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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Kapitel Elf
Da die Hitze fast unerträglich geworden ist, haben die Lehrer beschlossen, den Unterricht in den Nachmittagsstunden ausfallen zu lassen. Dafür sollen körperliche Übungen treten. Und zwar soll ein Teil, der die jüngsten Schüler umfaßt, eine Art Handball, ein zweiter Teil soll Tennis spielen (beides sehr unsinnig wegen der schattenlosen Spielplätze), dem dritten Teil, von der »Fünften« angefangen, also den ältesten Schülern, wird erlaubt, mit einigen Pferden in die Schwemme zu reiten.
Die Pferde werden ohne Sattel und Bügel, bloß mit dem Handzügel aufgezäumt, um vier Uhr vorgeführt werden. Wir haben unser Badekostüm anzulegen und darüber, solange wir uns im Bereich der Gehöfte befinden, die grauen Turnanzüge.
Auf ungesattelten Pferden zu reiten ist selbst für einen passionierten Reiter nicht immer ein Vergnügen, auch muß das Pferd beim Verlassen des Wassers trockengeritten werden. Das ist eine schwierige Arbeit, denn die Pferde sind gegen Erkältung und Nässe in gleicher Weise empfindlich, und bei der herrschenden Schwüle stellt dies keine leichte Aufgabe dar. Dafür lockt die Freude eines Bades im See und das Vergnügen, ohne Aufsicht der Lehrer ein paar Stunden zu verbringen. Denn statt des Rittmeisters bin ich zum Leiter der Kolonne ausersehen, und mich dürfen die Schüler ruhig als ihresgleichen betrachten.
So kann uns das immer düsterer sich sammelnde Gewölk, das niedriger drohende Gewitter keine Angst einflößen, wir dürfen auch im ärgsten Regen heraus und draußen bleiben. Nicht alle sind freilich im selben Maße wie ich von diesem Plane entzückt. Der junge Prinz Piggy, ein kleiner, dicker, junger Herr mit mattbraunem Gesicht (er ist in den Tropen geboren), mit schwarzen, wie Kirschenmarmelade funkelnden Augen und einem sehr blassen, breiten, wenn auch außerordentlich festen Munde, ist nicht recht bei der Sache. Sonst schreit er gern umher oder gibt sein bellendes Lachen bei der blödesten Gelegenheit von sich, jetzt flüstert und zischelt er und scheint die Kameraden von etwas überzeugen zu wollen, was sie aber nicht ernst nehmen, denn sie hören gar nicht auf sein Gelispel hin. Daß es Mangel an Courage bei ihm ist, kann ich nicht glauben, da ich mir Feigheit vor Dingen des Lebens (und das sind doch Wasser, Gewitter, Pferd, Donner und Blitz) weder bei mir selbst noch bei andern je vorstellen konnte.
Wir stehen jetzt alle in unsern weiten, ungebügelten, um die Knöchel schlotternden Turnanzügen vor dem Stalltore, um die Pferde zu erwarten, die drinnen schon stampfen, scharren, an den Karabinern und Stallketten klirrend zerren und leise aufwiehern. Es ist auch zu hören, wie sie mit den Schwänzen an die Stallraufen schlagen, was ein eigenartiges zischendes Geräusch gibt, und wie sie mit den Nasen die salzhaltigen Wände »ausradieren«.
