberarbeiters in seine Klauen, trägt es über die unbekümmerten, schweißbedeckten Köpfe der Arbeiter fort in einen andern Teil des jetzt von flutender Sonne erfüllten Raumes, wo es mit einem im Getöse nicht wahrnehmbaren Lärm auf einen der Kleinbahnwaggons aufgeladen wird, wo schon Balken bereitstehen, an die das Stück gekettet oder angenietet wird. Es ist nur provisorisch auf den Balken befestigt und geht jetzt in eine andere Maschinenhalle.

Unerschütterlich sind die Mienen der Arbeiter. Sie haben einen Ausdruck, den ich niemals an Bauern oder an dem Personal unserer Anstalt bemerkt habe. Die Männer kommen scheinbar schon von Arbeit übersättigt morgens an. Sie sprechen nicht, sie rauchen nicht, sie scherzen nicht, sie vertreiben sich nicht die Zeit, obwohl sie nicht ununterbrochen beschäftigt, durchaus nicht »angebunden« sind. Sie stehen scheinbar unbeteiligt da, bis die Reihe an sie kommt und sie einen bestimmten Handgriff tun müssen. Diesen vollbringen sie aber derart mit dem letzten Aufgebot ihrer Kräfte, daß sich die Muskeln an den nackten Oberarmen fast hörbar straffen und ihnen der Schweiß von den Augenlidern auf die Mundwinkel und vom Hinterkopf auf den Nacken tropft. Einer liegt auf dem Fußboden und sieht von unten in ein Stück, wie ein Astronom in ein Fernrohr, und gibt mit unhörbarer, aber den Umstehenden dennoch verständlicher Stimme Anweisungen, offenbar Korrekturen, die sich die Leute sofort mit Kreide an dem Werkstück anzeichnen.

Kapitel Sechs­und­zwanzig

Mich hat man längst bemerkt, doch hat sich keiner von seinem Platz gerührt. Es scheint auch keine beamtete Aufsichtsperson im Saale zu sein, wenigstens vermag ich sie nicht von den andern zu unterscheiden. Ich durchirre den riesigen Raum, bis ich an den Fuß einer Leiterkonstruktion gekommen bin, zum Fundament eines der vielen Krane, die sich mit ihren langen Hälsen, ihren winzigen, nur auf eisernen Leitern erreichbaren Führerkabinen und den glitzernden Ketten über den Grundraum der Montagehalle erheben. Hier werde ich gerufen. Nicht mit einem richtigen Zuruf, sondern mit einem Pfeifchen, als wäre ich ein kleiner Hund. Aber wer kennt meinen Namen hier? Wie anders sollte man mich darauf aufmerksam machen, daß ich hier fehle? Es gilt mir. Ich habe das Signal verstanden und klettere als guter Turner flink die etwas schlüpfrige Leiter empor, ich verbeuge mich vor dem Kranführer, der mich aber nicht weiter beachtet. Ohne das Auge von der Tiefe unter ihm zu lassen, hält er mir die linke Hand hin. Die rechte hat er an dem Lenkrade. Aber er erwartet keinen kameradschaftlichen Händedruck von mir, sondern hat mir die Hand nur gereicht, um die Marke zu erhalten, die man mir vorhin eingehändigt hat. Er spricht nicht mit mir. Vielleicht weiß er nicht, daß ich zum erstenmal hier Dienst tun soll, vielleicht wäre aber bei dem herrschenden Getöse jede Verständigung unmöglich. (Später sah ich, daß man sich auch hier unterhalten konnte, jedenfalls brauchte man die Stimme durchaus nicht stark zu erheben. Wie das möglich war, weiß ich nicht.) Nun winkt er nach rechts in den Winkel der kleinen, nach Öl riechenden, mit nassen Tabakresten beschmutzten Kabine, wo eine blecherne Ölkanne und ein paar Werglappen liegen. Er bedient ohne Unterbrechung den Kran. Wendet ihn nach außen, nach innen, hebt ihn, senkt ihn, alles auf den Zentimeter genau, auf die halbe Sekunde präzis. Er arbeitet mit seinen schweren Ketten fast lautlos, er ist ein Meister in seinem Fach. Mir weist er bei der ersten Atempause der Maschine meine Arbeit an: federnde Deckel der Maschine lüften, den Hals der Ölkanne daran halten, die Kanne seitlich fest zusammendrücken, andere Schmierstellen durch Abdrehen der Kapsel frei machen, mit festem Fett schmieren, das in einer alten Nickelbüchse liegt, das überschüssige mit einem Streichhölzchen fortstreichen, die Leiter herauf- und herabklettern, die Werkstücke besser postieren, sie mit Holzwolle umhüllen, damit der Transport sie nicht beschädigt. Die Arbeit, die ich zu dieser Zeit zu verrichten hatte, war nur Arbeit letzten Ranges, etwa wie die, die bei uns in Onderkuhle der Stallpage zu verrichten hatte. Denn weder die eigentliche Wartung der Pferde war dessen Amt, denn diese Wartung gehörte zu den vom Meister fest vorgeschriebenen und von den Reitlehrern und von den Gutsbeamten kontrollierten Obliegenheiten der Pferdeknechte, noch auch die persönliche Bedienung des Meisters war sein Amt, denn dieser hatte keinen Anspruch darauf. So war der Stallpage überzählig. Ich in der Turbinenfabrik nicht anders.

