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Gaunerinnen
Die Geschichten über die kleinen Japaner machten Natalja derart Spaß, dass sie mit Ungeduld auf jeden Anruf ihrer Freundin wartete. Alles Neue und Unbekannte lockte sie.
Als sie nach langen Gesprächen in die Disco zurückkam, konnte sie sich oft nicht mehr daran erinnern, mit wem zusammen sie gekommen war. Einmal ging Natalja noch fast nüchtern auf einen Mann im blauen Hemd zu, mit dem sie glaubte, den Abend angenehm verbringen zu können, und begann ihn zu umarmen, ohne sein überraschtes Gesicht zu bemerken. Da tauchte vor ihr ein anderer Typ mit einem ebenso blauen Hemd, fragendem Blick und geballten Fäusten auf und fragte:
„Mit wem bist du denn hierhergekommen?“
Die kuriose Situation endete damit, dass sie, auch als der zweite Mann im blauen Hemd vor ihr stand, diese Frage nicht klar und adäquat beantworten konnte. Frech betrachtete sie die Gesichter der beiden und versuchte, darin bekannte Züge zu erkennen.
Das Warten auf den Vertrag war eine Qual für Natalja. Sie wurde des Herumsitzens in den Bars bald überdrüssig. Die blöden Arschlöcher, die sie dort traf, waren nach ein paar Flaschen sowieso alle gleich. Deshalb beschloss Natalja, in Erwartung eines Wunders, selbst Stella anzurufen und sie nach den neuesten Ereignissen in ihrem Leben zu fragen.
„Moschi, Moschi!“ So meldet man sich in Japan am Telefon.
„Hallöchen, meine Süße! Was machst du gerade?“
„Ich saufe, vor lauter Sehnsucht nach dir.“
„Klasse, ich auch.“
„Na, erzähl mir von deiner Arbeit. Was machst du da alles? Ich brauche schmutzige Details!“
„Es gibt leider keine!“
„Ah so! Also, leider sagst du, trotz allem?“
„Ich würde gerne mal die Sau rauslassen, wenn du das meinst! Aber hier ist tote Hose!“
„Ich bin so traurig ohne dich! Alle kommen mir so einerlei und uninteressant vor.“
„Glaub mir, in der Ukraine sind die Typen top! Hier in Japan sind sie alle gleich. Ich komme auf die Arbeit, gehe in die Umkleide, schminke mich und mache Frisur. Das Haar muss schön frisiert sein, so steht es im Vertrag. Um punkt zwanzig Uhr muss ich mit allen anderen an einem großen Tisch in der Mitte des Klubs sitzen und auf Kunden warten. Wenn der erste Kunde erscheint, stehen alle Mädchen auf und grüßen:
„Konbanwa.“ – Guten Abend auf Japanisch. Der Japaner geht langsam weiter, schaut sich die Mädchen an und nimmt im Saal Platz. In diesem Moment beginnt das Showprogramm mit dem Blumenverkauf.