Plötzlich erscheint zum Erstaunen aller vom Lazarette her über den jetzt schattendunklen Hof mein Freund Titurel. Er ist noch etwas blaß; aber wüßte man es nicht, könnte man ihm Fieber und Krankheit nicht ansehen. Er mischt sich unter die anderen, ist ebenso wie wir in einen grauweißen Turnanzug gekleidet und hat das Handtuch, das zum Baden mitgenommen wird, in den Gürtel eingefaltet. Da die Anzahl der Pferde beschränkt ist, muß einer der anderen Schüler auf die Partie verzichten, wenn Titurel mitkommen soll. Eben schlägt die Uhr im Schulgebäude vier. Die Tiere drängen sich schon nebeneinander durch die weit geöffnete Tür vor. Jetzt erscheinen die ungesattelten Pferde mit ihren weichen, aneinanderknirschenden Leibern, nackt, mager und nicht so ebenmäßig gebaut, wie es sonst unter den schmalen, kleidsamen englischen Sätteln aus Schweinsleder und den breiten, sanft umfassenden Gurten der Fall ist. Wer soll nun zurückbleiben? Denkt Piggy wirklich an sich selbst? Er sieht auf mich, dem die Entscheidung zusteht. Dabei versucht er meinen Blick zu fangen. Wie er das macht, ist mir nicht erklärlich, denn er fixiert mich nicht eigentlich, er hat die richtig kameradschaftliche, weder übertrieben selbstbewußte noch ausgesprochen familiäre Haltung. Er hat sein Pferd bereits in Empfang genommen und streicht mit seinem auffallend weibischen Daumen über den schmalen Zügel hin. Schon habe ich seinen Namen auf der Zunge und will ihn bitten zu verzichten, als ich bemerke, daß er dies wahrgenommen hat und daß seine Finger den Zügel wieder fortlassen wollen. Er ist also wirklich feige, er hat Angst davor, ein ungesatteltes Pferd zu reiten (dabei ist kein zweiter ungebändigter Cyrus unter diesen Tieren), er will nicht auf einem ungesattelten Pferd sitzend ins Wasser gehen und sich einem schwimmenden Gaul anvertrauen. Gerade weil ich seine Feigheit erkenne, gehe ich nicht darauf ein und bitte den jüngsten unter uns, einen besonders hochbegabten Jungen, der wegen seiner vorgeschrittenen Kenntnisse unter die viel älteren aufgenommen ist, daheim zu bleiben und sich seinen Altersgenossen beim Spiel anzuschließen. Er ist ein reizender Bursche, bescheiden, lebhaft, mit einem runden Gesicht, weiß und rot, wie aus Porzellan gebildet. Er heißt unter uns Assissus, nach dem berühmten Heiligen; wieso er zu diesem Namen gekommen ist, weiß ich nicht. Man hat ihm diesen in meiner Abwesenheit nachts im Schlafsaale nach einer sehr scharfen, aber ohne Wimperzucken ertragenen »Probe« gegeben.
Ich warte weiter nichts ab, nehme aus der Hand des Stallburschen mein Pferd, eine ziemlich hohe, betagte Schimmelstute, entgegen, fasse mit der linken Hand den Zügel, stütze mich mit dieser Hand auf den gekanteten Bug, mit der rechten auf die weiche und doch unter meinem Griff unnachgiebige Kruppe des Pferdes und werfe mich mittels eines mühelos aussehenden, aber immer schwierigen Sprunges über das Tier, dem ich gar nicht Zeit gegeben habe zu überlegen. Ich sitze oben, die Zügel in der linken, meine Gürtelschnalle in der rechten Hand, mit den Beinen den nackten Leib der Stute fest umklammernd, während die andern sich noch mit den unruhig gewordenen, durcheinandergedrängten Pferden abplagen.
Es ist ziemlich düster unter den Lindenbäumen der Allee, denn die Wolken haben sich seit dem Vormittag noch mehr zusammengezogen. Der schwere, fast greifbare Duft der mit honigfarbenen Blüten überhäuften, still rauschenden Lindenbäume mischt sich mit dem von unten nach oben steigenden Dunst der vielen Pferde. Schwärme von Spatzen rauschen schilpernd von den Bäumen herab zu den Füßen der Pferde, denn sie erwarten da etwas. Sie sind besonders unruhig. Man sieht immer wieder ihre mattbraunen Flügelchen aufgeplustert, die helleren Schnäbel haben sie weit geöffnet, und so wirbeln sie kleine Wölkchen Staubes in der Straßenmitte auf, sie baden im Staube, bis sie vor den Pferden aufflattern, kreischend vor Unruhe und Lust. Das Gewitter liegt in der Luft.
Unter den Schülern ist es zuerst meinem Freunde Titurel gelungen, in den richtigen Sitz zu kommen. Er hält sich oben stumm, sehr gerade aufgerichtet. Die sommersprossigen Hände und die mit blondem Flaum bedeckten Unterarme hat er weit vor sich hingestreckt. So bleibt er neben mir und wartet, bis unter lautem Gelächter, das allerdings die Pferde noch unruhiger macht, auch alle andern hinaufgeklettert sind. Das dauert lange, denn einer will dem andern helfen, schließlich gibt es nur einen Haufen von ungeduldigen, schwitzenden und stallenden Pferden, von grauen, unter der Achsel schon vom Schweiß angedunkelten Turnanzügen, von Knabenhänden, an denen die Pferdemäuler ziehen, und von Knabengesichtern, die teils vom Lachen, teils von der Anstrengung stark gerötet sind. Nur einer ist blaß, ruhig, hält sich abseits und lächelt spöttisch, wenn auch kaum erkennbar, mit seinen wulstigen Lippen und seinen hübschen falschen Marmeladeaugen: Piggy.