Die Arbeit des Kranführers, meines Vorgesetzten, ist keine ununterbrochene. Es vergehen oft zwanzig Minuten, während der Kran ruhig steht, bloß erschüttert von dem explosionsartig einsetzenden Lärm und Beben der automatischen Dampfhämmer in der Nachbarhalle, die dann plötzlich wieder verstummen. Während dieser Zeit konnte der Führer sich an Kaffee erholen. Alkohol war offiziell verboten, dies stand schon in der Aufnahmekanzlei angeschlagen und war sofortiger Kündigungsgrund. Kam »sein« Kran an die Reihe, dann gab man ihm ein Zeichen, das er meist gar nicht brauchte, denn er hatte schon seine teils hydraulisch, teils elektromagnetisch angetriebene Maschine in Gang gesetzt. Die Arme greifen aus, man rückt unten noch näher heran, das Stück wird von den Klauen erfaßt, entweder direkt, wenn es sich um kleinere Stücke handelt, oder es wird eine große Kette darum geschlungen, in die ein fragezeichenähnliches Zwischenstück eingeführt wird. Es gibt aber auch Greifkrane, die lose Eisenteile zusammenraffen können, um sie in die kleinen Waggons zu schaffen. Wenn die Masse emporgewunden ist und den höchsten Punkt erreicht hat, beginnt sie seitlich zu schwanken, wobei es die besondere Kunst des Kranführers ausmacht, diese seitlichen Schwingungen möglichst zu vermeiden, da sie das Material des Krans, Ketten und Übertragung, anstrengen und der Fall nicht ausgeschlossen wäre, daß sich einmal die Last frei macht, trotzdem die Klauen durch Elektromagnetismus aneinandergepreßt bleiben, solange der Strom hindurchgeht. Aber mein Vorgesetzter ist seiner Sache sicher, ein Stück mag hundert Zentner oder zweitausend wiegen (Schiffskiele oder große Turbinenachsen), ihm macht dies nichts aus. Er schafft jedes Stück, ohne dauernd hinzusehen, bloß aus einem angeborenen Gefühl für die Sache heraus, an die verlangte Stelle. Freundlichkeit ist dabei seine starke Seite nicht. Er stößt mich mit dem Ellbogen fort, wenn ich ihn störe; dabei habe ich mich schon aus freien Stücken so klein gemacht wie möglich, denn die Kabine ist eng.