Erinnerst du dich, wie Darja uns davon erzählt hat?“
„Ja, vage. Und was weiter?“
„Nachdem der Gast sich hingesetzt hat, führt eine Mitarbeiterin des Klubs, sie werden Hostess genannt, die Mädchen zu seinem Tisch. Der wählt aus, oder lädt sie alle ein, sich zu ihm zu setzen. Bei einem Japaner können mehrere Mädchen sitzen, wenn er bereit ist, für sie alle Getränke zu bestellen, die gerade nicht billig sind. Die Auswahl an Drinks ist nicht groß. Saft, Pflaumenwein oder Rum mit Cola. Alle Getränke werden dem Kunden zum gleichen Preis angeboten. Aber nach meiner Ankunft wurde der Rum von der Karte gestrichen. Sie haben dort noch nie gesehen, dass ein Mädchen so viel trinkt.“
„Ahahaha, bald machen sie das auch mit dem Wein! Dann bleibt dir nur noch der Saft.“
„Ich? Saft? Dann müsste ich mir eine Flasche mitbringen, unter meiner Kleidung versteckt.“
„Erzähl weiter! Es ist so interessant!“
„Dann sitzt er so stolz da, als ob sein Schwanz länger wäre als fünf Zentimeter, umgeben von Mädchen, und schaut sich die Show an. Die Mädchen wechseln sich immer wieder ab, je nach dem, wer gerade mit dem Tanzen an der Reihe ist. Das wird dann alles am Tisch besprochen, begleitet von Witzen, wer welche Titten hat oder welcher Tanz besser war. Komisch sind sie schon, offen gesagt. Unsere Kerle oder die Russen hätten gleich alle begrabscht. Aber die Japaner sitzen bloß rum, bewegen sich kaum und reißen Witze über Sex, den sie wohl nur aus Büchern kennen.“
„Unsere Männer sind die besten! Auch wenn sie gerissene Mistkerle sind! Aber unsere Mistkerle! Apropos, ich habe einen neuen Freund!“
„Erschreck mich nicht, Natalja! Wer ist er?“
„Er heißt Ljonja. Und nach Genf will ich nicht mehr.“
„Bist du dir sicher, dass er wirklich so heißt? Woher kennst du ihn? Gestern gab es ihn noch nicht!“
„Hör auf zu lästern. Das ist Liebe auf den ersten Blick!“
„Bring mich nicht zum Lachen! Willst du nicht mehr nach Genf? Wird Ljonja dich im Zuchthaus besuchen?“
„Stella, mit dir kann man einfach nicht über Romantik reden!“
„Warum denn nicht? Ist die Geschichte von Natalja und Ljonja, der seine Geliebte im Knast besucht, etwa nicht romantisch?“
„Verdirb mich nicht die Laune! Erzähl mir lieber von den kleinen japanischen Pimmeln. Was macht dein Jamoguchi?“
„Na, was soll ich denn noch erzählen? Man sitzt ein wenig herumgesessen, dann tauscht das Personal die Mädchen aus. Diejenigen, die dem Gast nicht gefallen haben, werden weggebracht. Es bleiben meistens die Rumäninnen. Die können Fremdsprachen und labern wie ein Wasserfall. Ich kann das leider nicht. Dafür habe ich ihnen ein Münzenspiel um Geld beigebracht. Jedes Spiel zehn Dollar. An einem Abend kann man damit hundert Dollar verdienen.“
„Wie geht das Spiel? Ich würde gerne die Schweizer in Genf ausnehmen.“
„Du wirst das kaum brauchen. Du wirst sie mit anderen Spielen um mehrere hundert Dollar bringen. Hahahaha!”
„Ich will so sehr zu dir! Sogar nach Japan! Ich langweile mich. Ohne dich passiert nichts in Moskau. Aber ich will Abenteuer erleben.“
„Es geht doch morgen schon los! Hurra! Dich erwartet viel Neues, Unbekanntes und Schönes. Ich stelle mir vor, wie du aus einem Flugzeug steigst, mit einer sauteueren Schweizer Uhr am Handgelenk und mit einem Millionär am Arm. Ich treffe euch am Flughafen und freue mich im Inneren über deine Siege.“
„Oh ja! Stella! Genau so wird es sein. Ich habe schon meine Sachen gepackt. Ich bin gleichzeitig froh und traurig und ängstlich. Gemischte Gefühle vor der Ungewissheit. Ich will nicht über traurige Sachen reden. Erzähl weiter, was du noch erlebt hast. Du bist meine Spielmünze.“
„Das Spiel ist ganz lustig. Es passt gut für eine große Gesellschaft, besonders für Raucher oder Betrunkene, denen man während des Spiels eine Zigarette stecken kann.
Man legt eine Serviette auf ein normales Glas. Damit sie nicht rutscht, kann man den Glasrand mit einem Stück Eis einreiben. Ein Eiskübel steht während des ganzen Abends auf jedem Tisch. Auf die Mitte der Serviette wird eine Münze gelegt. Danach brennen alle Spieler, die am Tisch sitzen, mit ihren Zigaretten je ein Loch um die Münze herum hinein. Derjenige, bei dem dabei die Münze ins Glas fällt, hat verloren. Die Japaner haben meistens schlechte Augen und mit ihren Zigaretten wild in die Gegend. Die treffen nicht einmal das Glas. So gehe ich durch den Klub wie ein Sparschwein, mit einer Münze im Glas.“
Am anderen Ende war das feine Lachen der Freundin zu hören.