Kapitel Zwölf
Nun beginnen wir loszutraben in sehr ruhigem Tempo. Denn es ist nicht leicht, sich ohne Sattel und besonders ohne Bügel längere Zeit oben zu halten, das Gleichgewicht zu bewahren und den Tieren seinen Willen aufzuzwingen. Sicherlich hätte der eine oder der andere der körperlich schwächeren Jungen Schwierigkeiten gehabt, wenn nicht die Pferde, als richtige Gesellschaftstiere, eines dem anderen voll Freude und Genuß gefolgt wären, Gefühle, die sie durch unaufhörliches Aufwiehern, durch Heben der Köpfe, Aufstellen der Ohren und durch einen besonderen, tanzartigen, maskierten, unnatürlichen Schritt dartun. Die Wärme der Tierkörper teilt sich uns mit. Ihre weichen, samtartigen Haare rascheln an unseren Zwilchanzügen. Bei jedem Schritt schnellen unsere Figuren wie elektrisiert auf und nieder. So kommen wir durch die immer stärker duftende, unter Gewitterwolken fast schwarz daliegende Lindenallee, vorbei an den Spielplätzen der Schule, an den Ställen und Gehöften. Jetzt geht es über einen kleinen Steg, der unter den vielen Pferden dumpf wie eine Trommel eines wilden Kongonegerstammes ertönt.
In den Obstgärten ist schon lange alles abgeblüht. Jetzt beginnt ein starker, heißer Wind die abgefallenen Blätter kreisend zu umgeben und emporzutragen. Das Laub der Bäume hat einen grellen, grünen Schein angenommen. Die Stämme scheinen aus einer Stange Tabak gebildet, so stumpf und gesättigt sind sie in ihrer Schwärze unter dem dicken, blau gefütterten Gewitterhimmel. Ich wende mich nach meinen Kameraden um, die mir nicht alle gleich schnell folgen können. Ich erblicke unser Schulgebäude, das sich, je weiter man sich entfernt, desto höher und gewaltiger gegen den Himmel abzuheben scheint. Sein sonst etwas rohes Rot hat sich, gegen den dunklen Wolkenhintergrund gehalten, in etwas Zarteres, Erdbeerfarbenes, trotz der düsteren Stimmung Heiteres verwandelt. Ich fühle es mit besonderer Freude, wie schön unser Haus ist, wie sicher gebaut, für lange Zeiten gegründet. Soll ich darin alt werden, immer da leben?
Das gleichmäßige Traben meiner Schimmelstute ist mir angenehm. Wenn der Huf gegen einen Stein stößt, geht es mir bis zum Herzen, so freudig. Kommt Titurel mit seinen etwas abstehenden spitzen Ellenbogen mir beim Reiten nahe, ist mir, als streichele er mich; trotz seines noch immer abweisenden, fieberhaft stolzen Wesens empfinde ich seine Nähe, sein immerwährendes Nebenmirsein. Wir sollen alt werden in unserer wortarmen Freundschaft und stillen Sympathie. Nun, als die Schule hinter uns liegt und wir unter jungen Buchen, die in der Windstille nur leise hauchen und raunen, dahinreiten, fühle ich mich von allem T. so weit entfernt wie noch nie.