An Onderkuhle, an meine Eltern, an mich, ja überhaupt an etwas Bestimmtes zu denken ist mir bei der Arbeit (und dabei ist es noch nicht einmal eine ernste, verantwortliche) nicht möglich. Man kann diese Arbeit unter keinen Umständen mit der Arbeit in unserer Schule, mit dem Zureiten eines Pferdes, und wäre es auch ein Cyrus, vergleichen. Wie man eine solche Tätigkeit, von der halbwüchsigen Jugend angefangen bis zu den Monaten vor dem Tode, aushalten kann, verstehe ich nicht. Es muß Not hinzutreten, etwas, wovon ich weiß, daß es existiert, aber nicht, wie. Meine Arbeit ist weitaus die leichteste. Ich habe die Schmierstellen in Ordnung zu halten; etwas Öl und Staufferfett fließt bei jeder Aktion aus, man hat es zu ersetzen, im Notfall könnte es auch der Kranführer besorgen und tut dies wohl auch gewöhnlich. Man hat den Staub von dem elektrischen Meßgerät, dem Amperemeter, abzuwischen, dann hat man ab und zu hinabzuklettern, ein Werkstück zu stützen, wenn es schwanken will. Dann wieder durch das Gewirr von Maschinen, Kleinbahngleisen und Menschen, die aber gutmütig ausweichen, einen Weg suchen, den man in der Verwirrung nicht finden kann, muß in die Werkskantine laufen, dem Kranführer Kaffee besorgen in einer blauen Emaillekanne, sich selbst auch etwas gönnen, um nicht zusammenzubrechen, dabei aber auf die Uhr sehen, um nicht zu lange auszubleiben. Dann wieder eine Rolle Kautabak holen, der aber nicht von der gewünschten Sorte ist, also wieder zurückspringen«. So wird es Mittag, neues Heulen der Sirene, ohne daß die Arbeit in dieser Halle Unterbrechung erleidet. Plötzlich gewaltiges Rollen und Sausen an einer der unsern entgegengesetzten Ecke des Raumes; Dampfwolken erheben sich mit kaum zu ertragendem Zischen, und eine Maschine beginnt zu laufen und kreischt so sehr in ihren nicht genügend geölten Lagern, daß man sich die Ohren zuhalten muß, ob man will oder nicht. Es sind neue Turbinen, wie ich in einer stilleren Pause erfahre, die an eine Dampfleitung gekuppelt werden auf dem Probierstande. An ein Niedersetzen, Ausruhen ist nicht zu denken. Kaum daß ich die nötigsten Pausen erhalte. Man schickt mich von einer Maschine zu der anderen, leiht mich her, gibt mir alle fälligen kleinen Besorgungen auf, als habe man es sich stillschweigend zur Pflicht gemacht, ich dürfe keinen Augenblick lang ausschnaufen. (Eine Probe?) Endlich verliere ich gegen Nachmittag das Gefühl der Müdigkeit. Mir ist alles gleich. Ich bewege mich, wie man mich stößt, ich tue, was man mich heißt, ich denke überhaupt nicht mehr klar, ein Glück, daß ich nicht von einer Maschine abgefangen werde und in ein freier laufendes Radgetriebe komme. Schließlich stehe ich die meiste Zeit am Postament »meines« Kranes fest; »mein« sage ich mit Unrecht, da ich ebensogut allen anderen Kranführern und Oberarbeitern gehöre. Ich spüre meine Glieder nicht mehr, mein Körper hört bei den Handgelenken auf, die ich noch als schmerzhaft und angeschwollen empfinde. Dabei stehe ich müßig, während man rings um mich mit unverminderter Intensität schafft. Ich sehe, wie der Schaufelring einer Turbine entsteht, wie man die pflugscharähnlichen Stahlteile Stück für Stück an die Hauptwelle aufkeilt, wobei mittels eines besonderen Meßverfahrens der auf dem Boden liegende Korrektor Abweichungen von einem Bruchteil eines Millimeters feststellt. Denn schon die Differenz von einem Zehntel Millimeter hat bei der rasenden Geschwindigkeit der laufenden Maschine die furchtbarsten Folgen. Selbst wenn die Maschine ordnungsgemäß läuft, fühlt man den orkanartig ansteigenden, anschwellenden Sturm der Luft in der Halle; das ganze, schwer gebaute Haus mit seinen Eisenträgern bebt in seinen Grundfesten. Es kommt von der einen Seite, der Materialseite, der unbearbeitete Stahl hinein, dort wird daran gearbeitet; halbrund profilierte Eisenstangen werden erst in Hitze gerichtet, dann möglichst erschütterungsfrei gefräst, dann gezogen, dann von den würfelförmigen Halbautomaten weiterbearbeitet. Das alles geht in allen möglichen Stadien nebeneinander vor sich, wechselt seinen Platz, wird gehoben, niedergelassen, zurückgestellt, hervorgeholt, nichts ist in dem Gewühle von Eisen, von aktivem, arbeitendem und passivem, bearbeitetem Metall vergessen, alles hat seinen Platz und seine Bestimmung. Nur ich treibe mich hier gedankenlos umher, verstehe jetzt auch die Signale nicht mehr, die mir der Kranführer gibt, komme manchmal ungerufen, und ein andermal lasse ich ihn warten, ich bin wie vor den Kopf geschlagen, blockiert. Man kennt diesen Zustand auch bei überarbeiteten Pferden, ein Stadium, wo sie richtig »kopfscheu« sind, alles und nichts annehmen, und in diesem Stadium sind sie unberechenbar, man nähert sich ihnen dann besser nur mit größter Vorsicht. Bei mir ist keine Vorsicht nötig. Ich stehe wie unter der Wirkung starker alkoholischer Getränke, bin wunschlos, fast besinnungslos. Ich halte mich zusammengerafft, aufrecht, soweit es nur meine gewöhnliche schlaksige Körperhaltung erlaubt. Man sieht mir nichts an als ein bestimmtes gedankenloses, blödes Lächeln und dazu eine ebenso gedankenlose Bewegung meiner ölbedreckten Hände, mit denen ich mir über das Gesicht und über den Hinterkopf fahre, dabei vermehre ich noch das Jucken, imprägniere die Haut und das Haar noch stärker mit Eisen und Kohle.