„Sag mal, arbeiten viele Russinnen bei euch?“
„Nein, es gibt wenig Russinnen. Wenn man Weißrussinnen nicht dazurechnet. Dafür gibt es eine Menge Ukrainerinnen, aus Donezk, Charkow, Sumy und Kiew. Ein Mädchen aus Litauen.
Nach der Arbeit laden die Japaner alle Mädchen zu einem späten Abendessen ein, oder besser gesagt, zu einem frühen Frühstück. Es gilt als cool, einen Haufen schöner Mädels ins Restaurant einzuladen. Da sitzt dann ein Typ mit zwanzig Weibern da, stolz wie ein Adler, und zeigt allen, wie steinreich er ist. Die Japaner geben gern an. Das ist ein Teil ihres Lebens, es bringt Status und Prestige. Er zahlt für alle ohne zu überlegen, was ihn die ausgesuchtesten Speisen Japans kosten würden. Die Mädchen ihrerseits genieren sich nicht und bestellen Fugu oder verschiede Seeigel, und das kann am Ende des Abends ganz schön ins Geld gehen.
Ich werde zusehends dicker! Schrecklich! Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, wenn es so leckeres Essen gibt. Ich verputze alles. Stell dir vor, gestern zum Aperitif habe ich kleine lebende Fische gegessen. Die werden in einem hohen Glas serviert, damit sie nicht herausspringen können. Man greift mit den Stäbchen ins Glas, schnappt einen Fisch, führt ihn zum Mund und schluckt ihn ganz.“
„Einen lebenden Fisch?“
„Ja klar! Du kannst spüren, wie er irgendwo in deinem Bauch stirbt.“
„Pfui, wie ekelhaft! Wie konntest du sowas aufessen? Du bist pervers!“
„Das höre ich doch gerade von dir sehr gern“, sagte Stella schmunzelnd.
Gelächter erklang von beiden Enden der Welt und verschmolz zu einer Sinfonie zweier verwandter Seelen.
„Geh schlafen, Liebes. Morgen hast du einen schweren Tag.“
„Ich kann bestimmt nicht einschlafen.“
„Schlaf bitte! Du musst doch unwiderstehlich sein an deinem ersten Arbeitstag im schönen Genf!“
„Gut. Ich rufe dich vor dem Abflug an. Ich versuche auch, zu schlafen. Küsschen…“
„Küsschen zurück…“
„Oh Gott. Es macht so einen Spaß, mit dieser Schlange zu telefonieren! Ich sollte vielleicht doch das Land der Schlitzaugen besuchen! Sushi, Fugu… mmmmm.“
Sie konnte nicht einschlafen. Die ganze Nacht drehten sich in ihrem Kopf schreckliche Gedanken: Sie könnte am Flughafen verhaftet werden oder eine internationale Fahndung nach ihr könnte eingeleitet werden. Sie war sauer, weil Stella es geschafft hatte, davonzukommen. Natalja war der Meinung, dass gerade ihre Freundin im Gefängnis enden sollte. Die zweite Frage, die ihr keine Ruhe ließ, lautete: Was erwartete sie wirklich in Genf? Sehr viele Mädchen kamen nicht mehr zurück, wenn sie einmal im Ausland waren.
„Dieser Stella werd ich's noch zeigen! Ich werde es alles viel besser machen als sie! Sonst wäre ich ja nicht ich. Ich lasse mich von dieser hochnäsigen Schlampe nicht übertrumpfen! Nie im Leben!“
Ihre Gedanken drehten sich wie das Karussell, das sie einmal in einem amerikanischen Kinderfilm gesehen hatte: Vorn fuhr ein Auto und dahinter flog ein Hubschrauber. Wie ein Präsidentenkonvoi. Genau so und nicht anders stellte sich Natalja ihr Leben in der Fremde vor. Befriedigt von diesen positiven Gedanken sank sie in den Schlaf. Sie träumte, dass sie mit einem Hündchen mit rosarotem Schleifchen im Arm in einen hellblauen Bentley stieg und durch die Stadt fuhr. Ihr Seidenschal wehte. Sie zahlte überall mit einer schwarzen American- Express-Karte, deren Limit mindestens fünftausend Dollar sein sollte. Für kleinere Ausgaben würde das reichen.