Nun kommt die Pappelallee, die man die italienische nennt, an die sich zu beiden Seiten ein Forst anschließt. Es ist still, auch das leise Raunen ist verstummt, kein Vogelruf, bloß das gleichmäßige Traben unserer Pferde, die sich in ein und denselben Takt gefunden haben, das silberne Klingen der Kinnketten und Knistern der Kleider der Schüler und das durch die mühselige Art des Reitens hervorgerufene schwerere Atemholen. Es spricht niemand mehr. Im Anfange habe ich hinter mir Lachen gehört; Prinz Piggys bellendes Lachen, das durch die Gangart seines stoßenden Pferdes zerschnitten wurde. Jetzt ist auch dies zu Ende. Die Pferde gehen ruhiger, sie treten in das Gras neben der Straße, sie weichen auch dem feuchten Grunde nicht aus, unter ihren Hufen zermalmen sie ruhig die hohen, hier am Wegesrand riesig aufschießenden üppigen Kletten. Dies ist aber nicht ungefährlich, da sich ihnen hinter den Hufen in der Gelenkbeuge Reste der stacheligen Köpfe ansammeln können, was zu einer bösartigen Fußkrankheit, Brandmauke, Veranlassung geben kann. Ich reite also den Zug entlang und bringe den jüngeren Reitern dadurch Unterstützung, daß ich ihre Pferde trotz ihrem Widerstreben auf die Straße zurückbringe. Die Knaben sehen mich an, sie lächeln mir entgegen, von ihren gesunden, frohen Gesichtern trieft der Schweiß, den dieser oder jener mit der aufgeworfenen Oberlippe auffangen will. Vergebens versuchen sie, die etwas heftigen Stöße zu mildern, ja sie wären nicht abgeneigt, die Pferde lieber in den gefahrvollen Kletten laufen zu lassen, wenn es nur für sie persönlich schmerzloser wäre. Aber ich bin für beide verantwortlich, für die Pferde wie für die Knaben, ich bin hier an Stelle eines Offiziers unter ihnen, nicht ganz als Kamerad.
Nun geht es bergauf, dem kleinen See entgegen. Hier stehen Buchen, Eichen, und mitten unter dem helleren, weich umflaumten, milchigen Laube erscheint das ernste, erzähnliche Grün der Nadelbäume, unter dem, wie Früchte verteilt, die weißgrünen neuen Sprossen hervorschimmern. Ein dunkler, fast schwarzer Wolkenhimmel treibt die im Windeshauche bebenden Kronen der Bäume zusammen. Dann öffnet sich dieser Weg, der Abfluß des völlig schwarzen Sees rauscht in gedämpftem Paukenschlage über das vor einem Jahre frisch gezimmerte Wehr aus weißen, gehobelten Stämmen ohne Rinde, an denen sich Moos und Algen erst in dünnen Streifen angesetzt haben.
An dieser Stelle biegen wir vom Wege ab und reiten auf eine abgemähte Wiese, in deren Mitte sich einige hoch aufgeschichtete Heuschober befinden. Sie hauchen jetzt unter dem völlig verhangenen Himmel einen fast betäubenden Brodem aus. Vögel sind nur kurz, abgebrochen zu hören. Weiter in der Ferne weidet eine Rinderherde. Viele Tiere liegen da wie erschlagen, bloß die Mäuler matt bewegend und die Rippen beim Atmen ausweitend. Wenige, weiße und schwarze, wandeln langsam und beugen die schweren Häupter mit den geringelten grauen und schwarzen Hörnern. Es ist sehr still.
Titurels Pferd, ein junger Rapphengst, ist unruhig geworden. Es fängt jetzt, von Mücken belästigt, an, mit seinem starken Schweife zu schlagen und, als dies nicht hilft, mit seinem starken, wie ein Mistkäferrücken schwarz glitzernden Kreuz zu tanzen. Jede dieser Bewegungen bereitet dem sichtlich erschöpften Titurel Schmerzen. Ohne zu reden, lege ich meine Hand auf den Kopfzaum des Pferdes. Schon will sich das Tier beruhigen, als Titurel heftig seine Knie scharf dem sofort wieder wilder und unregelmäßiger atmenden, mit der Hinterhand auskeilenden Pferd in die Seiten preßt. Ich lasse aber diesen Zweikampf nicht weiter gewähren, sondern besänftige das Tier durch einen leisen Pfiff und lege gleichzeitig mildernd meine linke Hand zwischen Titurels Knie und die Flanke seines Pferdes. So wird alles ruhig.