Unsere Arbeit dauert am längsten, da wir eine Zahl von Werkstücken, die von den anderen »finiert«, fertiggemacht werden, durch die Krane weiterbefördern müssen. Schließlich ist auch diese Arbeit, der ich nicht mehr richtig folgen kann, beendet. Ich wanke durch die plötzlich menschenleere Maschinenhalle, nachdem ich mit dem linken Fuß fast in einer Sprosse meiner Leiter hängengeblieben bin. Der Raum ist jetzt ziemlich einsam, nur von Scheuermännern belebt; die Maschinen stehen. Die nächste Schicht trifft erst später ein. Jetzt ermißt man den ungeheuren Umfang des Gebäudes.

Ich begebe mich in den Ankleideraum des modern eingerichteten Unternehmens, wo sich unter lebhaft sprudelnden kalten Duschen reihenweise nackte Arbeiter reinigen. Man sieht ganz junge, porzellanartig harte und weißliche Körper, fast ganz unbehaart, und solche, die am ganzen Leibe braun bezottelt sind, andere haben ihr dunkles Kopf- und Körperhaar schon mit Grau untermischt, zeigen aber oft noch die prachtvollste Muskulatur. Alle stehen sie mit gebeugtem Rücken da, welchem Körperteil sie das Wasser besonders reichlich zukommen lassen. Auch ich habe die stärkste Sehnsucht nach Wasser, ich eile hinzu, werde aber von einem neu einströmenden Rudel beiseite gestoßen und liege nun auf dem Boden. Das reine Wasser und auch etwas von dem beschmutzten rinnt mir ins Gesicht, in die Ohren. Ich sehe auf dem sauberen, schlüpfrigen, aus kleinen Steinchen zusammengesetzten Fußboden, hart an meinem Munde, die Füße der Arbeiter, Pantinen mit Holzsohlen. Ein einziger Augenblick solchen Liegens genügt, um alle Ermüdung abzuschütteln, wieder zu sich zu kommen. Ich erhebe mich mit dem Versuche eines Lachens. Ich dränge mich energisch heran, dusche mich reichlich, ziehe mich sodann schleunigst an. Ich verlasse den Ankleideraum, bin, ohne es zu merken, wie, in der nächsten Sekunde auf der Straße, in der zweitnächsten schon weit aus dem Bereiche der Turbinenfabrik.