Am Morgen, noch nicht ganz aus dem wunderbaren Traum erwacht, dachte sie weder an Stellas Bräutigam noch an ihren Ljonja. Dennoch ertappte sie sich bei dem Gedanken:
„Heißt er wirklich Ljonja? Stella, dieses Miststück, kann einen ganz um den Verstand bringen. Ach was, natürlich heißt er Ljonja! Ich bin doch nicht blöd!“
Sie schritt fest durch das Zimmer, murmelte vor sich hin, packte den Rest ihrer Sachen und dachte dabei nur an Geld und Unabhängigkeit. Natalja war sich sicher, dass das Glück aus Kohle bestünde. Je mehr, desto besser. Wenn jemand sie von dieser Meinung abbringen wollte oder diese unmoralische Einstellung zu widerlegen versuchte, fragte sie ihn einfach, ob er reich wäre. Immer stellte sich dann heraus, dass dieser Mensch arm war. Von einem reichen Mann bekam sie so etwas nie zu hören.
Zum ersten Mal, seit sie in Moskau war, hatte sie die Nachrichten auf ihrem Handy nicht überprüft. Außerdem löschte sie alle Kontakte darauf.
Natalja trat vor den Spiegel, um sich von der Seite zu betrachten. Sie wollte ihr Gesicht sehen, um zu erkennen, ob sie litt oder nicht. Sie lächelte so eiskalt und gefühllos, dass selbst der Satan erschaudert wäre. Sie begann das Lied „Non, je ne regrette rien“ von der berühmten französischen Prostituierten Edith Piaf zu summen. Sie war aufgeregt, gestikulierte theatralisch, wand sich wie eine Brillenschlange und genoss die Biegsamkeit ihres schlanken Körpers. Ihre Augen blitzten teuflisch. Es schien fast schrecklicher, in diese kindlich anmutenden, aber hasserfüllten Augen zu blicken als in die Tiefen der Hölle.
„Ihr findet es lustig, aber ich leide“, sagte sich das Mädchen leise und kalt und erstickte fast vor fieberhaftem Gelächter.
Bravo!“ Ein tolles Bild! Sie hatte eine gute Rolle am Bolschoi-Theater verdient.
Das Mädchen war zweifellos eine wahre Bestie! Eine Strafe für Männer, ein Blutegel für Frauen, Mütter und unschuldige Kinder. Nicht umsonst hatte man die Huren in alten Zeiten verbrannt. Sie stellten eine tödliche Bedrohung für das Familienglück und Ruhe der Menschen dar. Aber auch heutzutage waren Frauen bereit, wegen eines geliebten Mannes oder vielleicht wegen eines reichen Politikers. Da gab es keinen wesentlichen Unterschied. Die Jagd auf Männer lief rund um die Uhr, wie der Grill bei McDonalds. Selbst in klirrend kalten Nächten marschierten kampfbereite, mit Silikon optimierte Weiber zu Hunderten durch die Straßen, gaben vor, dass sie sich verlaufen hatten, und fragten bei jedem Mercedes oder BMV aufs Geratewohl, wie sie zur nächsten U-Bahn-Station gelangen könnten – in der Hoffnung auf die Rückfrage:
„Junge Dame, kann ich Sie mitnehmen?“
Ganz abgesehen von den professionelleren Huren, die ihr Startkapital für eine produktivere Männerjagd bereits angehäuft hatten, die in warmen Restaurants, auf Skipisten, an Stränden und allerlei anderen Orten ihre Fallen stellten und das Leben von anständigen Hausfrauen und Mütter verdarben, die ihrer weiblichen Reize nicht mehr sicher waren.
Ein Paradoxon der verfluchten Realität!