Inzwischen sind die andern Knaben schnell von den Pferden geglitten, manche so ungeschickt, daß sie sich auf dem weichen Grasboden kugeln und sich von den übermütig wiehernden und mit allen vieren zugleich aufspringenden Pferden noch eine Minute lang herumzerren lassen, ein Spiel, das schon deshalb ohne Gefahr ist, weil sie ja jederzeit die verbindenden Handzügel loslassen können. Die meisten kleiden sich rasch aus, das heißt, sie werfen die Turnschuhe, Zwilchröcke und Hosen auf einen Haufen und stehen nun in ihren grün-weiß gestreiften Trikotbadeanzügen da. Sie reiben sich in Vorfreude des Bades die Hände, während die Pferde, ebenfalls ungeduldig, mit ihren Nüstern den Knaben die nackten Schultern »ausradieren« und dabei wie bittend mit den Vorderhufen auf dem grasigen Boden scharren. Andere Schüler haben sich den Spaß erlaubt, die Pferde zu dreien an einem Halfter zusammenzukoppeln, so daß diese nicht weit kommen können. Dafür halten sich die Gäule an den hohen Heuhaufen gütlich, sie ziehen Bündel von graugrünem, duftendem, aber schon etwas unscheinbar gewordenem Heu hervor und mahlen es langsam zwischen ihren Zähnen ohne rechten Hunger, dann werfen sie sich, miteinander kämpfend und spielend, gegen einen der leicht zu erschütternden Heuschober, bis er einstürzt und die verblüfft aufblickenden Tiere unter dem zerflatternden Heu begräbt. Der Himmel ist inzwischen immer dunkler geworden. Der Regen muß ganz nahe sein, Fische springen häufig über die bleifarbene, bloß am Uferrande lichtere Wasserfläche. Völlig sind die Vögel im nahen Forst verstummt. Eine Kuh beginnt zu brüllen. Mücken singen hoch, doch sind sie jetzt nicht zu sehen.
Alle Knaben haben nun bloß die bis an den Hals reichenden Badekostüme an. Wir lösen die zusammengekoppelten Pferde los, sitzen von neuem auf und reiten langsam, die Pferde stark zurückhaltend, in das flache Uferwasser vor. Die Tiere empfinden die Kühle des Wassers als Wohltat. Sie wiehern freudig, trompeten laut, sie trinken mit Gier. Dann gehen sie vorsichtig ins Wasser, sie heben die Beine hoch wie zimperliche Mädchen. Es weitet sich ihnen die Brust, und sie schwimmen, sie peitschen das Wasser mit ihren fächerförmig sich ausbreitenden mächtigen Schweifen.
Kapitel Dreizehn
Auf dem See herrscht wildes Getümmel. Die Knaben lachen, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser, und doch schützen sie gleichzeitig ihre kurzgeschorenen, unter dem fast nächtlichen Gewitterhimmel stark glänzenden Köpfe hinter den Hälsen der Pferde vor dem Wasser, während sie sich mit vornübergebeugtem Oberkörper an den Hälsen der Pferde festhalten. Die Dorne der Rückgrate der Jungen zeichnen sich, als wären sie dicke Perlenschnüre, unter dem Trikotstoffe ab, der nur langsam sich mit Wasser festsaugt. Ab und zu hebt der Wasserdruck einen Jungen von dem glatten Pferderücken fort, und mühsam nur gewinnt er seinen Sitz wieder, sieht sich, noch den Mund voll Wasser, verlegen lachend um und ist bald allen anderen voraus. Titurel hält sich neben mir auf seinem jetzt, wie es scheint, friedlich gewordenen Rapphengst. Er hat gute Farben, sein Blick ist ruhig und frei. Er ist so, wie ich ihn die ganzen Jahre hindurch kenne. In den Augen des Pferdes haben sich Algen mit Wassertropfen verfangen, grün schimmert es zwischen den sehr dichten, rutenartig vorstehenden Wimpern hervor. Das Tier schüttelt mit dem Kopf. Mit einer zerstreuten Bewegung, ohne recht hinzusehen, wischt Titurel das grüne Gerinnsel von den glasklaren schwarzen Pferdeaugen fort.