Es kommen breite Boulevards, der Bahnhof ist nahe, aber ich erkenne ihn kaum wieder, er scheint nicht derselbe zu sein wie gestern. Ich strebe nach Hause, in »mein« Hospiz, erreiche es aber nicht mehr. Auf einer Bank, die zu den Anlagen eines öffentlichen Volksparkes gehört (habe ich nicht einmal in Onderkuhle von einem Spazierritt in diesem Parke geträumt … mit meinem Vater … auf Cyrus? … ), falle ich zusammen, sehe noch einmal scharf um mich, wie um Haltung und Bewußtsein zu markieren, und bin im nächsten Moment rettungslos in einen unnatürlich plötzlichen, alpdruckartigen Schlaf versunken, aus dem mich erst die Hand eines Polizisten weckt. Es ist Mitternacht. Der Polizist hält mich nicht für einen Vagabunden, eher befürchtet er, man könne mir im Schlafe meine wenigen Habseligkeiten stehlen. Deshalb hat er mich geweckt, nachdem er mich, wie er mir erzählt, durch eine Stunde beobachtet hat.

Kapitel Sieben­und­zwanzig

Die Tage vergehen in rasender Schnelligkeit. Ich muß mir ein anderes, billigeres Quartier suchen, komme aber während der ersten Woche nicht dazu.

Am Sonnabend ist der Augenblick des Lohnempfanges von einer gewissen Feierlichkeit. Ich bin natürlich auch an diesem Tage müde, obwohl ich nur fünf Stunden statt sonst neun gearbeitet habe. Immerhin ist meine Haltung (jetzt wo es nicht mehr darauf ankommt) besser als am Tage des Zeugnisempfanges in Onderkuhle. Nichts mehr von der gezierten und unbehilflichen Haltung. Es kümmert mich nicht, wer umhersteht und wer sich vielleicht bei der Nennung des adeligen Namens über mich lustig machen könnte. Übrigens tut es keiner, jeder ist mit sich selbst beschäftigt und wartet nur das Geld ab, um die Fabrik zu verlassen, so schnell wie nur möglich. Die Zeremonie dauert nicht lange. In länglichen, weizenfarbigen Kuverts liegt der Lohn bis auf den Heller für jeden Namen abgezählt. Keine Quittung, keine Schreiberei. Augenblicklich hat das Nachzählen zu erfolgen, Reklamationen sind sofort, aber bei einem andern, nicht bei dem auszahlenden Beamten, anzubringen. Da sich die Namen oft gleichen, wird die Berufsbezeichnung beigefügt, so Monteur, Chauffeur, Elektriker, Zeichner, Modelltischler, Spuler, Schweißer, Nietenschläger, Gießer, Schmied, Fräser, Stückezeichner, Kontrolle, Schaufeldreher, Tischler, Mechaniker, Heizer usw. Einen Teil meines Geldes trage ich sofort zur Post, um einen Teil meiner Schuld bei dem Kaufmann in V. abzutragen, dann begebe ich mich auf die Wohnungssuche und miete die erste beste Kammer, die, wie ich später erfahre, in Anbetracht des Gebotenen zu teuer ist. Es ist keine bloße Schlafstelle, sondern ein abgeschlossener, nur mir gehöriger Raum in einer von unzähligen kleinen Parteien bewohnten sechsstöckigen Mietskaserne mit vier Aufgängen, die alle sehr belebt und (wenigstens heute, am allgemeinen Reinmachetage) ziemlich sauber sind. Ich freue mich beim Beziehen des Zimmers auf den morgigen Tag, ich möchte die Messe in der Kathedrale besuchen, bei welcher seit Jahren regelmäßig meine Eltern anwesend sind, und bitte meine Wirtsleute, eine kinderreiche jüdische Schneiderfamilie, mich pünktlich zu wecken. Sonderbarerweise erwache ich Sonntag erst gegen Abend. Ich hatte, meinem gesunden Hunger zum Trotz und ohne auf die zahlreichen Versuche der Wirtin auch nur durch Umdrehen im Bette zu antworten, den Ruhetag fast ganz verschlafen. Ich trete auf die Straße, gehe ein paar Schritte spazieren und gehe dann in ein Kino, da ich den Drang habe, genauso gedankenlos, wie ich die Woche bei der Arbeit verbringe, auch den Sonntag bei der Erholung zu verbringen.