Die Fahrt zum Flughafen war nervig. Es gab fürchterliche Staus. Die Wartezeit hätte ausgereicht, um das Auto zu verkaufen und ein neues zu erwerben, das näher an der Ampel hielt.
Natalja war jetzt schon ein Nervenbündel, alles rutschte ihr aus der Hand, als ob sie Fieber hätte.
Der stinkende Taxifahrer hatte ihr verboten, in seinem verdammten Daewoo Lanos zu rauchen, weil sie sein Gefährt „Anus“ genannt hatte. Das konnte er ihr nicht verzeihen, denn auf dieses Traumauto hatte er ein halbes Leben lang gespart.
Natalja bemerkte eine blinkende Lampe am Armaturenbrett, die einen leeren Tank meldete.
Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß sie drohend hervor:
„Ich fliege nach Genf, verdammt noch mal. Und ich warne Sie. Wenn Ihnen der Sprit ausgeht, bevor am Flughafen sind, rauche ich nicht nur in Ihrem Wagen, Sie müssen ihn mir außerdem schenken! Die Unterlagen und das Ticket haben mich doppelt so viel gekostet wie Ihr Scheißschlitten!“
„Aha. Meine Teuerste, ich bitte Sie, höflicher zu sein. Sonst gehen Sie zu Fuß nach Ihren Genf. Haben Sie mich verstanden?“
„Nein, hab ich nicht!“, zischte Natalja und rauchte an.
Nach zahlreichen Vorwürfen gegen den Taxifahrer erreichte sie endlich den Flughafen. Sie rannte zum Schalter und legte eilig ihren monströsen Koffer auf die Waage. Als sie sah, dass er zweiundvierzig Kilo statt der erlaubten fünfundzwanzig wog, wurden ihre Augen rund wie Münzen.
„Sie können entweder draufzahlen oder das Übergepäck wegnehmen. Gehen Sie bitte beiseite.“
Natalja blieb das Herz stehen. Sie vergaß sogar, dass die Bullen nach ihr fahndeten. In diesem Koffer steckte alles, was sie in den nächsten acht Monaten brauchen würde. Nur das Allernötigste. Es gab ganz bestimmt nichts, worauf sie verzichten könnte.
„Wie viel muss ich draufzahlen? Entschuldigung!“
„Glauben Sie mir, ziemlich viel. Besser wäre es, so viel wie möglich vom Übergepäck wegzunehmen. Und bitte schneller. Wir haben noch zwanzig Minuten, bis der Check-in schließt.“
„Ich habe sie höflich gefragt, wie viel ich zu bezahlen habe. Aber statt zu antworten, zählen Sie mein Geld!“
„Ich helfe Ihnen zu sparen!“
„Noch besser!“
„Sie können sich ans Büro wenden und dort Ihr Übergepäck abrechnen. Es liegt am Ende des Korridors rechts. Bezahlen Sie und bringen bitte den Kassenzettel mit. Und verpassen Sie Ihren Flug nicht.“
„Wollen Sie sich über mich lustig machen? Sagen Sie mir wenigstens, was das Übergepäck kostet.“
„Ich sage Ihnen doch, dass ich es nicht weiß. Aber es wird schon ziemlich teuer. Mindestens fünfhundert Dollar!“
„Sind Sie wahnsinnig? Der Durchschnittslohn im Land liegt bei hundert Dollar!“
„Hören Sie bitte auf, Ärger zu machen und holen Sie das überflüssige Gepäck aus Ihrem Koffer. Sonst fliegen Sie heute nirgendwohin.“
„Wenn ich nicht abfliege, schmeiße ich Ihnen eine Bombe vor die Füße! Oder eine Rauchdose, verlassen Sie sich drauf!“
Sie öffnete ihren Koffer, der zu platzen drohte, und begann, allerlei Zeug herauszunehmen. Darunter waren Buchweizengrütze, Zucker und sogar Konserven. Sie warf es in eine Mülltonne mit einem so traurigen Gesicht, als ob sie nicht in die Schweiz, sondern nach Afrika auswandern wollte. Die Menschen beobachteten sie überrascht und spöttisch. Sie murrte gekränkt vor sich hin:
„Was schaut ihr mich so an? Ich fliege in ein Land, wo alles sehr teuer ist! Warum soll ich dort etwas kaufen, was ich von zu Hause mitnehmen kann? Ich weiß gar nicht, ob sie mir dort Geld für Verpflegung geben. Und essen muss ich ja wohl!“
Fünf Packungen Billigshampoos, allerlei Cremes und Duschgels flogen in die Mülltonne, der Grütze hinterher.