In diesem Augenblick bricht plötzlich mit einem kurzen, scharfen Knall das Gewitter los. Blitz und Donner gleichzeitig. Der Wetterherd ist gerade über uns. Ein gelbes Funkengewirr mitten aus einer fahlen, vom Wind geblähten Wolke, hinter der aber, noch höher im Räume, schwärzere Wolken warten. Von weit her kräuselt sich im Sturm die bis dahin bleifarbene Wasserfläche, als ziehe man ein hellgraues Netz mit der größten Geschwindigkeit durch das Wasser. Es hat sich im selben Augenblick schon bis in die Tiefe getrübt. Es zischt auf, und aufsteigend beginnt es sich wie kochend in gewaltigen, abgerundeten Wellen zu heben. Das Schreien und Lachen der Knaben ist mit einem Male wie abgehackt.
Ich kann es nicht verstehen, daß ein Gewitter sie erschreckt. Ich liebe Gewitter über alles. Aber die andern sind stumm geworden. Mit blanken, bleichen Gesichtern, die Augen tief in den Höhlen, die Hände mit den verschlungenen Zügeln meist über der Brust verkrampft, die Beine eng um die Leiber der Pferde gepreßt, so hängen sie über den hohen, nassen, wie aus Email geschnittenen Pferdehälsen. Die Tiere sind, da sie sich schon durch ihre große Anzahl sicher fühlen, ziemlich ruhig, und das ist gut. Aber Titurel ist zu Tode erschrocken. Sein Gesicht ist grünlichblaß, fast wie der grünliche Unrat, den er aus den Augen seines schwarzen Pferdes wischen wollte. Aber was das Ärgste ist, ich sehe, wie er, ohne es zu wissen, seine Finger mitten in das rechte Auge des armen Pferdes gräbt, das sofort mit einem ungeheuren Satz von dem flacheren Ufergelände absetzt und nun, halb schwimmend, halb springend, weißen Schaum um seine riesigen Gliedmaßen aufpeitscht. So stürzt es sich gegen den tieferen Teil des Sees. Jetzt hat es den Grund unter den Füßen verloren, es schwimmt dahin, ist tiefer getaucht, den Kopf hält es schräg gegen das Wasser hin, und an seinem spitz zulaufenden Halse bricht sich das gewitterschwarze Wasser hell wie am Kiel eines fahrenden Schiffes. Aber noch fühlt es unwillig die Last auf seinem Rücken, es schüttelt sich, schlägt ungebärdig aus. Mit seinem Schweife wirbelt es Schaum. Es hebt, während es laut wiehert, sein Hinterteil, so wehrt es sich gegen den Reiter, der jetzt an dem Pferd mehr wie ein totes Kleiderbündel herabhängt, statt daß er es durch seinen Sitz beherrscht. Ich kann ihn, da mein Pferd unter solchen Umständen schwer pariert, nur aus einiger Entfernung sehen. Seine Augen hat er völlig geschlossen, jetzt legt er, offenbar in einem Zustand von fast völliger Ohnmacht, seinen langen Oberkörper zurück, der Kopf sinkt ihm zur Seite. Den Mund will er zu einem Schrei öffnen, aber man hört unter den wiederholten, wie eine Kanonade prasselnden Donnerschlägen aus seiner Richtung nur etwas Dünnes, Kraftloses. Sein Ohr blinkt ganz an der Seite über den Knöpfen, die sein Badetrikot an der linken Schulter zusammenhalten, es ist so, als lausche er an sich selbst herum.
Noch kann ich alles nicht für Ernst nehmen. Es ist ja nichts geschehen, kein Tropfen Wasser vom Himmel gefallen. Aber jetzt tut er seinen Mund, den blassen, blutentleerten, ganz weit auf, man sieht seine schlechten Zähne, sein Lächeln ist fürchterlich, denn ein krankes kleines Kind in seinen tödlichen Fieberphantasien lächelt ebenso. Damit hat er auch den letzten Halt verloren. Ich sehe noch, während meine Stute mit aller Gewalt, wie die andern Pferde, dem Ufer zustrebt, ich sehe noch, wie er mit seiner sonst so starken, gebräunten Knabenhand seinem näher zu uns hinschwimmenden Pferde über die von Wasser triefenden Stirnhaare streicht. Es ist, als kämme er einer Dame die Ponys aus der Stirn, es ist nicht so, als wolle und müsse er sich an der Mähne des Pferdes halten, bis ich ihm zu Hilfe eile.