Auch das übrige Publikum des billigen kleinen Kinos besteht fast nur aus Arbeitern, männlichen und weiblichen. Als man mich am nächsten Tage fragt, wie ich den Sonntag verbracht habe, und ich verlegen schweige, fordert man mich auf, in einen Arbeitersportverein einzutreten, in dem Fußball gespielt wird und der eine ausgezeichnete Mannschaft haben soll. Das wäre wenigstens eine Möglichkeit, nicht in der völlig aufreibenden, mich bis zum letzten Rest seelischer und geistiger Kraft erschöpfenden Arbeit aufzugehen. Sobald es mir aus bestimmten Gründen möglich sein wird, will ich es unbedingt tun. – Wer mich am nächsten Sonntag weckte, weiß ich nicht. Aber ich stand auf, gerade zeitig genug, um die Stunde der großen Messe in der berühmten Kathedrale nicht zu versäumen. Den Kaffee trinke ich stehend aus, meine Kleider dabei zuknöpfend, das Brot nehme ich mit. So komme ich doch früher von Hause fort und eile dem Gotteshause zu.

Ich sehe die Straßen jetzt am Sonntagvormittag leer. An den Haltestellen stehen die Droschken, und vor den alten Klapperkästen mit dem abgesprungenen Lack und der verschossenen Innenpolsterung dämmern die Gäule, die müden, abgetriebenen, nie ausgeschlafenen Tiere mit den schiefen Vorderbeinen, den winkelig angezogenen dürren Hinterbeinen, den kantigen Kruppen, den überlangen Hälsen, die nur dürftig von den struppigen, nie richtig gestriegelten Mähnen umrahmt sind. Die Unterlippen hängen den Pferden ebenso wie die Augenlider herab. So stehen sie nickend da, und der Kutscher aufdem Bocke döst ebenso wie sie dahin in der schweren, nebligen, warmen Sommerluft. Ein Gaul mit auffallend trübem Gesichtsausdruck und mit vor Altersschwäche tränenden Augen erregt meinen Anteil besonders. Ich kann es mir nicht versagen, der Stute mein Frühstücksbrötchen zwischen die langen, grünlich angelaufenen, wahrscheinlich niemals geputzten Zähne zu schieben. Das Tier erschrickt fast vor dem unerwarteten Geschenk. Dann mahlt es eilig, wobei die Kinnriemen knarren und das Kettchen rasselt, es schlingt eifrig, glotzt mich an, klopft auf den Boden mit einer verstehenden intelligenten Bewegung des langen, unregelmäßig gebauten Kopfes. Es öffnet dann das Maul zum Wiehern, sehnsüchtig und hoffnungsvoll und mit solcher Stärke, daß der eisgraue, aber rotwangige, gesunde, dicke Kutscher fluchend erwacht und dem Tier den Peitschenstiel um die Ohren schlägt. Es verstummt sofort, wendet nur seinen sonderbaren Kopf nach mir, der ich schnell davoneile. Immer habe ich Tiere geliebt, und ich gestehe es, nicht immer geliebt ohne ein Gefühl von Neid. Zum erstenmal ist heute viel Mitleid dabei.

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