„Wahnsinn! Wie kann ich das alles wegschmeißen? Unverschämt sind sie, diese Schweinehunde! Sie nehmen so viel Geld für die Tickets und dann darf man nichts mit an Bord nehmen! Arschgesichter!“
Trotzdem musste sie das Übergepäck loswerden.
Stinksauer durchlief sie im Nu die Kontrolle und vergaß dabei das Wichtigste, was sie so viele schlaflose Nächte gekostet hatte.
Das Flugzeug Moskau-Genf war startbereit.
„Hurra!“, jubelte Natalja. Erst jetzt fiel ihr die Polizeifahndung wieder ein und sie schmunzelte. „Die Buchweizengrütze hat mich vor Kummer bewahrt!
Stella wäre vor Lachen an Ort und Stelle krepiert. Diese Schlange! Sie hat mich nicht einmal angerufen!“
Der Flughafen von Genf war so sauber, dass sie ihre Schuhe ausziehen wollte, als ob sie in eine Wohnung hineinkäme.
Sie ging zur Gepäckabholung und stellte sich schweren Herzens ihren riesigen, halb leeren Koffer vor.
„Wie schade! So viel Geld habe ich zum Fenster rausgeworfen!“
Natalja tat die traurigen Gedanken ab. Sie ging in die Damentoilette, kämmte ihr Haar, frischte mit einem Stift ihre Augenbrauen auf. Gestern Abend hatte sie sie zupfen lassen, obwohl ihr das gar nicht passte, weil sie von Natur aus schöne, dichte Augenbrauen hatte. Aber sie war fest davon überzeugt, dass dünne Augenbrauen sexy aussahen.
„Mein neuer Look – voilà!“
Sie bekam ihren nun sehr leicht gewordenen Koffer zurück und begab sich mit stolzer Miene zum Ausgang.
Dort erwartete sie ein Mann mit einem Schild, auf dem ihr Name stand. Anscheinend war es ein Klubmitarbeiter. Er grüßte Natalja höflich und führte sie zum Auto. Eine für sie völlig neue, unbekannte Landschaft erstreckte sich vor dem Autofenster. Sie staunte über alte Häuser und winzige Straßen. Es gab weder Wolkenkratzer noch Menschenmengen zu sehen. Kaum ein Haus war höher als fünf Stockwerke.
Das Auto fuhr durch die Stadtmitte. Dort lagen auch Straßenbahnschienen, auf denen ein sehr modern aussehender Wagen entlangglitt. Er hatte etwas roboterhaftes an sich, wie aus einem fantastischen Film. Die Passanten flanierten mit vielen bunten Einkaufstüten in den Händen die Hauptstraße entlang und lächelten einander zu. In der Luft hing der Duft von Baguette, frischgemahlenen Kaffee und Croissants.
Sie bemerkte, dass die Menschen eher langweilig und unauffällig angezogen waren, so wie Stella. Sie schmunzelte unwillkürlich über die hiesige Mode, in der, wie sie meinte, strenge graue, braune und dunkelblaue Farbtöne vorherrschten.
„Das wird mein Erfolg! Mit meinen bunten Klamotten erobere ich die ganze Schweizer Männerwelt!“
Seltsamerweise hatte sie recht.
In der Schweiz herrschte ein ziemlicher Mangel an grellen, wasserstoffblonden Weibern, vor allem an solchen, die man auf Wunsch gegen Zahlung eines bestimmten Betrags knutschen konnte. Frauen dieser Art wurden natürlich nicht geheiratet, aber als Liebespriesterinnen betete man sie an. Natalja träumte eigentlich davon, zu heiraten, aber zuerst wollte sie in diesem reichen Land genügend Geld verdienen.
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