Mit aller Gewalt rollt jetzt der Donner über die hoch aufrauschenden Bäume und die hohle Fläche des Sees. Der Regen bricht nieder, mit einem Geknatter, als würde er herabgeschossen. Wo er das Wasser trifft, spritzt es weiß auf. Er fällt in solcher Menge, daß man sich wie unter Wasser fühlt. Keine Luft zum Atmen. Man kann nichts sehen, nichts hören außer dem Gedröhn. Es riecht nach Schwefel. Die Pferde schreien mehr, als sie wiehern. Die Verwirrung ist unbeschreiblich. Die jüngeren Knaben höre ich mitten im Aufruhr der Elemente weinen, der Prinz Piggy ruft laut um Hilfe, aber es ist nur Hohn, denn sofort nachher ertönt vom Ufer her sein bellendes Gelächter.
Beruhigt möchte ich aufatmen. Nichts vom T. Aber unbeschreiblich tief ist mein Erschrecken im gleichen Augenblick, als der blanke Rücken von Titurels Rapphengst leer neben mir auftaucht. Vom Reiter keine Spur. Kein Augenblick ist zu verlieren. Ich habe nicht mehr an mich zu denken, weder an Leben noch an T., nur an die Jungen, für die ich bürge. Ruhe, Mut, Entschluß! Ich löse mich von meinem Pferde los, das wie ein milchweißer Fisch unter mir davonschießt. Das Wasser ist eine schäumende, von unzähligen Spritzern aufgerauhte Masse, warm und in harten Wellen stark bewegt. Nirgends ist Titurel zu sehen. Kann er sich schon gerettet haben? Ist er in dem Getümmel hinter mir auf dem Ufer gelandet? Hat ihn der Prinz mit seinem bellenden Lachen empfangen? Muß er nicht gerettet sein? Lautlos geht ein Mensch nicht unter. In mir selbst ist jetzt das Leben so über alles stark, daß ich trotz aller Schrecken, trotz aller den Himmel aufreißenden Blitze zwischen den Wolkenschichten, trotz der violetten Wetterwolken am liebsten vor Freude schreien möchte, ich möchte mich auf den Rücken herumwerfen, mir alle Sommerkraft und Regenwärme in Güssen in die Augen, auf die Brust stürzen lassen.
Aber alles in mir erstarrt, als ich auf eine halbe Sekunde Titurels Füße mit den dunkelgelben, mir wohlbekannten Zehennägeln treibend erblicke; das Hellere weiter vorn müssen seine rudernden, aber das Wasser nicht erfassenden Hände sein. Aber schon versinkt alles mit hohlem Glucksen vor meinen Augen.
In einem einzigen energischen Schwimmtempo bin ich bei ihm. Zum Glück für ihn und mich haben die Pferde das Wasser geräumt, sie sind alle zurückgeschwommen. Die Wasserfläche breitet sich vor meinen immer noch vom Sturzregen geblendeten Augen leer aus. Jetzt sehe ich nur ein weißlichgrünes Bündel unter den Wellen flottieren. Ich fasse Titurel mit der rechten Hand von vorn um den Hals, den er mir entgegenreckt. Ich erkenne aber sogleich, daß ich dann nicht mehr schwimmen kann. So muß ich ihn wieder loslassen. Es gilt als Vorschrift, und so hat man es uns eingeprägt: von hinten den Ertrinkenden fassen. Mit einem Kampfe im Wasser rechnen. Er klammert sich an meine Oberarme. So sind wir beide verloren. Ich muß ihm Mund und Nase absichtlich zuhalten, mit dem linken Handteller das Kinn von unten nach oben gegen den Oberkiefer drücken, mit dem Daumen und Zeigefinger ihm die Nase zukneifen. Das Gesicht muß ich von mir abdrücken. Es muß sein. Ich muß meine Knie gegen seinen Leib stemmen. Jetzt läßt er endlich los. Welch ein Glück! Ich drücke ihn, während ich mich ganz kalt und klar der Lehren des Meisters erinnere, noch einmal unter Wasser. Ich packe ihn richtig an. Schon ist die Betäubung da. Sein großer, langer, heller Körper, von dem aufgegangenen Badeanzug weit umwogt, ist ohne eigene Bewegung. So lade ich ihn mir auf. Ich senke, um besser schwimmen zu können, meinen Kopf in die Wassermasse hinab. Jetzt handelt es sich um vielleicht hundert korrekte Schwimmstöße unter sorgfältiger Berechnung meiner Atemkraft und meiner Energie.